Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

wollen, wohin wir gehen, so ist dies allerdings nur eine Speculation, eine
logische Folgerung von dem, was vorausging, und dem, was ist, auf das, was
da sein wird. Dies ist mein alleiniges Vorhaben. Es ist lächerlich, mir ein
anderes unterlegen zu wollen, mich predigend und prophezeiend aus einen Felsen
zu stellen, mich zum Haupt einer Schule zu macheu, das mit dem lieben Gott
auf dem Duzfuße steht." Wenn man das, was er lehre, bis auf Aristoteles
zurückführe, so beweise man nur, daß es vortrefflich begründet sei. Auch glaube
er in der That, daß die Natur der Kunst und der Dichtung immer zu Grunde
gelegen, daß man fort und fort darnach gestrebt habe, derselben näher zu treten,
in ihrer Nachahmung genauer und wahrer zu sein.

Gleichwohl sei ein Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem neu-
classischen Drama, wie zwischen dem heutigen und diesem. Das ueuelassische
habe zwei Jahrhunderte lang geherrscht, weil es so lange dem Geist der Zeiten
entsprochen habe. Es sei erst allmählich durch den im vorigen Jahrhundert
erwachenden und erstarkenden Geist der exacten Naturbeobachtung, des wissen¬
schaftlichen Experiments, der physikalischen, chemischen und physiologischen Analyse
verdrängt worden, welcher die Wirklichkeit an die Stelle der Phantasie gesetzt
und später auch die Poesie ergriffen habe. Diese Evolution des Geistes sei es,
welche sich erst in diesem Jahrhundert mit voller Macht entfalten konnte und
in der wir noch lebten, welche er mit dem Namen des Naturalismus bezeichne,
als dessen hauptsächlichsten Bahnbrecher er Diderot ansehe.

Ist diese Darstellung aber auch selbst ganz exact? Ich denke, daß die
experimentale Naturwissenschaft, wie der Kampf für die Wahrheit der Natur
und der Wirklichkeit gegen den Conventionalismus der Bühne, viel weiter zurück¬
reicht und daß dieser Kampf auf noch ganz andre Ursachen als auf sie zurückgeführt
werden muß. Schon Bacon wird als Begründer der experimentalen Natur-
wissenschaft genannt, und wenn man auch Shakespeare in seiner Verspottung des
Euphuismus und in seiner Abkehr von den Nachahmungen des altclassischen
Dramas nicht als einen Verfechter der Naturwahrheit gegen den Conventiona¬
lismus gelten lassen wollte, so wird dies doch von Moliöre jedenfalls zugegeben
werden müssen, an dessen Bestrebungen sich etwas später der Kampf für die Neueren
gegen die Alten, der Hinweis auf Shakespeare in Frankreich, sowie die hervor¬
tretende empfindsame Richtung in Dichtung und Drama anschloß. Destvuches
und Lachcmss6e, Lillo und Moore waren Vorläufer Diderots. Auch handelte
es sich in dem Kampfe gegen das alte classische Drama noch um etwas andres
als um die Naturwahrheit. Man begann zu erkennen, daß es demselben an
dem wesentlichsten Elemente des Dramatischen, an Handlung fehle, also gerade
an dem, was Zola jetzt wieder vom Drama ausgeschieden oder doch in ihm
zurückgebannt sehen möchte. Man fühlte, daß der Alexandriner eine Fessel
sür den dramatischen Ausdruck, und die höfische Etiquette eine andre sür den
der Empfindung überhaupt sei. Diderot war aber der erste, welcher erkannte,


Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

wollen, wohin wir gehen, so ist dies allerdings nur eine Speculation, eine
logische Folgerung von dem, was vorausging, und dem, was ist, auf das, was
da sein wird. Dies ist mein alleiniges Vorhaben. Es ist lächerlich, mir ein
anderes unterlegen zu wollen, mich predigend und prophezeiend aus einen Felsen
zu stellen, mich zum Haupt einer Schule zu macheu, das mit dem lieben Gott
auf dem Duzfuße steht." Wenn man das, was er lehre, bis auf Aristoteles
zurückführe, so beweise man nur, daß es vortrefflich begründet sei. Auch glaube
er in der That, daß die Natur der Kunst und der Dichtung immer zu Grunde
gelegen, daß man fort und fort darnach gestrebt habe, derselben näher zu treten,
in ihrer Nachahmung genauer und wahrer zu sein.

Gleichwohl sei ein Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem neu-
classischen Drama, wie zwischen dem heutigen und diesem. Das ueuelassische
habe zwei Jahrhunderte lang geherrscht, weil es so lange dem Geist der Zeiten
entsprochen habe. Es sei erst allmählich durch den im vorigen Jahrhundert
erwachenden und erstarkenden Geist der exacten Naturbeobachtung, des wissen¬
schaftlichen Experiments, der physikalischen, chemischen und physiologischen Analyse
verdrängt worden, welcher die Wirklichkeit an die Stelle der Phantasie gesetzt
und später auch die Poesie ergriffen habe. Diese Evolution des Geistes sei es,
welche sich erst in diesem Jahrhundert mit voller Macht entfalten konnte und
in der wir noch lebten, welche er mit dem Namen des Naturalismus bezeichne,
als dessen hauptsächlichsten Bahnbrecher er Diderot ansehe.

Ist diese Darstellung aber auch selbst ganz exact? Ich denke, daß die
experimentale Naturwissenschaft, wie der Kampf für die Wahrheit der Natur
und der Wirklichkeit gegen den Conventionalismus der Bühne, viel weiter zurück¬
reicht und daß dieser Kampf auf noch ganz andre Ursachen als auf sie zurückgeführt
werden muß. Schon Bacon wird als Begründer der experimentalen Natur-
wissenschaft genannt, und wenn man auch Shakespeare in seiner Verspottung des
Euphuismus und in seiner Abkehr von den Nachahmungen des altclassischen
Dramas nicht als einen Verfechter der Naturwahrheit gegen den Conventiona¬
lismus gelten lassen wollte, so wird dies doch von Moliöre jedenfalls zugegeben
werden müssen, an dessen Bestrebungen sich etwas später der Kampf für die Neueren
gegen die Alten, der Hinweis auf Shakespeare in Frankreich, sowie die hervor¬
tretende empfindsame Richtung in Dichtung und Drama anschloß. Destvuches
und Lachcmss6e, Lillo und Moore waren Vorläufer Diderots. Auch handelte
es sich in dem Kampfe gegen das alte classische Drama noch um etwas andres
als um die Naturwahrheit. Man begann zu erkennen, daß es demselben an
dem wesentlichsten Elemente des Dramatischen, an Handlung fehle, also gerade
an dem, was Zola jetzt wieder vom Drama ausgeschieden oder doch in ihm
zurückgebannt sehen möchte. Man fühlte, daß der Alexandriner eine Fessel
sür den dramatischen Ausdruck, und die höfische Etiquette eine andre sür den
der Empfindung überhaupt sei. Diderot war aber der erste, welcher erkannte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151042"/>
          <fw type="header" place="top"> Zola und der Naturalismus auf dem Theater.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1065" prev="#ID_1064"> wollen, wohin wir gehen, so ist dies allerdings nur eine Speculation, eine<lb/>
logische Folgerung von dem, was vorausging, und dem, was ist, auf das, was<lb/>
da sein wird. Dies ist mein alleiniges Vorhaben. Es ist lächerlich, mir ein<lb/>
anderes unterlegen zu wollen, mich predigend und prophezeiend aus einen Felsen<lb/>
zu stellen, mich zum Haupt einer Schule zu macheu, das mit dem lieben Gott<lb/>
auf dem Duzfuße steht." Wenn man das, was er lehre, bis auf Aristoteles<lb/>
zurückführe, so beweise man nur, daß es vortrefflich begründet sei. Auch glaube<lb/>
er in der That, daß die Natur der Kunst und der Dichtung immer zu Grunde<lb/>
gelegen, daß man fort und fort darnach gestrebt habe, derselben näher zu treten,<lb/>
in ihrer Nachahmung genauer und wahrer zu sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1066"> Gleichwohl sei ein Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem neu-<lb/>
classischen Drama, wie zwischen dem heutigen und diesem. Das ueuelassische<lb/>
habe zwei Jahrhunderte lang geherrscht, weil es so lange dem Geist der Zeiten<lb/>
entsprochen habe. Es sei erst allmählich durch den im vorigen Jahrhundert<lb/>
erwachenden und erstarkenden Geist der exacten Naturbeobachtung, des wissen¬<lb/>
schaftlichen Experiments, der physikalischen, chemischen und physiologischen Analyse<lb/>
verdrängt worden, welcher die Wirklichkeit an die Stelle der Phantasie gesetzt<lb/>
und später auch die Poesie ergriffen habe. Diese Evolution des Geistes sei es,<lb/>
welche sich erst in diesem Jahrhundert mit voller Macht entfalten konnte und<lb/>
in der wir noch lebten, welche er mit dem Namen des Naturalismus bezeichne,<lb/>
als dessen hauptsächlichsten Bahnbrecher er Diderot ansehe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1067" next="#ID_1068"> Ist diese Darstellung aber auch selbst ganz exact? Ich denke, daß die<lb/>
experimentale Naturwissenschaft, wie der Kampf für die Wahrheit der Natur<lb/>
und der Wirklichkeit gegen den Conventionalismus der Bühne, viel weiter zurück¬<lb/>
reicht und daß dieser Kampf auf noch ganz andre Ursachen als auf sie zurückgeführt<lb/>
werden muß. Schon Bacon wird als Begründer der experimentalen Natur-<lb/>
wissenschaft genannt, und wenn man auch Shakespeare in seiner Verspottung des<lb/>
Euphuismus und in seiner Abkehr von den Nachahmungen des altclassischen<lb/>
Dramas nicht als einen Verfechter der Naturwahrheit gegen den Conventiona¬<lb/>
lismus gelten lassen wollte, so wird dies doch von Moliöre jedenfalls zugegeben<lb/>
werden müssen, an dessen Bestrebungen sich etwas später der Kampf für die Neueren<lb/>
gegen die Alten, der Hinweis auf Shakespeare in Frankreich, sowie die hervor¬<lb/>
tretende empfindsame Richtung in Dichtung und Drama anschloß. Destvuches<lb/>
und Lachcmss6e, Lillo und Moore waren Vorläufer Diderots. Auch handelte<lb/>
es sich in dem Kampfe gegen das alte classische Drama noch um etwas andres<lb/>
als um die Naturwahrheit. Man begann zu erkennen, daß es demselben an<lb/>
dem wesentlichsten Elemente des Dramatischen, an Handlung fehle, also gerade<lb/>
an dem, was Zola jetzt wieder vom Drama ausgeschieden oder doch in ihm<lb/>
zurückgebannt sehen möchte. Man fühlte, daß der Alexandriner eine Fessel<lb/>
sür den dramatischen Ausdruck, und die höfische Etiquette eine andre sür den<lb/>
der Empfindung überhaupt sei. Diderot war aber der erste, welcher erkannte,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. wollen, wohin wir gehen, so ist dies allerdings nur eine Speculation, eine logische Folgerung von dem, was vorausging, und dem, was ist, auf das, was da sein wird. Dies ist mein alleiniges Vorhaben. Es ist lächerlich, mir ein anderes unterlegen zu wollen, mich predigend und prophezeiend aus einen Felsen zu stellen, mich zum Haupt einer Schule zu macheu, das mit dem lieben Gott auf dem Duzfuße steht." Wenn man das, was er lehre, bis auf Aristoteles zurückführe, so beweise man nur, daß es vortrefflich begründet sei. Auch glaube er in der That, daß die Natur der Kunst und der Dichtung immer zu Grunde gelegen, daß man fort und fort darnach gestrebt habe, derselben näher zu treten, in ihrer Nachahmung genauer und wahrer zu sein. Gleichwohl sei ein Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem neu- classischen Drama, wie zwischen dem heutigen und diesem. Das ueuelassische habe zwei Jahrhunderte lang geherrscht, weil es so lange dem Geist der Zeiten entsprochen habe. Es sei erst allmählich durch den im vorigen Jahrhundert erwachenden und erstarkenden Geist der exacten Naturbeobachtung, des wissen¬ schaftlichen Experiments, der physikalischen, chemischen und physiologischen Analyse verdrängt worden, welcher die Wirklichkeit an die Stelle der Phantasie gesetzt und später auch die Poesie ergriffen habe. Diese Evolution des Geistes sei es, welche sich erst in diesem Jahrhundert mit voller Macht entfalten konnte und in der wir noch lebten, welche er mit dem Namen des Naturalismus bezeichne, als dessen hauptsächlichsten Bahnbrecher er Diderot ansehe. Ist diese Darstellung aber auch selbst ganz exact? Ich denke, daß die experimentale Naturwissenschaft, wie der Kampf für die Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit gegen den Conventionalismus der Bühne, viel weiter zurück¬ reicht und daß dieser Kampf auf noch ganz andre Ursachen als auf sie zurückgeführt werden muß. Schon Bacon wird als Begründer der experimentalen Natur- wissenschaft genannt, und wenn man auch Shakespeare in seiner Verspottung des Euphuismus und in seiner Abkehr von den Nachahmungen des altclassischen Dramas nicht als einen Verfechter der Naturwahrheit gegen den Conventiona¬ lismus gelten lassen wollte, so wird dies doch von Moliöre jedenfalls zugegeben werden müssen, an dessen Bestrebungen sich etwas später der Kampf für die Neueren gegen die Alten, der Hinweis auf Shakespeare in Frankreich, sowie die hervor¬ tretende empfindsame Richtung in Dichtung und Drama anschloß. Destvuches und Lachcmss6e, Lillo und Moore waren Vorläufer Diderots. Auch handelte es sich in dem Kampfe gegen das alte classische Drama noch um etwas andres als um die Naturwahrheit. Man begann zu erkennen, daß es demselben an dem wesentlichsten Elemente des Dramatischen, an Handlung fehle, also gerade an dem, was Zola jetzt wieder vom Drama ausgeschieden oder doch in ihm zurückgebannt sehen möchte. Man fühlte, daß der Alexandriner eine Fessel sür den dramatischen Ausdruck, und die höfische Etiquette eine andre sür den der Empfindung überhaupt sei. Diderot war aber der erste, welcher erkannte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/320>, abgerufen am 16.01.2025.