Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Die letzten Reichstagsrede" des Ranzlere. vativen, ja selbst eines Nationcilliberalen liegt eine solche Verurteilung keines¬ Der Kanzler bezeichnete sich als den Anwalt des praktischen Lebens gegen¬ Einer von den Führern der Fortschrittspartei hatte "wahres constitutio- Die letzten Reichstagsrede» des Ranzlere. vativen, ja selbst eines Nationcilliberalen liegt eine solche Verurteilung keines¬ Der Kanzler bezeichnete sich als den Anwalt des praktischen Lebens gegen¬ Einer von den Führern der Fortschrittspartei hatte „wahres constitutio- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151168"/> <fw type="header" place="top"> Die letzten Reichstagsrede» des Ranzlere.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1472" prev="#ID_1471"> vativen, ja selbst eines Nationcilliberalen liegt eine solche Verurteilung keines¬<lb/> wegs mit Nothwendigkeit. Dieselbe liegt nur in den secessionistischeu Wahlen,<lb/> weil diese Fraction den Freihandel und alle Gegentheile der Reformen, die der<lb/> Kanzler erstrebt, an die Spitze ihres Programms gestellt hat. Sodann aber,<lb/> wenn man fragt, wie viele Wähler sich für und wie viele sich gegen die Re-<lb/> gierung ausgesprochen haben, so ergiebt sich, daß bei den ersten Wahlen, wo<lb/> man frei für den Mann seines Glaubens Votiren konnte — bei den Stich¬<lb/> wahlen war dies nicht der Fall, da befand man sich in der Zwangslage, von<lb/> zwei nicht sympathischen Candidaten den weniger unsympathischen hinnehmen zu<lb/> müssen —, die conservative Fraction die einzige größere Parteigruppe ist, die<lb/> einen Zuwachs an Stimmen zu verzeichnen hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1473"> Der Kanzler bezeichnete sich als den Anwalt des praktischen Lebens gegen¬<lb/> über dem Wissen und den Ansprüchen der Studirstube. Er hat sich Kenntniß<lb/> von diesem Leben erworben, auch in Betreff der innern Fragen, er ist in der<lb/> Lage gewesen, Landwirthschaft und Fabriken zu betreiben, er hat die Welt von<lb/> verschiednen Seiten gesehen, von oben und aus ländlicher Abgeschiedenheit her,<lb/> er kann daran erinnern, daß er außerhalb der grauen Theorie, unter dem goldnen<lb/> Baume des Lebens die Erfahrungen gesammelt hat, nach denen er die innere Po¬<lb/> litik bisher leitete. Wenn diese Leitung den liberalen Herrschaften nicht behagt,<lb/> so ruft er ihnen zu: Schaffen Sie mir meinen Abschied in Gnaden vom Kaiser,<lb/> dann lasse ich Sie ihre ganze innere Politik selbst besorgen, weil es sich nur<lb/> um Meliorationen und nicht um einen nothwendigen Zwang handelt. Wenn<lb/> Sie die Meliorationen nicht mögen, wenn Sie keine Verbesserung unseres Zoll¬<lb/> systems, unsrer Armenpflege, keine Unterstützung und Erleichterung der Gemeinden,<lb/> keine Verminderung der directen Abgaben wollen, wenn Sie Abschaffung der<lb/> Zölle und Verdoppelung der Klassensteuer wünschen, so versuchen Sie getrost,<lb/> jener Abneigung und diesen Wünschen durch Ihre Abstimmung Geltung zu ver¬<lb/> schaffen. Ich kann es aushalten. Lehnen Sie die Reformen ab, welche die<lb/> Neichsregierung nach dem Willen des Kaisers Ihnen vorschlägt, so werden sie<lb/> unterbleiben müssen; denn von Tyrannei und Absolutismus zur Erzwingung<lb/> der Meliorationen ist nicht die Rede. Aber merken Sie wohl, meine Herren,<lb/> und überlegen Sie sich die Folgen: die Verantwortung dafür, daß nicht refor-<lb/> mirt, nicht meliorirt, den Bedürfnissen des Reichs und der Nation nicht Be¬<lb/> friedigung gewährt wird, weise ich von mir ab, und meine ganze öffentliche<lb/> Thätigkeit wird dahin gerichtet sein, diese Verantwortung dahin abzulenken, wohin<lb/> sie gehört.</p><lb/> <p xml:id="ID_1474" next="#ID_1475"> Einer von den Führern der Fortschrittspartei hatte „wahres constitutio-<lb/> nelles Leben" als sein Verlangen bezeichnet und darunter das parlamentarische<lb/> System verstanden, das er in einem „organischen Verhältnisse der Regierung<lb/> zu den großen Strömungen der Nation," d. h. zu den Parteien, erblickte. Die<lb/> Erwiederung des Reichskanzlers faßt sich in folgende kurze Sätze zusammen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0446]
Die letzten Reichstagsrede» des Ranzlere.
vativen, ja selbst eines Nationcilliberalen liegt eine solche Verurteilung keines¬
wegs mit Nothwendigkeit. Dieselbe liegt nur in den secessionistischeu Wahlen,
weil diese Fraction den Freihandel und alle Gegentheile der Reformen, die der
Kanzler erstrebt, an die Spitze ihres Programms gestellt hat. Sodann aber,
wenn man fragt, wie viele Wähler sich für und wie viele sich gegen die Re-
gierung ausgesprochen haben, so ergiebt sich, daß bei den ersten Wahlen, wo
man frei für den Mann seines Glaubens Votiren konnte — bei den Stich¬
wahlen war dies nicht der Fall, da befand man sich in der Zwangslage, von
zwei nicht sympathischen Candidaten den weniger unsympathischen hinnehmen zu
müssen —, die conservative Fraction die einzige größere Parteigruppe ist, die
einen Zuwachs an Stimmen zu verzeichnen hatte.
Der Kanzler bezeichnete sich als den Anwalt des praktischen Lebens gegen¬
über dem Wissen und den Ansprüchen der Studirstube. Er hat sich Kenntniß
von diesem Leben erworben, auch in Betreff der innern Fragen, er ist in der
Lage gewesen, Landwirthschaft und Fabriken zu betreiben, er hat die Welt von
verschiednen Seiten gesehen, von oben und aus ländlicher Abgeschiedenheit her,
er kann daran erinnern, daß er außerhalb der grauen Theorie, unter dem goldnen
Baume des Lebens die Erfahrungen gesammelt hat, nach denen er die innere Po¬
litik bisher leitete. Wenn diese Leitung den liberalen Herrschaften nicht behagt,
so ruft er ihnen zu: Schaffen Sie mir meinen Abschied in Gnaden vom Kaiser,
dann lasse ich Sie ihre ganze innere Politik selbst besorgen, weil es sich nur
um Meliorationen und nicht um einen nothwendigen Zwang handelt. Wenn
Sie die Meliorationen nicht mögen, wenn Sie keine Verbesserung unseres Zoll¬
systems, unsrer Armenpflege, keine Unterstützung und Erleichterung der Gemeinden,
keine Verminderung der directen Abgaben wollen, wenn Sie Abschaffung der
Zölle und Verdoppelung der Klassensteuer wünschen, so versuchen Sie getrost,
jener Abneigung und diesen Wünschen durch Ihre Abstimmung Geltung zu ver¬
schaffen. Ich kann es aushalten. Lehnen Sie die Reformen ab, welche die
Neichsregierung nach dem Willen des Kaisers Ihnen vorschlägt, so werden sie
unterbleiben müssen; denn von Tyrannei und Absolutismus zur Erzwingung
der Meliorationen ist nicht die Rede. Aber merken Sie wohl, meine Herren,
und überlegen Sie sich die Folgen: die Verantwortung dafür, daß nicht refor-
mirt, nicht meliorirt, den Bedürfnissen des Reichs und der Nation nicht Be¬
friedigung gewährt wird, weise ich von mir ab, und meine ganze öffentliche
Thätigkeit wird dahin gerichtet sein, diese Verantwortung dahin abzulenken, wohin
sie gehört.
Einer von den Führern der Fortschrittspartei hatte „wahres constitutio-
nelles Leben" als sein Verlangen bezeichnet und darunter das parlamentarische
System verstanden, das er in einem „organischen Verhältnisse der Regierung
zu den großen Strömungen der Nation," d. h. zu den Parteien, erblickte. Die
Erwiederung des Reichskanzlers faßt sich in folgende kurze Sätze zusammen.
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