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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die Reichstagswahlen und der Reichskanzler.

wohl er bei verschiedenen Gelegenheiten ein nicht verächtliches Talent bekundet
hat, neben der Erinnerung an den Riesen wie ein Zwerg erscheinen. Und
nun gar die großen Lichter der parlamentarischen Fractionen! Welcher Ver¬
ständige glaubt an ihre Befähigung, seine Erbschaft anzutreten? Man mache
die Probe. Man versuche es, sich, ohne eine Miene zu verziehen, Herrn Windt-
horst als Reichskanzler vorzustellen -- es wird schwer halten. Man stelle sich
Herrn v. Bennigsen auf diesem Posten vor -- bei aller Anerkennung der guten
Eigenschaften des Führers der Nationalliberalen wird man unwillkürlich die
Achseln zucken. Man lasse Herrn Eugen Richter oder Herrn Professor Virchow
in Gedanken in das Palais neben dem Auswärtigen Amte einziehen, und man
würde sich selbst dann, wenn hinter diesen Politikern von der traurigen Gestalt
eine starke Majorität stände, sofort sagen müssen, die ärgste Absurdität gedacht
und im Traume das lächerlichste aller Wunder vollbracht, die unglaublichste
Monstrosität erschaffen zu haben.

Aber dazu kommt noch, daß keine einzige der Fractionen, deren Haupt-
führer wir nannten, im neuen Reichstage die Mehrheit haben wird, die ein
Reichskanzler aus ihrer Mitte als constitutioneller Minister bedürfte. Das
radicale Element hat auf dem Gebiete des gemäßigten Liberalismus, der bei
seiner zusammengesetzten, zwiespältigen, schwankenden Natur in Zeiten, wo die
Gegensätze stark erregt sind, stets besonders gefährdet ist, Eroberungen gemacht,
aber die Nationalliberalen und die Freiconservativen haben auch an die weiter
rechtsstehenden Konservativen und das Centrum Stimmen abtreten müssen.
Secession und Fortschritt werden zusammen einige neunzig Mandate gewonnen
haben, die absolute Majorität aber beträgt 199. Wäre es so denkbar, wie es
vorläufig undenkbar ist, daß die "große liberale Partei" sich bildete, von der
die Redner und Blätter des radicalen Liberalismus träumen, wäre eine Fusion
der Nationalliberalen mit den so gut wie schon zusammengeflossenen Secessionisten
und Fortschrittsleuten möglich, und wäre der Bund für haltbarer anzusehen,
als der metallene König in Goethes Märchen, der so kläglich zerfiel, als die
Schlange ihm die goldnen Adern herausleckte, so fehlten der liberalen Union
doch immer noch mehr als ein halbes hundert Stimmen an jener Majorität,
und ein Ministerium Bennigsen, in dem Herr Eugen Richter ein Portefeuille
hätte, wäre eine Unmöglichkeit. Wenigstens würde es bei jeder Abstimmung
der Opposition der Konservativen und des Centrums begegnen und eine Nieder¬
lage erleiden. Schon bei der ersten aber müßte es, dem Grundsatze des Parla¬
mentarismus getreu, den die Herren bekennen, den Kaiser um seinen Abschied
bitten, wenn es nicht von sich abweisen wollte, was es von andern fordert.

Mit der großen liberalen Partei hat es also gute Wege, und kommt sie
doch einmal zusammen, so hat sie, selbst wenn wir uns mit ihr noch einige
kleine liberale Gruppen und etliche sich außerhalb der Fractionsverbände haltende
Abgeordnete verbunden vorstellen, noch lange nicht die Majorität. Die Majorität


Die Reichstagswahlen und der Reichskanzler.

wohl er bei verschiedenen Gelegenheiten ein nicht verächtliches Talent bekundet
hat, neben der Erinnerung an den Riesen wie ein Zwerg erscheinen. Und
nun gar die großen Lichter der parlamentarischen Fractionen! Welcher Ver¬
ständige glaubt an ihre Befähigung, seine Erbschaft anzutreten? Man mache
die Probe. Man versuche es, sich, ohne eine Miene zu verziehen, Herrn Windt-
horst als Reichskanzler vorzustellen — es wird schwer halten. Man stelle sich
Herrn v. Bennigsen auf diesem Posten vor — bei aller Anerkennung der guten
Eigenschaften des Führers der Nationalliberalen wird man unwillkürlich die
Achseln zucken. Man lasse Herrn Eugen Richter oder Herrn Professor Virchow
in Gedanken in das Palais neben dem Auswärtigen Amte einziehen, und man
würde sich selbst dann, wenn hinter diesen Politikern von der traurigen Gestalt
eine starke Majorität stände, sofort sagen müssen, die ärgste Absurdität gedacht
und im Traume das lächerlichste aller Wunder vollbracht, die unglaublichste
Monstrosität erschaffen zu haben.

Aber dazu kommt noch, daß keine einzige der Fractionen, deren Haupt-
führer wir nannten, im neuen Reichstage die Mehrheit haben wird, die ein
Reichskanzler aus ihrer Mitte als constitutioneller Minister bedürfte. Das
radicale Element hat auf dem Gebiete des gemäßigten Liberalismus, der bei
seiner zusammengesetzten, zwiespältigen, schwankenden Natur in Zeiten, wo die
Gegensätze stark erregt sind, stets besonders gefährdet ist, Eroberungen gemacht,
aber die Nationalliberalen und die Freiconservativen haben auch an die weiter
rechtsstehenden Konservativen und das Centrum Stimmen abtreten müssen.
Secession und Fortschritt werden zusammen einige neunzig Mandate gewonnen
haben, die absolute Majorität aber beträgt 199. Wäre es so denkbar, wie es
vorläufig undenkbar ist, daß die „große liberale Partei" sich bildete, von der
die Redner und Blätter des radicalen Liberalismus träumen, wäre eine Fusion
der Nationalliberalen mit den so gut wie schon zusammengeflossenen Secessionisten
und Fortschrittsleuten möglich, und wäre der Bund für haltbarer anzusehen,
als der metallene König in Goethes Märchen, der so kläglich zerfiel, als die
Schlange ihm die goldnen Adern herausleckte, so fehlten der liberalen Union
doch immer noch mehr als ein halbes hundert Stimmen an jener Majorität,
und ein Ministerium Bennigsen, in dem Herr Eugen Richter ein Portefeuille
hätte, wäre eine Unmöglichkeit. Wenigstens würde es bei jeder Abstimmung
der Opposition der Konservativen und des Centrums begegnen und eine Nieder¬
lage erleiden. Schon bei der ersten aber müßte es, dem Grundsatze des Parla¬
mentarismus getreu, den die Herren bekennen, den Kaiser um seinen Abschied
bitten, wenn es nicht von sich abweisen wollte, was es von andern fordert.

Mit der großen liberalen Partei hat es also gute Wege, und kommt sie
doch einmal zusammen, so hat sie, selbst wenn wir uns mit ihr noch einige
kleine liberale Gruppen und etliche sich außerhalb der Fractionsverbände haltende
Abgeordnete verbunden vorstellen, noch lange nicht die Majorität. Die Majorität


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/310>, abgerufen am 16.01.2025.