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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

uns bindend sein können, wo wir sie nur zu bestimmten Zwecken ergreifen. Auch
die Kunst hat eine Wahrheit, eine Wahrheit, der, sobald sie sich nachahmend
verhält, die Naturwahrheit zwar wird zu Grunde liegen müssen, nur daß diese
allem noch gewiß nicht die ihre ist. Ich will nicht sagen, daß dem Künstler
die Detailstudien des Naturforschers nicht nützen könnten, nur daß er sie nicht
immer unmittelbar anwenden kann. Er würde meist gerade in Unwahrheit ver¬
fallen, wenn er es wollte. Wie weit z. B. ein Maler hierin mit Vortheil gehen
kann, zeigt Meissonier. Daß es darin eine Grenze giebt, die, wenn überschritten,
zur Unwahrheit führt, beweisen die Landschafter, die uns auf ihren Bilder" noch
jedes Blatt, jedes Blümchen erkennen lassen, das in der Entfernung, in welcher
sie uus dasselbe darstellen, nicht mehr sichtbar sein kann. Dagegen beweisen
die alten griechischen Meisterwerke der Plastik wieder, daß es keiner so weitgehenden
Kenntniß der Anatomie, keines Mikroskopes bedürfte, um wahr zu sein, da sie
von den neuern Bildhauern trotz der vielleicht größern Kenntnisse dieser Art
im wesentlichen an Naturwahrheit nicht übertroffen, an plastischer Schönheit und
künstlerischer Wahrheit aber gewiß nicht erreicht werden. Schönheit würde der
Naturalist, wenn er sich treu bliebe, überhaupt keine andre hervorbringen können,
als die er in der Natur bereits vorfindet.

Der Dichter steht der Natur und Wirklichkeit vermöge seiner Darstellungs-
mittel zwar etwas anders, aber keineswegs vortheilhafter gegenüber als der bil¬
dende Künstler. Letzterer ist auf den Augenblick beschränkt, aber für diesen kann
er die Wirklichkeit von seinem Standpunkte doch vollständig wiedergeben. Der
Dichter stellt in der Zeit, zugleich aber auch noch das Räumliche dar. Im Drama
überläßt er dies zwar in der Hauptsache den Schauspielern und der scenischen
Darstellung überhaupt, wo er sich aber episch verhält, vermag er mit seiner
Darstellung nicht mit den zeitlichen Veränderungen der Natur und Wirklichkeit
Schritt zu halten. Er vermag das Gleichzeitige nicht anders als aus Kosten
der Continuität der einzelnen Veränderungen, nicht anders als auf Kosten ihrer
Vollständigkeit darzustellen. Er verfällt schon hierdurch in eine Unwahrheit,
die eine conventionelle, aber in einem bestimmten Umfang künstlerisch berechtigte
ist, weil sie in der Natur seiner Kunst und ihrer Darstellungsmittel begründet
liegt. Niemand nimmt Anstoß daran, daß der Romanschreiber uns in dreißig
oder vierzig Stunden das erzählt, was in Wirklichkeit viele Jahre umfaßt. Doch
wenn der Naturalist dies auch aus dieselbe Zeit ausdehnen wollte, würde er
mit den Mitteln des Erzählers wohl alles bis ins einzelnste so zur Darstellung
bringen können, als es sich in Wirklichkeit darstellte? Würde er behaupten
können, das alles mit eignen Sinnen wahrgenommen, ja nicht bloß wahrge¬
nommen, sondern auch noch studirt und analysirt zu haben? Behaupten können,
daß er bei seiner Darstellung nicht noch andre Erfahrungen benutzt, hier ein¬
zelnes unterdrückt, dort durch etwas andres ersetzt und ergänzt habe? Glaubt
er dies alles ohne Phantasie bewerkstelligen und niemals in Unwahrheit ver-


Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

uns bindend sein können, wo wir sie nur zu bestimmten Zwecken ergreifen. Auch
die Kunst hat eine Wahrheit, eine Wahrheit, der, sobald sie sich nachahmend
verhält, die Naturwahrheit zwar wird zu Grunde liegen müssen, nur daß diese
allem noch gewiß nicht die ihre ist. Ich will nicht sagen, daß dem Künstler
die Detailstudien des Naturforschers nicht nützen könnten, nur daß er sie nicht
immer unmittelbar anwenden kann. Er würde meist gerade in Unwahrheit ver¬
fallen, wenn er es wollte. Wie weit z. B. ein Maler hierin mit Vortheil gehen
kann, zeigt Meissonier. Daß es darin eine Grenze giebt, die, wenn überschritten,
zur Unwahrheit führt, beweisen die Landschafter, die uns auf ihren Bilder» noch
jedes Blatt, jedes Blümchen erkennen lassen, das in der Entfernung, in welcher
sie uus dasselbe darstellen, nicht mehr sichtbar sein kann. Dagegen beweisen
die alten griechischen Meisterwerke der Plastik wieder, daß es keiner so weitgehenden
Kenntniß der Anatomie, keines Mikroskopes bedürfte, um wahr zu sein, da sie
von den neuern Bildhauern trotz der vielleicht größern Kenntnisse dieser Art
im wesentlichen an Naturwahrheit nicht übertroffen, an plastischer Schönheit und
künstlerischer Wahrheit aber gewiß nicht erreicht werden. Schönheit würde der
Naturalist, wenn er sich treu bliebe, überhaupt keine andre hervorbringen können,
als die er in der Natur bereits vorfindet.

Der Dichter steht der Natur und Wirklichkeit vermöge seiner Darstellungs-
mittel zwar etwas anders, aber keineswegs vortheilhafter gegenüber als der bil¬
dende Künstler. Letzterer ist auf den Augenblick beschränkt, aber für diesen kann
er die Wirklichkeit von seinem Standpunkte doch vollständig wiedergeben. Der
Dichter stellt in der Zeit, zugleich aber auch noch das Räumliche dar. Im Drama
überläßt er dies zwar in der Hauptsache den Schauspielern und der scenischen
Darstellung überhaupt, wo er sich aber episch verhält, vermag er mit seiner
Darstellung nicht mit den zeitlichen Veränderungen der Natur und Wirklichkeit
Schritt zu halten. Er vermag das Gleichzeitige nicht anders als aus Kosten
der Continuität der einzelnen Veränderungen, nicht anders als auf Kosten ihrer
Vollständigkeit darzustellen. Er verfällt schon hierdurch in eine Unwahrheit,
die eine conventionelle, aber in einem bestimmten Umfang künstlerisch berechtigte
ist, weil sie in der Natur seiner Kunst und ihrer Darstellungsmittel begründet
liegt. Niemand nimmt Anstoß daran, daß der Romanschreiber uns in dreißig
oder vierzig Stunden das erzählt, was in Wirklichkeit viele Jahre umfaßt. Doch
wenn der Naturalist dies auch aus dieselbe Zeit ausdehnen wollte, würde er
mit den Mitteln des Erzählers wohl alles bis ins einzelnste so zur Darstellung
bringen können, als es sich in Wirklichkeit darstellte? Würde er behaupten
können, das alles mit eignen Sinnen wahrgenommen, ja nicht bloß wahrge¬
nommen, sondern auch noch studirt und analysirt zu haben? Behaupten können,
daß er bei seiner Darstellung nicht noch andre Erfahrungen benutzt, hier ein¬
zelnes unterdrückt, dort durch etwas andres ersetzt und ergänzt habe? Glaubt
er dies alles ohne Phantasie bewerkstelligen und niemals in Unwahrheit ver-


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[0326] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. uns bindend sein können, wo wir sie nur zu bestimmten Zwecken ergreifen. Auch die Kunst hat eine Wahrheit, eine Wahrheit, der, sobald sie sich nachahmend verhält, die Naturwahrheit zwar wird zu Grunde liegen müssen, nur daß diese allem noch gewiß nicht die ihre ist. Ich will nicht sagen, daß dem Künstler die Detailstudien des Naturforschers nicht nützen könnten, nur daß er sie nicht immer unmittelbar anwenden kann. Er würde meist gerade in Unwahrheit ver¬ fallen, wenn er es wollte. Wie weit z. B. ein Maler hierin mit Vortheil gehen kann, zeigt Meissonier. Daß es darin eine Grenze giebt, die, wenn überschritten, zur Unwahrheit führt, beweisen die Landschafter, die uns auf ihren Bilder» noch jedes Blatt, jedes Blümchen erkennen lassen, das in der Entfernung, in welcher sie uus dasselbe darstellen, nicht mehr sichtbar sein kann. Dagegen beweisen die alten griechischen Meisterwerke der Plastik wieder, daß es keiner so weitgehenden Kenntniß der Anatomie, keines Mikroskopes bedürfte, um wahr zu sein, da sie von den neuern Bildhauern trotz der vielleicht größern Kenntnisse dieser Art im wesentlichen an Naturwahrheit nicht übertroffen, an plastischer Schönheit und künstlerischer Wahrheit aber gewiß nicht erreicht werden. Schönheit würde der Naturalist, wenn er sich treu bliebe, überhaupt keine andre hervorbringen können, als die er in der Natur bereits vorfindet. Der Dichter steht der Natur und Wirklichkeit vermöge seiner Darstellungs- mittel zwar etwas anders, aber keineswegs vortheilhafter gegenüber als der bil¬ dende Künstler. Letzterer ist auf den Augenblick beschränkt, aber für diesen kann er die Wirklichkeit von seinem Standpunkte doch vollständig wiedergeben. Der Dichter stellt in der Zeit, zugleich aber auch noch das Räumliche dar. Im Drama überläßt er dies zwar in der Hauptsache den Schauspielern und der scenischen Darstellung überhaupt, wo er sich aber episch verhält, vermag er mit seiner Darstellung nicht mit den zeitlichen Veränderungen der Natur und Wirklichkeit Schritt zu halten. Er vermag das Gleichzeitige nicht anders als aus Kosten der Continuität der einzelnen Veränderungen, nicht anders als auf Kosten ihrer Vollständigkeit darzustellen. Er verfällt schon hierdurch in eine Unwahrheit, die eine conventionelle, aber in einem bestimmten Umfang künstlerisch berechtigte ist, weil sie in der Natur seiner Kunst und ihrer Darstellungsmittel begründet liegt. Niemand nimmt Anstoß daran, daß der Romanschreiber uns in dreißig oder vierzig Stunden das erzählt, was in Wirklichkeit viele Jahre umfaßt. Doch wenn der Naturalist dies auch aus dieselbe Zeit ausdehnen wollte, würde er mit den Mitteln des Erzählers wohl alles bis ins einzelnste so zur Darstellung bringen können, als es sich in Wirklichkeit darstellte? Würde er behaupten können, das alles mit eignen Sinnen wahrgenommen, ja nicht bloß wahrge¬ nommen, sondern auch noch studirt und analysirt zu haben? Behaupten können, daß er bei seiner Darstellung nicht noch andre Erfahrungen benutzt, hier ein¬ zelnes unterdrückt, dort durch etwas andres ersetzt und ergänzt habe? Glaubt er dies alles ohne Phantasie bewerkstelligen und niemals in Unwahrheit ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/326>, abgerufen am 15.01.2025.