Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Ein nationales Biihnensxiel etwas viel andres schaffen? Und hat nicht der Dichter augenscheinlich nicht bloß Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß von der ge- Ein nationales Biihnensxiel etwas viel andres schaffen? Und hat nicht der Dichter augenscheinlich nicht bloß Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß von der ge- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151003"/> <fw type="header" place="top"> Ein nationales Biihnensxiel</fw><lb/> <p xml:id="ID_942" prev="#ID_941"> etwas viel andres schaffen? Und hat nicht der Dichter augenscheinlich nicht bloß<lb/> ein sehr anspruchsloses Publicum — denn der österreichische Student steht un¬<lb/> gefähr auf derselbe» Stufe wie ein Primaner oder selbst wie ein guter Secun-<lb/> daner eines norddeutschen Gymnasiums —, sondern auch sehr unentwickelte schau¬<lb/> spielerische Kräfte im Auge gehabt? Gewiß ist das zu berücksichtigen. Namentlich<lb/> der letztere Umstand tritt sehr auffällig und in fast komischer Weise im Stücke<lb/> hervor. Wo irgend über die Betonung einer Zeile Zweifel entstehen kann und<lb/> oft selbst da, wo keiner entstehen kann, hat der Dichter ängstlich durch gesperrten<lb/> Druck für die richtige Auffassung Sorge getragen. Dabei ist es ihm in der Eile<lb/> sogar begegnet, daß er ein paarmal selber die Betonung an falsche Stellen ge¬<lb/> bracht hat, z. B. S. 23: „Sie sollten sich nicht necken lassen," S. 65: „Was<lb/> willst Du hier?", wo doch jeder mit richtigem Gefühl begabte Mensch sprechen<lb/> würde: „Sie sollten sich nicht necken lassen" (denn auf dem Gegensatz von necken<lb/> und sich necken lassen beruht die Pointe der Stelle) und „Was willst Du hier?"<lb/> Ebenso auffällig sind die unzähligen Anweisungen für den Vortrag, die der<lb/> Dichter giebt. Die arme Justine z. B. hat allein in der ersten Scene in Zeit<lb/> von etwa zwei Minuten komisch ärgerlich, ärgerlich, komisch verächtlich, schalk¬<lb/> haft, selbstbewußt bedeutungsvoll, vielsagend, boshaft anspielend, hell auflachend,<lb/> komisch weinerlich, feierlich, aufhorchend, ironisch seufzend und endlich drastisch zu<lb/> sprechen, und ähnlich alle übrigen Figuren durch das ganze Stück hindurch. Dies<lb/> alles deutet ohne Zweifel auf höchst vorauSsctzungslose Kreise. Aber warum —<lb/> und damit berühren wir den Hauptpunkt unsrer ganzen Besprechung — warum<lb/> ist das Stück nicht auf diese Kreise beschränkt geblieben? Wir glauben es herz¬<lb/> lich gern, daß es in Czernowitz „mit durchgreifenden Erfolge" über die Welt-<lb/> bedeutenden Bretter gegangen ist, aber mußte es denn — gedruckt und als<lb/> „nationales Bühnenspiel" in die Welt geschickt werden?</p><lb/> <p xml:id="ID_943"> Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß von der ge-<lb/> sammten belletristischen Literatur, die jetzt in Deutschland erscheint, getrost die<lb/> Hälfte ungedruckt bleiben könnte. Die Redaction einer Wochenschrift, auf deren<lb/> Tisch sich allmonatlich eine ganze Fluth von Romanen, Novellen, Dramen, ly¬<lb/> rischen und erzählenden Gedichten einstellt, kann ein Lied davon singen. Wer<lb/> trägt die Schuld an dieser für unser Volk wenig ruhmvollen Ueberproduction?<lb/> Der Buchhandel ebensowohl wie die Kritik. Daß auch in unsern bessern popu¬<lb/> lären Wochen- und Monatsschriften — ganz zu schweigen von der localen Tages¬<lb/> presse — die Kritik gegenwärtig viel zu lax gehandhabt wird, theils absichtlich<lb/> von gewissenlosen, theils unabsichtlich von urtheilslosen Leuten, darüber herrscht<lb/> Wohl unter Verständigen nur eine Stimme. Nun Wohl, die Kritik, welche aus¬<lb/> bleibt, nachdem die Bücher gedruckt sind, sollte ihre Schuldigkeit thun, ehe<lb/> sie gedruckt werden; mit andern Worten: der Vcrlagsbuchhcmdcl sollte nichts<lb/> in die Oeffentlichkeit bringen, ohne sich vorher über den Werth der Sache ge¬<lb/> hörig informire zu haben.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0281]
Ein nationales Biihnensxiel
etwas viel andres schaffen? Und hat nicht der Dichter augenscheinlich nicht bloß
ein sehr anspruchsloses Publicum — denn der österreichische Student steht un¬
gefähr auf derselbe» Stufe wie ein Primaner oder selbst wie ein guter Secun-
daner eines norddeutschen Gymnasiums —, sondern auch sehr unentwickelte schau¬
spielerische Kräfte im Auge gehabt? Gewiß ist das zu berücksichtigen. Namentlich
der letztere Umstand tritt sehr auffällig und in fast komischer Weise im Stücke
hervor. Wo irgend über die Betonung einer Zeile Zweifel entstehen kann und
oft selbst da, wo keiner entstehen kann, hat der Dichter ängstlich durch gesperrten
Druck für die richtige Auffassung Sorge getragen. Dabei ist es ihm in der Eile
sogar begegnet, daß er ein paarmal selber die Betonung an falsche Stellen ge¬
bracht hat, z. B. S. 23: „Sie sollten sich nicht necken lassen," S. 65: „Was
willst Du hier?", wo doch jeder mit richtigem Gefühl begabte Mensch sprechen
würde: „Sie sollten sich nicht necken lassen" (denn auf dem Gegensatz von necken
und sich necken lassen beruht die Pointe der Stelle) und „Was willst Du hier?"
Ebenso auffällig sind die unzähligen Anweisungen für den Vortrag, die der
Dichter giebt. Die arme Justine z. B. hat allein in der ersten Scene in Zeit
von etwa zwei Minuten komisch ärgerlich, ärgerlich, komisch verächtlich, schalk¬
haft, selbstbewußt bedeutungsvoll, vielsagend, boshaft anspielend, hell auflachend,
komisch weinerlich, feierlich, aufhorchend, ironisch seufzend und endlich drastisch zu
sprechen, und ähnlich alle übrigen Figuren durch das ganze Stück hindurch. Dies
alles deutet ohne Zweifel auf höchst vorauSsctzungslose Kreise. Aber warum —
und damit berühren wir den Hauptpunkt unsrer ganzen Besprechung — warum
ist das Stück nicht auf diese Kreise beschränkt geblieben? Wir glauben es herz¬
lich gern, daß es in Czernowitz „mit durchgreifenden Erfolge" über die Welt-
bedeutenden Bretter gegangen ist, aber mußte es denn — gedruckt und als
„nationales Bühnenspiel" in die Welt geschickt werden?
Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß von der ge-
sammten belletristischen Literatur, die jetzt in Deutschland erscheint, getrost die
Hälfte ungedruckt bleiben könnte. Die Redaction einer Wochenschrift, auf deren
Tisch sich allmonatlich eine ganze Fluth von Romanen, Novellen, Dramen, ly¬
rischen und erzählenden Gedichten einstellt, kann ein Lied davon singen. Wer
trägt die Schuld an dieser für unser Volk wenig ruhmvollen Ueberproduction?
Der Buchhandel ebensowohl wie die Kritik. Daß auch in unsern bessern popu¬
lären Wochen- und Monatsschriften — ganz zu schweigen von der localen Tages¬
presse — die Kritik gegenwärtig viel zu lax gehandhabt wird, theils absichtlich
von gewissenlosen, theils unabsichtlich von urtheilslosen Leuten, darüber herrscht
Wohl unter Verständigen nur eine Stimme. Nun Wohl, die Kritik, welche aus¬
bleibt, nachdem die Bücher gedruckt sind, sollte ihre Schuldigkeit thun, ehe
sie gedruckt werden; mit andern Worten: der Vcrlagsbuchhcmdcl sollte nichts
in die Oeffentlichkeit bringen, ohne sich vorher über den Werth der Sache ge¬
hörig informire zu haben.
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