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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die Kanzlerkrisis,

Gegentheil von dem repräsentiren, und die nach den preußischen Einrichtungen
nicht unter ihm dienen, sondern neben ihm die Opposition repräsentiren würden.
Ein Koalitionsministerium und Fürst Bismarck ist ebenso undenkbar wie ein Gang
nach Canossa und Fürst Bismarck. Würde es dennoch möglich, so könnte es
keine vier Wochen Bestand haben.

Wie faßt der Reichskanzler in Wahrheit die Lage auf, und wie denkt er
auf Grund dieser Auffassung zu Verfahren? Ich habe Ursache, zu glauben, daß
er die Sache ungefähr folgendermaßen betrachtet.

Durch die Wahl ist das Centrum der Scheibe nach links verschoben. Das
seccssionistisch-fortschrittliche Judenthum mit seinem Gelde ist von großen Massen
der Wähler mir vorgezogen worden, es ist jetzt der Mittelpunkt geworden. Un¬
verstand und Undank regieren weite Kreise des Volkes. Die Wahlen haben be¬
wiesen, daß der deutsche Philister noch lebt, daß der Köder der Phrase und
Lüge ihn noch verlockt. Er will nichts vom Schutze der nationalen Arbeit,
nichts von der Unfall- und Altersversicherung der Arbeiter mit staatlicher Bei¬
hilfe wissen, er will keine Erleichterung der Steuerlast der Gemeinden in Schul-
und Armensachen, er will wieder Zuschlage zur directen Steuer. Sie können
das haben, aber nicht von mir. Ob man sich darüber klar ist, ist gleich-
giltig. Ich muß eine zuverlässige Majorität zum Regieren haben, und ich finde sie
nicht. Es wäre wohl mit einer Vereinigung der Klerikalen und der Conser-
vativen gegangen, aber das Centrum ist bei den Wahlen überall gegen uns ge¬
wesen, und es ist kein Verlaß auf sie. Alle Parteien schießen auf mich, be¬
trachten mich als Kugelfang. Alle Angriffe gelten zunächst meiner Person. Ich
soll eine Reaction wollen, ein Junker sein, der das Gesicht der alten feudalen
Zeit zugewendet hält. In jeder Weise bin ich angefeindet, verkleinert und ver¬
dächtigt worden, besonders aber nach dieser Richtung hin. Man hat den Leuten vor¬
gespiegelt, daß mein Getreidezoll dem Arbeiter das Brot verthcuere, daß das
Tabaksmonopol bewirken werde, daß das Pfund Tabak drei bis fünf Mark koste,
man hat in ländlichen Districten die Erinnerungen an die Vergangenheit, an
die Jnnkerherrschaft wachgerufen und den Leuten gesagt, ich wolle dahin zurück.
Die alten Jagdfrohnden, das Ms xriilig.6 novtis sogar haben herhalten müssen,
um den Emissären des Fortschritts die Verhetzung zu erleichtern, und die Leicht-
gläubigkeit des Volkes hat den Unsinn für baare Münze hingenommen. So
in Holstein, in Lauenburg, wo die dänischen Könige einem Zustand das Leben
gefristet hatten, der das reine Mittelalter war. Die Junker herrschten, hatten
den Elephantenvrden ans der Brust sitzen und aßen das Fett des Landes. Sie
thaten nichts und konnten nichts und hatten dafür Einnahmen bis zu zehn¬
tausend Thalern jährlich. Sie schrieben sich reichliche Sporteln gut und legten
schwere Brüchen auf; die Leute in ihrem Bann mußten das ungenießbare Bier
trinken, das auf ihren Gütern gebraut wurde, und kein Mensch konnte im Herzog-
thume Land erwerben, weil sie nicht wollten, daß mehr als zweitausend Seelen


Die Kanzlerkrisis,

Gegentheil von dem repräsentiren, und die nach den preußischen Einrichtungen
nicht unter ihm dienen, sondern neben ihm die Opposition repräsentiren würden.
Ein Koalitionsministerium und Fürst Bismarck ist ebenso undenkbar wie ein Gang
nach Canossa und Fürst Bismarck. Würde es dennoch möglich, so könnte es
keine vier Wochen Bestand haben.

Wie faßt der Reichskanzler in Wahrheit die Lage auf, und wie denkt er
auf Grund dieser Auffassung zu Verfahren? Ich habe Ursache, zu glauben, daß
er die Sache ungefähr folgendermaßen betrachtet.

Durch die Wahl ist das Centrum der Scheibe nach links verschoben. Das
seccssionistisch-fortschrittliche Judenthum mit seinem Gelde ist von großen Massen
der Wähler mir vorgezogen worden, es ist jetzt der Mittelpunkt geworden. Un¬
verstand und Undank regieren weite Kreise des Volkes. Die Wahlen haben be¬
wiesen, daß der deutsche Philister noch lebt, daß der Köder der Phrase und
Lüge ihn noch verlockt. Er will nichts vom Schutze der nationalen Arbeit,
nichts von der Unfall- und Altersversicherung der Arbeiter mit staatlicher Bei¬
hilfe wissen, er will keine Erleichterung der Steuerlast der Gemeinden in Schul-
und Armensachen, er will wieder Zuschlage zur directen Steuer. Sie können
das haben, aber nicht von mir. Ob man sich darüber klar ist, ist gleich-
giltig. Ich muß eine zuverlässige Majorität zum Regieren haben, und ich finde sie
nicht. Es wäre wohl mit einer Vereinigung der Klerikalen und der Conser-
vativen gegangen, aber das Centrum ist bei den Wahlen überall gegen uns ge¬
wesen, und es ist kein Verlaß auf sie. Alle Parteien schießen auf mich, be¬
trachten mich als Kugelfang. Alle Angriffe gelten zunächst meiner Person. Ich
soll eine Reaction wollen, ein Junker sein, der das Gesicht der alten feudalen
Zeit zugewendet hält. In jeder Weise bin ich angefeindet, verkleinert und ver¬
dächtigt worden, besonders aber nach dieser Richtung hin. Man hat den Leuten vor¬
gespiegelt, daß mein Getreidezoll dem Arbeiter das Brot verthcuere, daß das
Tabaksmonopol bewirken werde, daß das Pfund Tabak drei bis fünf Mark koste,
man hat in ländlichen Districten die Erinnerungen an die Vergangenheit, an
die Jnnkerherrschaft wachgerufen und den Leuten gesagt, ich wolle dahin zurück.
Die alten Jagdfrohnden, das Ms xriilig.6 novtis sogar haben herhalten müssen,
um den Emissären des Fortschritts die Verhetzung zu erleichtern, und die Leicht-
gläubigkeit des Volkes hat den Unsinn für baare Münze hingenommen. So
in Holstein, in Lauenburg, wo die dänischen Könige einem Zustand das Leben
gefristet hatten, der das reine Mittelalter war. Die Junker herrschten, hatten
den Elephantenvrden ans der Brust sitzen und aßen das Fett des Landes. Sie
thaten nichts und konnten nichts und hatten dafür Einnahmen bis zu zehn¬
tausend Thalern jährlich. Sie schrieben sich reichliche Sporteln gut und legten
schwere Brüchen auf; die Leute in ihrem Bann mußten das ungenießbare Bier
trinken, das auf ihren Gütern gebraut wurde, und kein Mensch konnte im Herzog-
thume Land erwerben, weil sie nicht wollten, daß mehr als zweitausend Seelen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/350>, abgerufen am 16.01.2025.