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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

Dramas? Das so ganz Reg"! und Convention, so ganz beseelt von den Be¬
griffen eines hochfliegenden Idealismus war, was Zola doch alles eifrigst be¬
kämpft? Das aber, worauf es demselben nicht minder ankommt, von Handlung
so viel wie nichts hat wissen "vollen, sondern alles Licht auf die psychologische Dar¬
legung der Charaktere hat fallen lassen. Nur soll jetzt nicht mehr ausschließlich
der psychische Mensch, losgerissen von seinen äußern Lebensbedingungen, sondern
der volle Mensch, auch der physiologische, mit und in diesen letztem aus dem
Schauplatz erscheinen. "Ich erwarte -- heißt es hier u. a. --, daß man in
Zukunft nur Menschen mit Fleisch und Knochen, unmittelbar wie man sie der
Wirklichkeit entnommen und wissenschaftlich analysirt hat, auf die Bühne bringen
wird. Ich erwarte, daß man uns endlich von den nur fictiven Personen, den
conventionellen Symbolen der Tugend und des Lasters befreit, die niemals den
Werth "menschlicher Documente" besitzen. Ich erwarte, die Personen der Bühne
sodann von den Verhältnissen und Bedingungen, in denen sie leben, bestimmt
und nach der Logik ihres Naturells und der äußern Thatsachen handeln zu sehen.
Ich erwarte, daß es dann keine Art Täuschung, Escamotage und Taschenspielcr-
tuuste mehr giebt, welche Menschen und Dinge von Moment zu Moment von
Grund aus verwandeln köunen. Ich erwarte, daß man uns keine unannehmbaren
Geschichten mehr geben und richtige Beobachtungen durch romanhafte Ein¬
mischungen wird fälschen dürfen. Ich erwarte dramatische Werke, in welchen
die hohle Declamation verschwunden sein wird, entsprungen aus großen Ge¬
danken und Gefühlen, um die erhabene Moral der Wahrheit zu lehren und aus
gewissenhafter Untersuchung in ihrer ganzen Furchtbarkeit hervortreten zu lassen.
Ich erwarte, daß die Evolution, die der Roman schon seit Balzac genommen,
sich nun auch auf das Theater übertragen wird, daß man auch hier auf die
Quelle der Wissenschaft und der neuen Künste, das Naturstudium, die Anatomie
des Menschen, die Photographie des Lebens in einem Protocolle (proces vsrbal)
zurückgehen wird, welches um so eigenartiger und mächtiger erscheinen muß, als
es bisher noch niemand gewagt hat, es ans die Bühne zu bringen."

Stellen wir dieser emphatischen Rhetorik eine ganz einfache sachliche Be¬
trachtung entgegen. Wir wissen bereits, daß die treueste Nachbildung die Natur
in Bezug auf Wirklichkeit nie erreichen kann. Wir sahen, daß die künstlerische
von dieser in einem bestimmten Umfange absehen muß und absehen will. Zwar
hielt anch Aristoteles schon die Nachahmung und das Vergnügen an der glück¬
lich erreichten Nachahmung für die Quelle der künstlerischen Thätigkeit und der
Kunst. Entspringt nun dieses Vergnügen ans der Uebereinstimmung der Copie
mit dem Original oder aus der Bewunderung der künstlerischen Geschicklichkeit?
Gewiß kann und wird beides eine gewisse Befriedigung gewähren. Aber in
vielen Fällen denken wir weder an den Künstler, noch an seine künstlerische
Thätigkeit; in andern kennen wir nicht einmal das Original, das er copirte.
Die Wahrnehmung einer gewissen Uebereinstimmung mit dem Leben mag zwar


Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

Dramas? Das so ganz Reg»! und Convention, so ganz beseelt von den Be¬
griffen eines hochfliegenden Idealismus war, was Zola doch alles eifrigst be¬
kämpft? Das aber, worauf es demselben nicht minder ankommt, von Handlung
so viel wie nichts hat wissen »vollen, sondern alles Licht auf die psychologische Dar¬
legung der Charaktere hat fallen lassen. Nur soll jetzt nicht mehr ausschließlich
der psychische Mensch, losgerissen von seinen äußern Lebensbedingungen, sondern
der volle Mensch, auch der physiologische, mit und in diesen letztem aus dem
Schauplatz erscheinen. „Ich erwarte — heißt es hier u. a. —, daß man in
Zukunft nur Menschen mit Fleisch und Knochen, unmittelbar wie man sie der
Wirklichkeit entnommen und wissenschaftlich analysirt hat, auf die Bühne bringen
wird. Ich erwarte, daß man uns endlich von den nur fictiven Personen, den
conventionellen Symbolen der Tugend und des Lasters befreit, die niemals den
Werth »menschlicher Documente« besitzen. Ich erwarte, die Personen der Bühne
sodann von den Verhältnissen und Bedingungen, in denen sie leben, bestimmt
und nach der Logik ihres Naturells und der äußern Thatsachen handeln zu sehen.
Ich erwarte, daß es dann keine Art Täuschung, Escamotage und Taschenspielcr-
tuuste mehr giebt, welche Menschen und Dinge von Moment zu Moment von
Grund aus verwandeln köunen. Ich erwarte, daß man uns keine unannehmbaren
Geschichten mehr geben und richtige Beobachtungen durch romanhafte Ein¬
mischungen wird fälschen dürfen. Ich erwarte dramatische Werke, in welchen
die hohle Declamation verschwunden sein wird, entsprungen aus großen Ge¬
danken und Gefühlen, um die erhabene Moral der Wahrheit zu lehren und aus
gewissenhafter Untersuchung in ihrer ganzen Furchtbarkeit hervortreten zu lassen.
Ich erwarte, daß die Evolution, die der Roman schon seit Balzac genommen,
sich nun auch auf das Theater übertragen wird, daß man auch hier auf die
Quelle der Wissenschaft und der neuen Künste, das Naturstudium, die Anatomie
des Menschen, die Photographie des Lebens in einem Protocolle (proces vsrbal)
zurückgehen wird, welches um so eigenartiger und mächtiger erscheinen muß, als
es bisher noch niemand gewagt hat, es ans die Bühne zu bringen."

Stellen wir dieser emphatischen Rhetorik eine ganz einfache sachliche Be¬
trachtung entgegen. Wir wissen bereits, daß die treueste Nachbildung die Natur
in Bezug auf Wirklichkeit nie erreichen kann. Wir sahen, daß die künstlerische
von dieser in einem bestimmten Umfange absehen muß und absehen will. Zwar
hielt anch Aristoteles schon die Nachahmung und das Vergnügen an der glück¬
lich erreichten Nachahmung für die Quelle der künstlerischen Thätigkeit und der
Kunst. Entspringt nun dieses Vergnügen ans der Uebereinstimmung der Copie
mit dem Original oder aus der Bewunderung der künstlerischen Geschicklichkeit?
Gewiß kann und wird beides eine gewisse Befriedigung gewähren. Aber in
vielen Fällen denken wir weder an den Künstler, noch an seine künstlerische
Thätigkeit; in andern kennen wir nicht einmal das Original, das er copirte.
Die Wahrnehmung einer gewissen Uebereinstimmung mit dem Leben mag zwar


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[0324] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. Dramas? Das so ganz Reg»! und Convention, so ganz beseelt von den Be¬ griffen eines hochfliegenden Idealismus war, was Zola doch alles eifrigst be¬ kämpft? Das aber, worauf es demselben nicht minder ankommt, von Handlung so viel wie nichts hat wissen »vollen, sondern alles Licht auf die psychologische Dar¬ legung der Charaktere hat fallen lassen. Nur soll jetzt nicht mehr ausschließlich der psychische Mensch, losgerissen von seinen äußern Lebensbedingungen, sondern der volle Mensch, auch der physiologische, mit und in diesen letztem aus dem Schauplatz erscheinen. „Ich erwarte — heißt es hier u. a. —, daß man in Zukunft nur Menschen mit Fleisch und Knochen, unmittelbar wie man sie der Wirklichkeit entnommen und wissenschaftlich analysirt hat, auf die Bühne bringen wird. Ich erwarte, daß man uns endlich von den nur fictiven Personen, den conventionellen Symbolen der Tugend und des Lasters befreit, die niemals den Werth »menschlicher Documente« besitzen. Ich erwarte, die Personen der Bühne sodann von den Verhältnissen und Bedingungen, in denen sie leben, bestimmt und nach der Logik ihres Naturells und der äußern Thatsachen handeln zu sehen. Ich erwarte, daß es dann keine Art Täuschung, Escamotage und Taschenspielcr- tuuste mehr giebt, welche Menschen und Dinge von Moment zu Moment von Grund aus verwandeln köunen. Ich erwarte, daß man uns keine unannehmbaren Geschichten mehr geben und richtige Beobachtungen durch romanhafte Ein¬ mischungen wird fälschen dürfen. Ich erwarte dramatische Werke, in welchen die hohle Declamation verschwunden sein wird, entsprungen aus großen Ge¬ danken und Gefühlen, um die erhabene Moral der Wahrheit zu lehren und aus gewissenhafter Untersuchung in ihrer ganzen Furchtbarkeit hervortreten zu lassen. Ich erwarte, daß die Evolution, die der Roman schon seit Balzac genommen, sich nun auch auf das Theater übertragen wird, daß man auch hier auf die Quelle der Wissenschaft und der neuen Künste, das Naturstudium, die Anatomie des Menschen, die Photographie des Lebens in einem Protocolle (proces vsrbal) zurückgehen wird, welches um so eigenartiger und mächtiger erscheinen muß, als es bisher noch niemand gewagt hat, es ans die Bühne zu bringen." Stellen wir dieser emphatischen Rhetorik eine ganz einfache sachliche Be¬ trachtung entgegen. Wir wissen bereits, daß die treueste Nachbildung die Natur in Bezug auf Wirklichkeit nie erreichen kann. Wir sahen, daß die künstlerische von dieser in einem bestimmten Umfange absehen muß und absehen will. Zwar hielt anch Aristoteles schon die Nachahmung und das Vergnügen an der glück¬ lich erreichten Nachahmung für die Quelle der künstlerischen Thätigkeit und der Kunst. Entspringt nun dieses Vergnügen ans der Uebereinstimmung der Copie mit dem Original oder aus der Bewunderung der künstlerischen Geschicklichkeit? Gewiß kann und wird beides eine gewisse Befriedigung gewähren. Aber in vielen Fällen denken wir weder an den Künstler, noch an seine künstlerische Thätigkeit; in andern kennen wir nicht einmal das Original, das er copirte. Die Wahrnehmung einer gewissen Uebereinstimmung mit dem Leben mag zwar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/324>, abgerufen am 16.01.2025.