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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zwei Molisre-Biographieii,

komödie erhoben hatte, immer wieder theilweise auf das frühere Niveau zurück,
wenn auch nicht zu verkennen ist, daß auch in ihnen eine außerordentliche komische
Kraft sich offenbart, die sogar noch heute unter gewissen Voraussetzungen auch
außerhalb Frankreichs ihre Wirksamkeit äußern kann. Letzteres beweist der Er¬
folg, den die Meiuinger mit ihrer Aufführung des "Eingebildeten Kranken"
davongetragen haben. Das Wort "zurücksinken" müssen wir aufrecht erhalten
trotz Lothcißcn, der Moliöre hierin gegen Bvileans Tadel vertheidigt und ihm
das Recht vindicirt, sich nach dem ermüdenden Kampfe, der mit der Hervor¬
bringung feiner großartigsten Dichtungen verbunden war, gewissermaßen in Kom¬
positionen dieses leichtern Genres eine Erholung zu gönnen. Dies Recht wird
ihm niemand streitig machen, aber ob wirklich die von Lotheißen oder nicht
vielmehr die oben angegebene Ursache dabei wirksam war, ist doch die Frage.
Und daß die Gattung dieser possenhaften Stücke eine niedrige war, muß auch
Lvtheißen zugeben. Uebrigens sind sie stellenweise mit so starken Derbheiten
und selbst Rohheiten versetzt, daß man uur in dem Vaterlande des Dichters die
Pietät so weit treiben kann, sie uneastrirt dem Publicum vorzuführen. Noch
eine dritte Art von Stücken ist von den vorhergenannten zu unterscheiden, das
sind die auf Bestellung für Hvffcstlichkeiten zum Theil in unglaublich kurzer Zeit
angefertigten, gewöhnlich mit Ballet und Musik versehenen, um die man natürlich
mit noch geringern Anforderungen herantreten muß. Ein einzigesmal hat sich
Moliore auch in der Tragödie versucht, ist aber dabei ebensowenig glücklich ge¬
wesen wie als tragischer Darsteller, und so ist es bei diesem einen Versuch auch
geblieben.

Bei der geschilderten Art des Schaffens für den Augenblick und zu un¬
mittelbarer praktischer Verwerthung war Molivre natürlicherweise wenig wähle¬
risch in seinen Mitteln; er nahm seine Stoffe im ganzen sowie einzelne Scenen
und Motive wo er sie sand, bei den altrömischen Komikern, bei den Spaniern,
Italienern, ans Novellen und Erzählungen der ältern wie neuern Literatur, ja
selbst aus gleichzeitigen französischen Bühnendichtungen. Nur die Engländer,
die damals noch ohne jede Einwirkung auf die französische Dichtkunst waren,
scheint er uicht gekannt zu haben. Selbst seine bedeutendsten größeren Schöpfungen
sind von Entlehnungen nicht frei. Man hat ihm daher frühzeitig den Vorwurf
des Plagiats gemacht - sehr mit Unrecht. Es ist wohl kaum nöthig, ihn
heutzutage, wo allgemein anerkannt ist, wie hoch erhaben er über allen seinen
Vorbildern -- selbst Plautus und Terenz nicht ausgenommen -- steht, mit
Lotheißen noch ernsthaft dagegen zu vertheidigen und hervorzuheben, wie uicht
der Stoff, sondern die Behandlung desselben das wesentliche des Kunstwerkes
ist. Zudem hat man in früheren Zeiten in Betreff des Eigenthums und der
Originalität der literarischen Producte andre Anschauungen gehegt als heute.
Wo bliebe der Dichterruhm unsrer mittelhochdeutschen Klassiker, wenn man in
dieser Beziehung den heutigen Maßstab an sie lege" wollte! Andrerseits aber


Zwei Molisre-Biographieii,

komödie erhoben hatte, immer wieder theilweise auf das frühere Niveau zurück,
wenn auch nicht zu verkennen ist, daß auch in ihnen eine außerordentliche komische
Kraft sich offenbart, die sogar noch heute unter gewissen Voraussetzungen auch
außerhalb Frankreichs ihre Wirksamkeit äußern kann. Letzteres beweist der Er¬
folg, den die Meiuinger mit ihrer Aufführung des „Eingebildeten Kranken"
davongetragen haben. Das Wort „zurücksinken" müssen wir aufrecht erhalten
trotz Lothcißcn, der Moliöre hierin gegen Bvileans Tadel vertheidigt und ihm
das Recht vindicirt, sich nach dem ermüdenden Kampfe, der mit der Hervor¬
bringung feiner großartigsten Dichtungen verbunden war, gewissermaßen in Kom¬
positionen dieses leichtern Genres eine Erholung zu gönnen. Dies Recht wird
ihm niemand streitig machen, aber ob wirklich die von Lotheißen oder nicht
vielmehr die oben angegebene Ursache dabei wirksam war, ist doch die Frage.
Und daß die Gattung dieser possenhaften Stücke eine niedrige war, muß auch
Lvtheißen zugeben. Uebrigens sind sie stellenweise mit so starken Derbheiten
und selbst Rohheiten versetzt, daß man uur in dem Vaterlande des Dichters die
Pietät so weit treiben kann, sie uneastrirt dem Publicum vorzuführen. Noch
eine dritte Art von Stücken ist von den vorhergenannten zu unterscheiden, das
sind die auf Bestellung für Hvffcstlichkeiten zum Theil in unglaublich kurzer Zeit
angefertigten, gewöhnlich mit Ballet und Musik versehenen, um die man natürlich
mit noch geringern Anforderungen herantreten muß. Ein einzigesmal hat sich
Moliore auch in der Tragödie versucht, ist aber dabei ebensowenig glücklich ge¬
wesen wie als tragischer Darsteller, und so ist es bei diesem einen Versuch auch
geblieben.

Bei der geschilderten Art des Schaffens für den Augenblick und zu un¬
mittelbarer praktischer Verwerthung war Molivre natürlicherweise wenig wähle¬
risch in seinen Mitteln; er nahm seine Stoffe im ganzen sowie einzelne Scenen
und Motive wo er sie sand, bei den altrömischen Komikern, bei den Spaniern,
Italienern, ans Novellen und Erzählungen der ältern wie neuern Literatur, ja
selbst aus gleichzeitigen französischen Bühnendichtungen. Nur die Engländer,
die damals noch ohne jede Einwirkung auf die französische Dichtkunst waren,
scheint er uicht gekannt zu haben. Selbst seine bedeutendsten größeren Schöpfungen
sind von Entlehnungen nicht frei. Man hat ihm daher frühzeitig den Vorwurf
des Plagiats gemacht - sehr mit Unrecht. Es ist wohl kaum nöthig, ihn
heutzutage, wo allgemein anerkannt ist, wie hoch erhaben er über allen seinen
Vorbildern — selbst Plautus und Terenz nicht ausgenommen — steht, mit
Lotheißen noch ernsthaft dagegen zu vertheidigen und hervorzuheben, wie uicht
der Stoff, sondern die Behandlung desselben das wesentliche des Kunstwerkes
ist. Zudem hat man in früheren Zeiten in Betreff des Eigenthums und der
Originalität der literarischen Producte andre Anschauungen gehegt als heute.
Wo bliebe der Dichterruhm unsrer mittelhochdeutschen Klassiker, wenn man in
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[0474] Zwei Molisre-Biographieii, komödie erhoben hatte, immer wieder theilweise auf das frühere Niveau zurück, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß auch in ihnen eine außerordentliche komische Kraft sich offenbart, die sogar noch heute unter gewissen Voraussetzungen auch außerhalb Frankreichs ihre Wirksamkeit äußern kann. Letzteres beweist der Er¬ folg, den die Meiuinger mit ihrer Aufführung des „Eingebildeten Kranken" davongetragen haben. Das Wort „zurücksinken" müssen wir aufrecht erhalten trotz Lothcißcn, der Moliöre hierin gegen Bvileans Tadel vertheidigt und ihm das Recht vindicirt, sich nach dem ermüdenden Kampfe, der mit der Hervor¬ bringung feiner großartigsten Dichtungen verbunden war, gewissermaßen in Kom¬ positionen dieses leichtern Genres eine Erholung zu gönnen. Dies Recht wird ihm niemand streitig machen, aber ob wirklich die von Lotheißen oder nicht vielmehr die oben angegebene Ursache dabei wirksam war, ist doch die Frage. Und daß die Gattung dieser possenhaften Stücke eine niedrige war, muß auch Lvtheißen zugeben. Uebrigens sind sie stellenweise mit so starken Derbheiten und selbst Rohheiten versetzt, daß man uur in dem Vaterlande des Dichters die Pietät so weit treiben kann, sie uneastrirt dem Publicum vorzuführen. Noch eine dritte Art von Stücken ist von den vorhergenannten zu unterscheiden, das sind die auf Bestellung für Hvffcstlichkeiten zum Theil in unglaublich kurzer Zeit angefertigten, gewöhnlich mit Ballet und Musik versehenen, um die man natürlich mit noch geringern Anforderungen herantreten muß. Ein einzigesmal hat sich Moliore auch in der Tragödie versucht, ist aber dabei ebensowenig glücklich ge¬ wesen wie als tragischer Darsteller, und so ist es bei diesem einen Versuch auch geblieben. Bei der geschilderten Art des Schaffens für den Augenblick und zu un¬ mittelbarer praktischer Verwerthung war Molivre natürlicherweise wenig wähle¬ risch in seinen Mitteln; er nahm seine Stoffe im ganzen sowie einzelne Scenen und Motive wo er sie sand, bei den altrömischen Komikern, bei den Spaniern, Italienern, ans Novellen und Erzählungen der ältern wie neuern Literatur, ja selbst aus gleichzeitigen französischen Bühnendichtungen. Nur die Engländer, die damals noch ohne jede Einwirkung auf die französische Dichtkunst waren, scheint er uicht gekannt zu haben. Selbst seine bedeutendsten größeren Schöpfungen sind von Entlehnungen nicht frei. Man hat ihm daher frühzeitig den Vorwurf des Plagiats gemacht - sehr mit Unrecht. Es ist wohl kaum nöthig, ihn heutzutage, wo allgemein anerkannt ist, wie hoch erhaben er über allen seinen Vorbildern — selbst Plautus und Terenz nicht ausgenommen — steht, mit Lotheißen noch ernsthaft dagegen zu vertheidigen und hervorzuheben, wie uicht der Stoff, sondern die Behandlung desselben das wesentliche des Kunstwerkes ist. Zudem hat man in früheren Zeiten in Betreff des Eigenthums und der Originalität der literarischen Producte andre Anschauungen gehegt als heute. Wo bliebe der Dichterruhm unsrer mittelhochdeutschen Klassiker, wenn man in dieser Beziehung den heutigen Maßstab an sie lege» wollte! Andrerseits aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/474>, abgerufen am 21.10.2024.