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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater,

gleichgiltig, Meile Sais, eine berühmte Tänzerin, war die erste, welche im
vorigen Jahrhunderte den Reifrock abzuwerfen wagte, doch nicht in Paris, sondern
in London. Meile Clairon führte die römische und griechische Tracht zuerst
auf der Bühne ein. Sie trieb die Naturwahrheit so weit, daß sie als Dido,
im letzten Akte, wo sie von einem bösen Traume aus dem Bette gejagt wird, mit
nichts als dem Hemde bekleidet auf der Bühne erschien. Man ist darüber nie¬
mals hinausgegangen. Aber erst Talma war es, der das historische Kostüm
strenger auf Grund wissenschaftlicher Studien reformirte. Nicht ohne Wider¬
spruch. Als er sich zum erstenmal als Brutus neben Mad. Vestris in einem
vom Bildhauer David entworfenen Kostüm auf der Bühne zeigte, raunte ihm
diese erschrocken zu: "Aber Talma --- Ihre Arme sind nackt!" "Wie bei den
Römern," flüsterte dieser. "Aber Talma, wo sind Ihre Hosen?" "Die Römer
trugen ja keine." "Ooonoir!" murmelte indignirt Mad. Vestris, indem sie ihm
nothgedrungen die Hand beim Abgehen reichen mußte. "Loonon! wiederholt Zola --
ganz recht, das ist der reactionäre Ruf in der Kunst. Wir sind alle Ooonons,
wir ander", die wir die Wahrheit wollen! Und ganz besonders ich -- bin Ooonon!
Talma wollte ja nur die Beine, ich aber will den ganzen Menschen gezeigt
wissen. Also Qoonon! Loollon!"

Zola tritt keineswegs für die antiquarische Kostümtreue ein. Er will ja
vom historischen Drama nichts wissen. Ihm ist die Gegenwart, wie das un¬
mittelbarste Object der Beobachtung, auch der hauptsächlichste Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung. Ans gleichem Grunde giebt er hierin wohl auch
den niedern zugänglicheren Volksklassen den Vorzug. Er ist auch gegen jeden
überflüssigen Kostüm- oder Toilettenprunk. Er verlangt auch hier nur die
charakteristische Wahrheit. Er eifert gegen die Gefallsucht der Schauspielerinnen,
die hierin so vieles verderbe, indem sie das Theater zu einer Schaustellung der
Mode und der weiblichen Reize mache und an die Stelle des Interesses für die
Charaktere das der Toilette setze, was von der Journalistik nach Kräften genährt
werde. "Man wird mir hier einwerfen -- fährt er fort --, daß der Schade
nicht groß sei. Bitte sehr, der Schade ist aber groß. Unter einer nur er¬
heuchelten Realität wird hier ein Erfolg gesucht, der mit dem Kunstwerke
gar nichts zu thun hat." Auch hier will Zola die Illusion ganz von der
dramatischen Zweckmäßigkeit abhängig sehen. Selbst das Malerische engt er
und mit Recht hierauf ein. Und was das Nackte betrifft -- die Bloßstellung
der Noth und des Elends gehört mit hierher --, so sieht er wenigstens ein,
daß die Bühne nie so weit als der Roman darin gehen dürfe. Also auch hier
eine Schranke, welche er der Convention gegen die Naturwahrheit einräumen
muß. Hätte dies alles ihn nicht überzeugen sollen, daß die Convention, wie
sie ja in den verschiedenen Künsten eilte verschiedene ist, in einem bestimmten
Umfange im Wesen, in den Mitteln und in dem besondern Zwecke derselben
begründet liegen müsse? Wäre es nicht richtiger gewesen, diese geforderte und


Zola und der Naturalismus auf dem Theater,

gleichgiltig, Meile Sais, eine berühmte Tänzerin, war die erste, welche im
vorigen Jahrhunderte den Reifrock abzuwerfen wagte, doch nicht in Paris, sondern
in London. Meile Clairon führte die römische und griechische Tracht zuerst
auf der Bühne ein. Sie trieb die Naturwahrheit so weit, daß sie als Dido,
im letzten Akte, wo sie von einem bösen Traume aus dem Bette gejagt wird, mit
nichts als dem Hemde bekleidet auf der Bühne erschien. Man ist darüber nie¬
mals hinausgegangen. Aber erst Talma war es, der das historische Kostüm
strenger auf Grund wissenschaftlicher Studien reformirte. Nicht ohne Wider¬
spruch. Als er sich zum erstenmal als Brutus neben Mad. Vestris in einem
vom Bildhauer David entworfenen Kostüm auf der Bühne zeigte, raunte ihm
diese erschrocken zu: „Aber Talma -— Ihre Arme sind nackt!" „Wie bei den
Römern," flüsterte dieser. „Aber Talma, wo sind Ihre Hosen?" „Die Römer
trugen ja keine." „Ooonoir!" murmelte indignirt Mad. Vestris, indem sie ihm
nothgedrungen die Hand beim Abgehen reichen mußte. „Loonon! wiederholt Zola —
ganz recht, das ist der reactionäre Ruf in der Kunst. Wir sind alle Ooonons,
wir ander», die wir die Wahrheit wollen! Und ganz besonders ich — bin Ooonon!
Talma wollte ja nur die Beine, ich aber will den ganzen Menschen gezeigt
wissen. Also Qoonon! Loollon!"

Zola tritt keineswegs für die antiquarische Kostümtreue ein. Er will ja
vom historischen Drama nichts wissen. Ihm ist die Gegenwart, wie das un¬
mittelbarste Object der Beobachtung, auch der hauptsächlichste Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung. Ans gleichem Grunde giebt er hierin wohl auch
den niedern zugänglicheren Volksklassen den Vorzug. Er ist auch gegen jeden
überflüssigen Kostüm- oder Toilettenprunk. Er verlangt auch hier nur die
charakteristische Wahrheit. Er eifert gegen die Gefallsucht der Schauspielerinnen,
die hierin so vieles verderbe, indem sie das Theater zu einer Schaustellung der
Mode und der weiblichen Reize mache und an die Stelle des Interesses für die
Charaktere das der Toilette setze, was von der Journalistik nach Kräften genährt
werde. „Man wird mir hier einwerfen — fährt er fort —, daß der Schade
nicht groß sei. Bitte sehr, der Schade ist aber groß. Unter einer nur er¬
heuchelten Realität wird hier ein Erfolg gesucht, der mit dem Kunstwerke
gar nichts zu thun hat." Auch hier will Zola die Illusion ganz von der
dramatischen Zweckmäßigkeit abhängig sehen. Selbst das Malerische engt er
und mit Recht hierauf ein. Und was das Nackte betrifft — die Bloßstellung
der Noth und des Elends gehört mit hierher —, so sieht er wenigstens ein,
daß die Bühne nie so weit als der Roman darin gehen dürfe. Also auch hier
eine Schranke, welche er der Convention gegen die Naturwahrheit einräumen
muß. Hätte dies alles ihn nicht überzeugen sollen, daß die Convention, wie
sie ja in den verschiedenen Künsten eilte verschiedene ist, in einem bestimmten
Umfange im Wesen, in den Mitteln und in dem besondern Zwecke derselben
begründet liegen müsse? Wäre es nicht richtiger gewesen, diese geforderte und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/317>, abgerufen am 16.01.2025.