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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Muscheln von der )nsel Rügen.

sich verspülen," ein nassen Strande umherschweift und sich Muscheln zu Kränzen
sammelt, so liegt in dieser Schilderung eine treffende Selbstkritik; in weiser
Selbsterkenntnis und richtiger Schätzung der ihm verliehenen Dichtergaben fühlt
und bekennt er, daß nicht die gewaltigen Szenen des erhabenen Meeres, auch
nicht der weite Blick über die bunte Mannichfaltigkeit des Eilandes es ist, was
ihn zu dichterischer Wiedergabe anregt und zu dessen Darstellung seine Kunst
ihm befähigt erscheint. Vielmehr ist es das Kleinleben der Natur -- in dem
Sinne, in welchem Goethe das Wort im siebenten Buche von "Dichtung und
Wahrheit" gebraucht --, das seiner Muse neue Stoffe oder richtiger neue Anregung
bot. Denn neu ist eigentlich nur die Einkleidung, die neuen Bilder und Ver-
gleichungen, welche Wilhelm Müller für seine "Muscheln" dem Meere und seinem
Gestade entnahm, während die Stoffe dieselben sind wie bei seinen übrigen
Liedern. Alle diese neuen Motive, die er am Rügenschen Strande fand, dienen
ja nur dazu, den innersten Empfindungen des liebenden Herzens, in deren ge¬
treuer und lebenswarmer Wiedergabe der Zauber seiner dichterischen Kunst be¬
gründet ist, zu einem deutlichen, sinnbildlichen Ausdruck zu verhelfen. So ist
es denn dem Dichter in seinen "Muscheln" nicht um die Wiedergabe der mannich-
faltigen Nnturbilder zu thun, sondern um den Ausdruck der Gefühle und Stim¬
mungen seines Seelenlebens, sei es daß diese an die Betrachtung der neuen
Welt, die ihn umgiebt, anknüpfen, sei es daß die neuen Anschauungen ihm dazu
dienen müssen, neue Seiten der Empfindung seines reichentfalteten Gemüts für
die dichterische Darstellung zu erschließen.

Hiermit hängt es zusammen, daß man nach unmittelbare" Schilderungen
der eigentümlichen Schönheiten Rügens in diesen Gedichten vergeblich sucht.
Wohl aber finden wir in einzelnen gelegentlichen Wendungen die treffendste Auf-
fassung und Wiedergabe eines landschaftlichen Bildes. So enthält das Gedicht
"Das Hünengrab" eine kurze, aber lebendige Schilderung der lebhaften Kon¬
traste, denen die Insel ihren Reiz verdankt. Im Anschluß an die Sage, daß
jene Gräber, die fast alle auf den schönsten und höchsten, eine weite Umschau
bietenden Hügeln liegen, sich alle hundert Jahre einmal öffnen, um ihren Be¬
wohner in die freie Welt hinausschauen zu lassen, läßt der Dichter den seinem
Grabe entsteigenden Bewohner ausrufen:


Die Luft so frisch, wie immer,
Das Meer noch dunkelblau,
Die alten weißen Dünen,
Die junge grüne An!

Besonders aber sind es Vergleichungen und Bilder, den eigentümlichen Gegen¬
ständen und Erscheinungen Rügens entlehnt, welche dem Dichter Gelegenheit
geben zu malen; und gerade der Umstand, daß die Schilderung nicht Selbst¬
zweck ist, sondern dazu dienen soll, das eigentliche Objekt der Darstellung noch
schärfer zu erfassen, hat den Dichter genötigt, die einzelnen Naturgegenstände


Muscheln von der )nsel Rügen.

sich verspülen," ein nassen Strande umherschweift und sich Muscheln zu Kränzen
sammelt, so liegt in dieser Schilderung eine treffende Selbstkritik; in weiser
Selbsterkenntnis und richtiger Schätzung der ihm verliehenen Dichtergaben fühlt
und bekennt er, daß nicht die gewaltigen Szenen des erhabenen Meeres, auch
nicht der weite Blick über die bunte Mannichfaltigkeit des Eilandes es ist, was
ihn zu dichterischer Wiedergabe anregt und zu dessen Darstellung seine Kunst
ihm befähigt erscheint. Vielmehr ist es das Kleinleben der Natur — in dem
Sinne, in welchem Goethe das Wort im siebenten Buche von „Dichtung und
Wahrheit" gebraucht —, das seiner Muse neue Stoffe oder richtiger neue Anregung
bot. Denn neu ist eigentlich nur die Einkleidung, die neuen Bilder und Ver-
gleichungen, welche Wilhelm Müller für seine „Muscheln" dem Meere und seinem
Gestade entnahm, während die Stoffe dieselben sind wie bei seinen übrigen
Liedern. Alle diese neuen Motive, die er am Rügenschen Strande fand, dienen
ja nur dazu, den innersten Empfindungen des liebenden Herzens, in deren ge¬
treuer und lebenswarmer Wiedergabe der Zauber seiner dichterischen Kunst be¬
gründet ist, zu einem deutlichen, sinnbildlichen Ausdruck zu verhelfen. So ist
es denn dem Dichter in seinen „Muscheln" nicht um die Wiedergabe der mannich-
faltigen Nnturbilder zu thun, sondern um den Ausdruck der Gefühle und Stim¬
mungen seines Seelenlebens, sei es daß diese an die Betrachtung der neuen
Welt, die ihn umgiebt, anknüpfen, sei es daß die neuen Anschauungen ihm dazu
dienen müssen, neue Seiten der Empfindung seines reichentfalteten Gemüts für
die dichterische Darstellung zu erschließen.

Hiermit hängt es zusammen, daß man nach unmittelbare» Schilderungen
der eigentümlichen Schönheiten Rügens in diesen Gedichten vergeblich sucht.
Wohl aber finden wir in einzelnen gelegentlichen Wendungen die treffendste Auf-
fassung und Wiedergabe eines landschaftlichen Bildes. So enthält das Gedicht
„Das Hünengrab" eine kurze, aber lebendige Schilderung der lebhaften Kon¬
traste, denen die Insel ihren Reiz verdankt. Im Anschluß an die Sage, daß
jene Gräber, die fast alle auf den schönsten und höchsten, eine weite Umschau
bietenden Hügeln liegen, sich alle hundert Jahre einmal öffnen, um ihren Be¬
wohner in die freie Welt hinausschauen zu lassen, läßt der Dichter den seinem
Grabe entsteigenden Bewohner ausrufen:


Die Luft so frisch, wie immer,
Das Meer noch dunkelblau,
Die alten weißen Dünen,
Die junge grüne An!

Besonders aber sind es Vergleichungen und Bilder, den eigentümlichen Gegen¬
ständen und Erscheinungen Rügens entlehnt, welche dem Dichter Gelegenheit
geben zu malen; und gerade der Umstand, daß die Schilderung nicht Selbst¬
zweck ist, sondern dazu dienen soll, das eigentliche Objekt der Darstellung noch
schärfer zu erfassen, hat den Dichter genötigt, die einzelnen Naturgegenstände


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[0216] Muscheln von der )nsel Rügen. sich verspülen," ein nassen Strande umherschweift und sich Muscheln zu Kränzen sammelt, so liegt in dieser Schilderung eine treffende Selbstkritik; in weiser Selbsterkenntnis und richtiger Schätzung der ihm verliehenen Dichtergaben fühlt und bekennt er, daß nicht die gewaltigen Szenen des erhabenen Meeres, auch nicht der weite Blick über die bunte Mannichfaltigkeit des Eilandes es ist, was ihn zu dichterischer Wiedergabe anregt und zu dessen Darstellung seine Kunst ihm befähigt erscheint. Vielmehr ist es das Kleinleben der Natur — in dem Sinne, in welchem Goethe das Wort im siebenten Buche von „Dichtung und Wahrheit" gebraucht —, das seiner Muse neue Stoffe oder richtiger neue Anregung bot. Denn neu ist eigentlich nur die Einkleidung, die neuen Bilder und Ver- gleichungen, welche Wilhelm Müller für seine „Muscheln" dem Meere und seinem Gestade entnahm, während die Stoffe dieselben sind wie bei seinen übrigen Liedern. Alle diese neuen Motive, die er am Rügenschen Strande fand, dienen ja nur dazu, den innersten Empfindungen des liebenden Herzens, in deren ge¬ treuer und lebenswarmer Wiedergabe der Zauber seiner dichterischen Kunst be¬ gründet ist, zu einem deutlichen, sinnbildlichen Ausdruck zu verhelfen. So ist es denn dem Dichter in seinen „Muscheln" nicht um die Wiedergabe der mannich- faltigen Nnturbilder zu thun, sondern um den Ausdruck der Gefühle und Stim¬ mungen seines Seelenlebens, sei es daß diese an die Betrachtung der neuen Welt, die ihn umgiebt, anknüpfen, sei es daß die neuen Anschauungen ihm dazu dienen müssen, neue Seiten der Empfindung seines reichentfalteten Gemüts für die dichterische Darstellung zu erschließen. Hiermit hängt es zusammen, daß man nach unmittelbare» Schilderungen der eigentümlichen Schönheiten Rügens in diesen Gedichten vergeblich sucht. Wohl aber finden wir in einzelnen gelegentlichen Wendungen die treffendste Auf- fassung und Wiedergabe eines landschaftlichen Bildes. So enthält das Gedicht „Das Hünengrab" eine kurze, aber lebendige Schilderung der lebhaften Kon¬ traste, denen die Insel ihren Reiz verdankt. Im Anschluß an die Sage, daß jene Gräber, die fast alle auf den schönsten und höchsten, eine weite Umschau bietenden Hügeln liegen, sich alle hundert Jahre einmal öffnen, um ihren Be¬ wohner in die freie Welt hinausschauen zu lassen, läßt der Dichter den seinem Grabe entsteigenden Bewohner ausrufen: Die Luft so frisch, wie immer, Das Meer noch dunkelblau, Die alten weißen Dünen, Die junge grüne An! Besonders aber sind es Vergleichungen und Bilder, den eigentümlichen Gegen¬ ständen und Erscheinungen Rügens entlehnt, welche dem Dichter Gelegenheit geben zu malen; und gerade der Umstand, daß die Schilderung nicht Selbst¬ zweck ist, sondern dazu dienen soll, das eigentliche Objekt der Darstellung noch schärfer zu erfassen, hat den Dichter genötigt, die einzelnen Naturgegenstände

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/216>, abgerufen am 03.07.2024.