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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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sondern im Gegenteil auch die Erziehung der auf ihrer Hunde Arbeit in fremder
Leute Haus angewiesenen jugendlichen Frauenspersonen auf einen der gegen¬
wärtigen Gesammtknltur entsprechenden Standpunkt zu heben.

Es ist eine traurige und eine durchaus zu bekämpfende Erscheinung auf
dem Gebiete der sozialen Frage, daß, weil die bisher üblichen Wege für die
Erfüllung sozialer Pflichten nicht mehr recht gangbar erscheinen, sofort die Er¬
füllung dieser Pflichten überhaupt als unmöglich abgelehnt wird, während doch
gerade die veränderten Verhältnisse eine recht intensive, gewissenhafte Pflicht¬
erfüllung verlangen und auch recht wohl Wege dafür offen lassen, wenn nur
der Verpflichtete sie sucht, sie finden will und nicht die Unhnltbarkeit des alten,
patriarchalisch genannten Schlendrians zum willkommenen Deckmantel nimmt
für seine Lieblosigkeit und Trägheit. Das patriarchalische Herrschaftsverhältnis
der alten Zeit ist zu Grnnde gegangen, weil es anf einer rechtlichen Degra¬
dation der arbeitenden Klassen beruhte. Lassen wir es begraben sein. Aber
nicht als abgethan und begraben sollte das eine angesehen werden, was auch
damals allein geeignet war, die rechtliche Degradation erträglich zu machen,
was allein auch damals die Gesundheit des Verhältnisses zwischen Herrschaft
und Dienstboten bewirkte, das religiös-sittliche Moment im Gesellschaftsleben,
die wahre vom Herzen kommende und zum Herzen dringende Nächstenliebe, die
werkthätige Fürsorge für das "geistige, sittliche, religiöse Leben" des jugendlichen
Dienstboten. Mit Recht bezeichnet Schmoller diese Fürsorge als die Bedingung,
deren Erfüllung allein den Anspruch rechtfertigt auf die "familiäre Gesinnung"
der Dienenden; aber es ist dies keineswegs eine Bedingung, deren Erfüllung im
Belieben des Einzelnen steht, die er, wenn er auf das durch sie bedingte ver¬
zichtet, einfach unerfüllt lassen darf. Diese Fürsorge für das geistige, sittliche,
religiöse Leben der jugendliche" weiblichen Dienstboten ist eine der ernstesten
sozialen Pflichten der deutschen Hausfrauen, und sie ist eine ganz besonders ernste
Pflicht in der Gegenwart und in der Großstadt. Erst kürzlich beantwortete
Viktor Vvhmert im "Arbeiterfreund" die Frage, "wie die Masse aus Not und
Elend zur Wohlfahrt emporgehoben und wie ihr Glück begründet werden könne,"
mit dem Satze: "Das Glück liegt im Menschen und in seiner Erziehung....
Das soziale Problem ist eine Erziehungsfrage, und die bürgerliche Gesellschaft
kann erst dann ruhiger über ihre Zukunft werden, wein: sie für die gesunde Er¬
ziehung ihrer Volksgenossen gehörig sorgt und auch die leiblich und geistig ärmsten
aus dem Staube emporzuheben sucht."

Theoretisch wird keine urteilsfähige Frau der gebildeten Stände die Ge¬
fahr verkennen, welche gerade in der großen Stadt für die Dienstmädchen im
Alter von fünfzehn bis zu fünfundzwanzig Jahren in Bezug auf ihre Sittlich¬
keit im engern Sinne daraus entsteht, daß dieselben im Hause den freundlich-
familiären Halt nicht finden, nicht die sittlich-erziehende Einwirkung erfahren,
die doch das weibliche Geschlecht in diesem Alter besonders nötig hat. Und


sondern im Gegenteil auch die Erziehung der auf ihrer Hunde Arbeit in fremder
Leute Haus angewiesenen jugendlichen Frauenspersonen auf einen der gegen¬
wärtigen Gesammtknltur entsprechenden Standpunkt zu heben.

Es ist eine traurige und eine durchaus zu bekämpfende Erscheinung auf
dem Gebiete der sozialen Frage, daß, weil die bisher üblichen Wege für die
Erfüllung sozialer Pflichten nicht mehr recht gangbar erscheinen, sofort die Er¬
füllung dieser Pflichten überhaupt als unmöglich abgelehnt wird, während doch
gerade die veränderten Verhältnisse eine recht intensive, gewissenhafte Pflicht¬
erfüllung verlangen und auch recht wohl Wege dafür offen lassen, wenn nur
der Verpflichtete sie sucht, sie finden will und nicht die Unhnltbarkeit des alten,
patriarchalisch genannten Schlendrians zum willkommenen Deckmantel nimmt
für seine Lieblosigkeit und Trägheit. Das patriarchalische Herrschaftsverhältnis
der alten Zeit ist zu Grnnde gegangen, weil es anf einer rechtlichen Degra¬
dation der arbeitenden Klassen beruhte. Lassen wir es begraben sein. Aber
nicht als abgethan und begraben sollte das eine angesehen werden, was auch
damals allein geeignet war, die rechtliche Degradation erträglich zu machen,
was allein auch damals die Gesundheit des Verhältnisses zwischen Herrschaft
und Dienstboten bewirkte, das religiös-sittliche Moment im Gesellschaftsleben,
die wahre vom Herzen kommende und zum Herzen dringende Nächstenliebe, die
werkthätige Fürsorge für das „geistige, sittliche, religiöse Leben" des jugendlichen
Dienstboten. Mit Recht bezeichnet Schmoller diese Fürsorge als die Bedingung,
deren Erfüllung allein den Anspruch rechtfertigt auf die „familiäre Gesinnung"
der Dienenden; aber es ist dies keineswegs eine Bedingung, deren Erfüllung im
Belieben des Einzelnen steht, die er, wenn er auf das durch sie bedingte ver¬
zichtet, einfach unerfüllt lassen darf. Diese Fürsorge für das geistige, sittliche,
religiöse Leben der jugendliche» weiblichen Dienstboten ist eine der ernstesten
sozialen Pflichten der deutschen Hausfrauen, und sie ist eine ganz besonders ernste
Pflicht in der Gegenwart und in der Großstadt. Erst kürzlich beantwortete
Viktor Vvhmert im „Arbeiterfreund" die Frage, „wie die Masse aus Not und
Elend zur Wohlfahrt emporgehoben und wie ihr Glück begründet werden könne,"
mit dem Satze: „Das Glück liegt im Menschen und in seiner Erziehung....
Das soziale Problem ist eine Erziehungsfrage, und die bürgerliche Gesellschaft
kann erst dann ruhiger über ihre Zukunft werden, wein: sie für die gesunde Er¬
ziehung ihrer Volksgenossen gehörig sorgt und auch die leiblich und geistig ärmsten
aus dem Staube emporzuheben sucht."

Theoretisch wird keine urteilsfähige Frau der gebildeten Stände die Ge¬
fahr verkennen, welche gerade in der großen Stadt für die Dienstmädchen im
Alter von fünfzehn bis zu fünfundzwanzig Jahren in Bezug auf ihre Sittlich¬
keit im engern Sinne daraus entsteht, daß dieselben im Hause den freundlich-
familiären Halt nicht finden, nicht die sittlich-erziehende Einwirkung erfahren,
die doch das weibliche Geschlecht in diesem Alter besonders nötig hat. Und


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[0126] sondern im Gegenteil auch die Erziehung der auf ihrer Hunde Arbeit in fremder Leute Haus angewiesenen jugendlichen Frauenspersonen auf einen der gegen¬ wärtigen Gesammtknltur entsprechenden Standpunkt zu heben. Es ist eine traurige und eine durchaus zu bekämpfende Erscheinung auf dem Gebiete der sozialen Frage, daß, weil die bisher üblichen Wege für die Erfüllung sozialer Pflichten nicht mehr recht gangbar erscheinen, sofort die Er¬ füllung dieser Pflichten überhaupt als unmöglich abgelehnt wird, während doch gerade die veränderten Verhältnisse eine recht intensive, gewissenhafte Pflicht¬ erfüllung verlangen und auch recht wohl Wege dafür offen lassen, wenn nur der Verpflichtete sie sucht, sie finden will und nicht die Unhnltbarkeit des alten, patriarchalisch genannten Schlendrians zum willkommenen Deckmantel nimmt für seine Lieblosigkeit und Trägheit. Das patriarchalische Herrschaftsverhältnis der alten Zeit ist zu Grnnde gegangen, weil es anf einer rechtlichen Degra¬ dation der arbeitenden Klassen beruhte. Lassen wir es begraben sein. Aber nicht als abgethan und begraben sollte das eine angesehen werden, was auch damals allein geeignet war, die rechtliche Degradation erträglich zu machen, was allein auch damals die Gesundheit des Verhältnisses zwischen Herrschaft und Dienstboten bewirkte, das religiös-sittliche Moment im Gesellschaftsleben, die wahre vom Herzen kommende und zum Herzen dringende Nächstenliebe, die werkthätige Fürsorge für das „geistige, sittliche, religiöse Leben" des jugendlichen Dienstboten. Mit Recht bezeichnet Schmoller diese Fürsorge als die Bedingung, deren Erfüllung allein den Anspruch rechtfertigt auf die „familiäre Gesinnung" der Dienenden; aber es ist dies keineswegs eine Bedingung, deren Erfüllung im Belieben des Einzelnen steht, die er, wenn er auf das durch sie bedingte ver¬ zichtet, einfach unerfüllt lassen darf. Diese Fürsorge für das geistige, sittliche, religiöse Leben der jugendliche» weiblichen Dienstboten ist eine der ernstesten sozialen Pflichten der deutschen Hausfrauen, und sie ist eine ganz besonders ernste Pflicht in der Gegenwart und in der Großstadt. Erst kürzlich beantwortete Viktor Vvhmert im „Arbeiterfreund" die Frage, „wie die Masse aus Not und Elend zur Wohlfahrt emporgehoben und wie ihr Glück begründet werden könne," mit dem Satze: „Das Glück liegt im Menschen und in seiner Erziehung.... Das soziale Problem ist eine Erziehungsfrage, und die bürgerliche Gesellschaft kann erst dann ruhiger über ihre Zukunft werden, wein: sie für die gesunde Er¬ ziehung ihrer Volksgenossen gehörig sorgt und auch die leiblich und geistig ärmsten aus dem Staube emporzuheben sucht." Theoretisch wird keine urteilsfähige Frau der gebildeten Stände die Ge¬ fahr verkennen, welche gerade in der großen Stadt für die Dienstmädchen im Alter von fünfzehn bis zu fünfundzwanzig Jahren in Bezug auf ihre Sittlich¬ keit im engern Sinne daraus entsteht, daß dieselben im Hause den freundlich- familiären Halt nicht finden, nicht die sittlich-erziehende Einwirkung erfahren, die doch das weibliche Geschlecht in diesem Alter besonders nötig hat. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/126>, abgerufen am 22.07.2024.