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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

sich dort gut unterhalten, es muß ganz herrlich zu sehen sein." Worauf sie
ohne Zweifel erwiedern würden: "Wohl möglich, daß es euch unterhalten und
interessiren würde, aber darum handelt es sich bei uns ja gar nicht. Wir sind
die Wächter der Würde der französischen Muse."

So hoch aber Victor Hugo Shakespeare auch schätzte, so empfahl er doch
keineswegs, ihn unmittelbar nachzuahmen. "Der Poet muß sich vielmehr hüten,
irgendwen nachzuahmen, gleichviel ob es Shakespeare oder Moliöre, Schiller
oder Corneille ist. Wenn das wahre Talent so seiner eignen Natur sich ein¬
schlagen, seine Eigenthümlichkeit aufgeben könnte, um sich in eine andere zu
verwandeln, so würde es wohl die Rolle des Sosias spielen, aber alles ver¬
lieren. Der Gott würde sich zum Diener erniedrigt haben. Man muß aus
der ursprünglichsten Quelle schöpfen. Es ist dieselbe im Erdboden verbreitete
Triebkraft, welche alle Bäume des Waldes hervorbringt, so verschieden ihr Wuchs,
ihre Früchte, ihre Blätter auch siud. Es ist dieselbe Natur, welche die ver¬
schiedensten Geister befruchtet und nährt."

"Es ist die Natur, um die es sich handelt. Um die Natur und die Wahr¬
heit! Die Wahrheit der Kunst kann freilich nie in der Natur sein. Die ab¬
solute Wirklichkeit kann ja die Kunst nicht hervorbringen. Sie soll die Natur
mir spiegeln. Wäre dieser Spiegel freilich nur einfach und glatt, so würde das,
was er giebt, unendlich gegen die Natur zurückstehen müssen. Das Drama muß
daher ein concentrischer Spiegel sein, der aus dem Leuchtpunkt ein Licht, aus
dem Licht eine Flamme macht."

"Nicht das Schöne soll der dramatische Dichter zu seinem Endziele wählen,
sondern das Charakteristische. Das Drama soll durchtränkt von der Farbe der
Zeit erscheinen, die er schildert, doch darf diese Farbe nicht bloß äußerlich auf¬
getragen sein, sie muß ihren Ursprung im Innersten, im Herzen des Werks selber
haben, von wo sie natürlich und gleichmüßig alle Einzelheiten durchdringen soll.
Was das Drama hauptsächlich zu meiden hat, ist das Gemeine. Was aber dadurch
erreicht wird, daß man jede Figur auf ihre individuellsten, treffendsten Züge
zurückführt."

"Legen wir also -- heißt es an einer andern Stelle -- den Hammer an
die Theorien, Poetiken und Systeme. Brechen wir diese alten Gerüste ab, welche
die Fa?abe der Kunst maskircn. Es giebt weder Regeln noch Modelle! Oder
vielmehr, es giebt keine andern Regeln als die allgemeinen Gesetze der Natur,
die sich auf die Kunst im ganzen beziehen, und die besondern Gesetze, welche
für jede Composition aus den jedem Gegenstände eignen Daseinsbedingungen
entspringen. Die einen sind ewig, innerlich, dauernd, die andern veränderlich,
äußerlich und nur einmal zu brauchen. Jene sind das Gebälk, welches das
Gebäude trägt, diese das Gerüst, welches man zu seinem Aufbau bedürfte und
welches man zu jedem Gebäude neu zimmert. Jeue sind das Knochengerüst,
diese nur die Umkleidung des'Dramas."


Shakespeare in Frankreich.

sich dort gut unterhalten, es muß ganz herrlich zu sehen sein." Worauf sie
ohne Zweifel erwiedern würden: „Wohl möglich, daß es euch unterhalten und
interessiren würde, aber darum handelt es sich bei uns ja gar nicht. Wir sind
die Wächter der Würde der französischen Muse."

So hoch aber Victor Hugo Shakespeare auch schätzte, so empfahl er doch
keineswegs, ihn unmittelbar nachzuahmen. „Der Poet muß sich vielmehr hüten,
irgendwen nachzuahmen, gleichviel ob es Shakespeare oder Moliöre, Schiller
oder Corneille ist. Wenn das wahre Talent so seiner eignen Natur sich ein¬
schlagen, seine Eigenthümlichkeit aufgeben könnte, um sich in eine andere zu
verwandeln, so würde es wohl die Rolle des Sosias spielen, aber alles ver¬
lieren. Der Gott würde sich zum Diener erniedrigt haben. Man muß aus
der ursprünglichsten Quelle schöpfen. Es ist dieselbe im Erdboden verbreitete
Triebkraft, welche alle Bäume des Waldes hervorbringt, so verschieden ihr Wuchs,
ihre Früchte, ihre Blätter auch siud. Es ist dieselbe Natur, welche die ver¬
schiedensten Geister befruchtet und nährt."

„Es ist die Natur, um die es sich handelt. Um die Natur und die Wahr¬
heit! Die Wahrheit der Kunst kann freilich nie in der Natur sein. Die ab¬
solute Wirklichkeit kann ja die Kunst nicht hervorbringen. Sie soll die Natur
mir spiegeln. Wäre dieser Spiegel freilich nur einfach und glatt, so würde das,
was er giebt, unendlich gegen die Natur zurückstehen müssen. Das Drama muß
daher ein concentrischer Spiegel sein, der aus dem Leuchtpunkt ein Licht, aus
dem Licht eine Flamme macht."

„Nicht das Schöne soll der dramatische Dichter zu seinem Endziele wählen,
sondern das Charakteristische. Das Drama soll durchtränkt von der Farbe der
Zeit erscheinen, die er schildert, doch darf diese Farbe nicht bloß äußerlich auf¬
getragen sein, sie muß ihren Ursprung im Innersten, im Herzen des Werks selber
haben, von wo sie natürlich und gleichmüßig alle Einzelheiten durchdringen soll.
Was das Drama hauptsächlich zu meiden hat, ist das Gemeine. Was aber dadurch
erreicht wird, daß man jede Figur auf ihre individuellsten, treffendsten Züge
zurückführt."

„Legen wir also — heißt es an einer andern Stelle — den Hammer an
die Theorien, Poetiken und Systeme. Brechen wir diese alten Gerüste ab, welche
die Fa?abe der Kunst maskircn. Es giebt weder Regeln noch Modelle! Oder
vielmehr, es giebt keine andern Regeln als die allgemeinen Gesetze der Natur,
die sich auf die Kunst im ganzen beziehen, und die besondern Gesetze, welche
für jede Composition aus den jedem Gegenstände eignen Daseinsbedingungen
entspringen. Die einen sind ewig, innerlich, dauernd, die andern veränderlich,
äußerlich und nur einmal zu brauchen. Jene sind das Gebälk, welches das
Gebäude trägt, diese das Gerüst, welches man zu seinem Aufbau bedürfte und
welches man zu jedem Gebäude neu zimmert. Jeue sind das Knochengerüst,
diese nur die Umkleidung des'Dramas."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/26>, abgerufen am 15.01.2025.