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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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streng ist der individuelle Charakter abgestreift worden. Nur in dem Xenion,
mit dem der Dichter diese Frühlingslieder seinem gastlichen Freunde, dem Grafen
Kalkreuth, widmet, finden wir eine flüchtige Hindeutung auf den ursprünglichen
Schauplatz. Wer die Villa Grassi am Eingänge des Plauenschen Grundes
-- jetzt durch die großen Gebäude der "Aktien-Felsenkellcrbrauerei" verdrängt --
gekannt hat, wird zugeben, daß der Dichter doch mit wenigen Worten ein rich¬
tiges Bild entworfen hat, wenn er von seiner Muse sagt:


In dem grünen Felsenthnle
Hinter dein Forellenbach
Saß sie jüngst an deinem Mahle
Unter deinem treuen Dach.

Anders verhält es sich mit den "Muscheln von der Insel Rügen/' Zwar finden
wir auch hier leine dichterischen Schilderungen der landschaftlichen Schönheiten
Rügens, aber doch in den meisten dieser kleinen Lieder eine lebendigere Bezug¬
nahme ans die Natur des Rügenschen Eilandes, auf seine charakteristischen Er¬
scheinungsformen und Naturereignisse, sowie ans die Sitten und Gebräuche seiner
Bewohner.

Gleich das zur Einführung vorausgeschickte Gedicht beginnt mit einer schonen,
naturwahren Schilderung der Herrlichkeit des brandenden Meeres. Wir sehen
hier, daß auch Müller, wie alle Bewohner des Binnenlandes, den ersten und
mächtigsten Eindruck von der gewaltigen Schönheit des Meeres erhielt von dem
reizvollen Spiele der schäumenden Wellen, das die Dichter aller Zeiten besungen
haben und das much hente noch, wie vor Jahrtausenden, die Dichter zu immer
neuen Liedern begeistert. Wie Goethes "Iphigenie" mit jenen bekannten Versen
beginnt, in denen der Dichter den mächtigen Eindruck schildert, den die vom
Mittngswinde an das Gestade des Gnrdasees getriebenen Wellen in ihm hervor¬
riefen, so beginnt auch Müllers Dichtung mit einer farbenprächtigen Schilderung
der gegen das Ufer anstürmenden Meereswogen:


Es braust das Meer, die Wvgenhäupter schäumen,
Die Brandung stürmt die Burg des Felsenstrandes,
Und mit den, gre>s;en Orlvgschiffe treibe"
Die Wind' und Finten ihre wilden Spiele,
Wie Kiuder mit dem leichten Federbälle.

Doch dieses großartige Naturspiel, so sehr es ihn fesselte, bot für seine bescheidene
Muse keinen entsprechenden Gegenstand:


Sieh, meine Muse sitzt ani Fischerheerde
Und laßt den grausen Sturm vvrnbertvoen,
Ein Pilgermädchen aus den, Mittellnnde,
Verschüchtert von deu neuen Meereswuudern.

Wenn daher der Dichter fortführt und erzählt, wie seine Muse erst dann, "als
die Flut sinkt und sich zum Spiegel ebnet, als die Wiude heim in ihre Klausen
segeln und auf dem weichen Bett des Dünensandes die klaren, blauen Wellen


streng ist der individuelle Charakter abgestreift worden. Nur in dem Xenion,
mit dem der Dichter diese Frühlingslieder seinem gastlichen Freunde, dem Grafen
Kalkreuth, widmet, finden wir eine flüchtige Hindeutung auf den ursprünglichen
Schauplatz. Wer die Villa Grassi am Eingänge des Plauenschen Grundes
— jetzt durch die großen Gebäude der „Aktien-Felsenkellcrbrauerei" verdrängt —
gekannt hat, wird zugeben, daß der Dichter doch mit wenigen Worten ein rich¬
tiges Bild entworfen hat, wenn er von seiner Muse sagt:


In dem grünen Felsenthnle
Hinter dein Forellenbach
Saß sie jüngst an deinem Mahle
Unter deinem treuen Dach.

Anders verhält es sich mit den „Muscheln von der Insel Rügen/' Zwar finden
wir auch hier leine dichterischen Schilderungen der landschaftlichen Schönheiten
Rügens, aber doch in den meisten dieser kleinen Lieder eine lebendigere Bezug¬
nahme ans die Natur des Rügenschen Eilandes, auf seine charakteristischen Er¬
scheinungsformen und Naturereignisse, sowie ans die Sitten und Gebräuche seiner
Bewohner.

Gleich das zur Einführung vorausgeschickte Gedicht beginnt mit einer schonen,
naturwahren Schilderung der Herrlichkeit des brandenden Meeres. Wir sehen
hier, daß auch Müller, wie alle Bewohner des Binnenlandes, den ersten und
mächtigsten Eindruck von der gewaltigen Schönheit des Meeres erhielt von dem
reizvollen Spiele der schäumenden Wellen, das die Dichter aller Zeiten besungen
haben und das much hente noch, wie vor Jahrtausenden, die Dichter zu immer
neuen Liedern begeistert. Wie Goethes „Iphigenie" mit jenen bekannten Versen
beginnt, in denen der Dichter den mächtigen Eindruck schildert, den die vom
Mittngswinde an das Gestade des Gnrdasees getriebenen Wellen in ihm hervor¬
riefen, so beginnt auch Müllers Dichtung mit einer farbenprächtigen Schilderung
der gegen das Ufer anstürmenden Meereswogen:


Es braust das Meer, die Wvgenhäupter schäumen,
Die Brandung stürmt die Burg des Felsenstrandes,
Und mit den, gre>s;en Orlvgschiffe treibe»
Die Wind' und Finten ihre wilden Spiele,
Wie Kiuder mit dem leichten Federbälle.

Doch dieses großartige Naturspiel, so sehr es ihn fesselte, bot für seine bescheidene
Muse keinen entsprechenden Gegenstand:


Sieh, meine Muse sitzt ani Fischerheerde
Und laßt den grausen Sturm vvrnbertvoen,
Ein Pilgermädchen aus den, Mittellnnde,
Verschüchtert von deu neuen Meereswuudern.

Wenn daher der Dichter fortführt und erzählt, wie seine Muse erst dann, „als
die Flut sinkt und sich zum Spiegel ebnet, als die Wiude heim in ihre Klausen
segeln und auf dem weichen Bett des Dünensandes die klaren, blauen Wellen


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[0215] streng ist der individuelle Charakter abgestreift worden. Nur in dem Xenion, mit dem der Dichter diese Frühlingslieder seinem gastlichen Freunde, dem Grafen Kalkreuth, widmet, finden wir eine flüchtige Hindeutung auf den ursprünglichen Schauplatz. Wer die Villa Grassi am Eingänge des Plauenschen Grundes — jetzt durch die großen Gebäude der „Aktien-Felsenkellcrbrauerei" verdrängt — gekannt hat, wird zugeben, daß der Dichter doch mit wenigen Worten ein rich¬ tiges Bild entworfen hat, wenn er von seiner Muse sagt: In dem grünen Felsenthnle Hinter dein Forellenbach Saß sie jüngst an deinem Mahle Unter deinem treuen Dach. Anders verhält es sich mit den „Muscheln von der Insel Rügen/' Zwar finden wir auch hier leine dichterischen Schilderungen der landschaftlichen Schönheiten Rügens, aber doch in den meisten dieser kleinen Lieder eine lebendigere Bezug¬ nahme ans die Natur des Rügenschen Eilandes, auf seine charakteristischen Er¬ scheinungsformen und Naturereignisse, sowie ans die Sitten und Gebräuche seiner Bewohner. Gleich das zur Einführung vorausgeschickte Gedicht beginnt mit einer schonen, naturwahren Schilderung der Herrlichkeit des brandenden Meeres. Wir sehen hier, daß auch Müller, wie alle Bewohner des Binnenlandes, den ersten und mächtigsten Eindruck von der gewaltigen Schönheit des Meeres erhielt von dem reizvollen Spiele der schäumenden Wellen, das die Dichter aller Zeiten besungen haben und das much hente noch, wie vor Jahrtausenden, die Dichter zu immer neuen Liedern begeistert. Wie Goethes „Iphigenie" mit jenen bekannten Versen beginnt, in denen der Dichter den mächtigen Eindruck schildert, den die vom Mittngswinde an das Gestade des Gnrdasees getriebenen Wellen in ihm hervor¬ riefen, so beginnt auch Müllers Dichtung mit einer farbenprächtigen Schilderung der gegen das Ufer anstürmenden Meereswogen: Es braust das Meer, die Wvgenhäupter schäumen, Die Brandung stürmt die Burg des Felsenstrandes, Und mit den, gre>s;en Orlvgschiffe treibe» Die Wind' und Finten ihre wilden Spiele, Wie Kiuder mit dem leichten Federbälle. Doch dieses großartige Naturspiel, so sehr es ihn fesselte, bot für seine bescheidene Muse keinen entsprechenden Gegenstand: Sieh, meine Muse sitzt ani Fischerheerde Und laßt den grausen Sturm vvrnbertvoen, Ein Pilgermädchen aus den, Mittellnnde, Verschüchtert von deu neuen Meereswuudern. Wenn daher der Dichter fortführt und erzählt, wie seine Muse erst dann, „als die Flut sinkt und sich zum Spiegel ebnet, als die Wiude heim in ihre Klausen segeln und auf dem weichen Bett des Dünensandes die klaren, blauen Wellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/215>, abgerufen am 22.07.2024.