Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Zola und der Naturalismus auf dem Theater. gleichen. Die Tradition ist so entscheidend dabei, daß es niemand mehr stört; Grenzboten IV. 1881. 38
Zola und der Naturalismus auf dem Theater. gleichen. Die Tradition ist so entscheidend dabei, daß es niemand mehr stört; Grenzboten IV. 1881. 38
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0299" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151021"/> <fw type="header" place="top"> Zola und der Naturalismus auf dem Theater.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1010" prev="#ID_1009" next="#ID_1011"> gleichen. Die Tradition ist so entscheidend dabei, daß es niemand mehr stört;<lb/> im Gegentheil ist man bestürzt, man schreit über Lüge und Scandal, wenn<lb/> jemand auf diesen Widerspruch hinweist und die Prätension erhebt, daß aus der<lb/> gesellschaftlichen und der literarischen Bewegung dieselbe Lebensansicht hervortreten<lb/> soll." Dies ist ebenfalls wieder nicht ohne Wahrheit. Wie viele der auf<lb/> unsern Theatern hochtrabenden und hochtönenden Empfindungen sind nicht<lb/> erheuchelt, geschminkt und ebenso verlogen und auf den bloßen Effect gemacht<lb/> wie die schnellen Besserungen, die übertriebenen Tugenden und die Moral über¬<lb/> haupt. Gleichwohl werden sie fast immer vom Publicum und von der Kritik<lb/> für baare Münze genommen, mit Rührung empfangen, mit Beifall und Lob<lb/> überschüttet. Allein Zolas Angriff ist nicht sowohl gegen diesen Mißbrauch der<lb/> Moral, gegen diese Unterschiebung der falschen sür die echte, als auf etwas<lb/> ganz andres gerichtet. Er findet, daß auf der Bühne und von denselben Per¬<lb/> sonen, sowie vom Publicum eine ganz andre Moral gefeiert als im Leben ver¬<lb/> folgt werde. Dies ist, soweit es der Fall, gewiß eine recht klägliche Erfahrung.<lb/> Ist es denn aber immer der Fall und hat es mit der Beschaffenheit des Kunst¬<lb/> werkes selbst schon zu thun? Die Frage ist nicht, ob die Moral des Stückes<lb/> der des Dichters entspricht, sondern nur, ob sie selbst lebendig, echt und wahr<lb/> oder ein leerer Flitter, verlogen und leblos ist. Und ist die Moral des Lebens<lb/> denn immer nur eine? Kommt die, welche die Bühne darstellt — ich meine<lb/> jetzt nicht die gefälschte, sondern die echte —, denn wirklich niemals im Leben<lb/> vor? oder kann sie, ja sollte sie wenigstens nicht darin vorkommen? Soll es<lb/> mir, weil im Leben eine Moral, die ich für verwerflich halte, die herrschende<lb/> ist, benommen sein, ihr diejenige gegenüberzustellen, die ich für die bessere lind<lb/> wahre erachte? Zola, der an andrer Stelle vor allem eine größere Freiheit der<lb/> Bühne, den Abbruch aller ihrer Conventionen verlangt, nicht nur der unbe¬<lb/> rechtigten, sondern selbst noch der in ihrer Natur und ihrem Wesen begründeten,<lb/> will also nichts als eine neue Convention an die Stelle der alten setzen. Er<lb/> nennt die Bühnenmoral schon deshalb eine conventionelle, weil sie der im Leben<lb/> gerade herrschenden widerspricht. Er will dafür diese an ihre Stelle gesetzt<lb/> wissen, obschon sie eine falsche, schädliche, verwerfliche und keineswegs auch im<lb/> Leben die einzige ist, sondern es jedenfalls eine andre giebt, die gewünscht und<lb/> erstrebt werden sollte. Die Bühne soll ein Spiegel des Lebens sein. Gewiß!<lb/> Aber nicht wie dieses sich zufällig irgendwo realisirt, denn sie hat einem be¬<lb/> stimmten Zweck zu entsprechen. Sie soll der Schmach ihr eignes Bild, aber<lb/> nicht ihr allein, sondern auch der Tugend ihre eignen Züge entgegenhalten. Ich<lb/> glaube nicht, daß Laster und Tugend zu allen Zeiten gleichmäßig vertheilt waren,<lb/> und bin nicht Pessimist genug, um annehmen zu können, daß es nicht schlechtere<lb/> Zeiten als die unseren gab, und diese fast aller Tugend verlustig gegangen sein<lb/> sollte. Und doch würde dies aus den von Zola für seine Behauptung beige¬<lb/> brachten Beispielen zu schließen sein. Auch trifft sein Angriff überhaupt nur</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1881. 38</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0299]
Zola und der Naturalismus auf dem Theater.
gleichen. Die Tradition ist so entscheidend dabei, daß es niemand mehr stört;
im Gegentheil ist man bestürzt, man schreit über Lüge und Scandal, wenn
jemand auf diesen Widerspruch hinweist und die Prätension erhebt, daß aus der
gesellschaftlichen und der literarischen Bewegung dieselbe Lebensansicht hervortreten
soll." Dies ist ebenfalls wieder nicht ohne Wahrheit. Wie viele der auf
unsern Theatern hochtrabenden und hochtönenden Empfindungen sind nicht
erheuchelt, geschminkt und ebenso verlogen und auf den bloßen Effect gemacht
wie die schnellen Besserungen, die übertriebenen Tugenden und die Moral über¬
haupt. Gleichwohl werden sie fast immer vom Publicum und von der Kritik
für baare Münze genommen, mit Rührung empfangen, mit Beifall und Lob
überschüttet. Allein Zolas Angriff ist nicht sowohl gegen diesen Mißbrauch der
Moral, gegen diese Unterschiebung der falschen sür die echte, als auf etwas
ganz andres gerichtet. Er findet, daß auf der Bühne und von denselben Per¬
sonen, sowie vom Publicum eine ganz andre Moral gefeiert als im Leben ver¬
folgt werde. Dies ist, soweit es der Fall, gewiß eine recht klägliche Erfahrung.
Ist es denn aber immer der Fall und hat es mit der Beschaffenheit des Kunst¬
werkes selbst schon zu thun? Die Frage ist nicht, ob die Moral des Stückes
der des Dichters entspricht, sondern nur, ob sie selbst lebendig, echt und wahr
oder ein leerer Flitter, verlogen und leblos ist. Und ist die Moral des Lebens
denn immer nur eine? Kommt die, welche die Bühne darstellt — ich meine
jetzt nicht die gefälschte, sondern die echte —, denn wirklich niemals im Leben
vor? oder kann sie, ja sollte sie wenigstens nicht darin vorkommen? Soll es
mir, weil im Leben eine Moral, die ich für verwerflich halte, die herrschende
ist, benommen sein, ihr diejenige gegenüberzustellen, die ich für die bessere lind
wahre erachte? Zola, der an andrer Stelle vor allem eine größere Freiheit der
Bühne, den Abbruch aller ihrer Conventionen verlangt, nicht nur der unbe¬
rechtigten, sondern selbst noch der in ihrer Natur und ihrem Wesen begründeten,
will also nichts als eine neue Convention an die Stelle der alten setzen. Er
nennt die Bühnenmoral schon deshalb eine conventionelle, weil sie der im Leben
gerade herrschenden widerspricht. Er will dafür diese an ihre Stelle gesetzt
wissen, obschon sie eine falsche, schädliche, verwerfliche und keineswegs auch im
Leben die einzige ist, sondern es jedenfalls eine andre giebt, die gewünscht und
erstrebt werden sollte. Die Bühne soll ein Spiegel des Lebens sein. Gewiß!
Aber nicht wie dieses sich zufällig irgendwo realisirt, denn sie hat einem be¬
stimmten Zweck zu entsprechen. Sie soll der Schmach ihr eignes Bild, aber
nicht ihr allein, sondern auch der Tugend ihre eignen Züge entgegenhalten. Ich
glaube nicht, daß Laster und Tugend zu allen Zeiten gleichmäßig vertheilt waren,
und bin nicht Pessimist genug, um annehmen zu können, daß es nicht schlechtere
Zeiten als die unseren gab, und diese fast aller Tugend verlustig gegangen sein
sollte. Und doch würde dies aus den von Zola für seine Behauptung beige¬
brachten Beispielen zu schließen sein. Auch trifft sein Angriff überhaupt nur
Grenzboten IV. 1881. 38
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |