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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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den letzten Grund der Erkenntniß aufzudecken; dieser wird nur durch ein Studium
der Gesetze des Empfindens und Denkens in uns und die Anknüpfung aller Er¬
scheinungen an diese Gesetze erreicht. Herrscht die transcendentale Aesthetik und Logik
in unserm Denken und Empfinden als bestimmende Macht, so kann auch die Welt
der Erfahrung niemals etwas enthalten, was den Gesetzen derselben widerspräche.
Infolge dessen ist es möglich, aus der Natur des Erkenntnißvermögens, welches
unsre Wahrnehmungen beherrscht, eine Reihe von Principien zu entwickeln, die
absolute Giltigkeit für die ganze Natur haben müssen, weil ihre Erkenntniß auf
Wahrnehmung beruht. Z. B. alle Erscheinungen sind den Gesetzen der Mathe¬
matik unterworfen, d. h. sie sind extensive und intensive Größen; die Summe
der Substanzen wird weder vermehrt noch vermindert; alle Erscheinungen haben
eine Ursache, alle stehen in Wechselwirkung mit einander; was mit den formalen
Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich, darum darf man keine
Hypothesen aufstellen, die diese Bedingung nicht erfüllen; was empfunden wird,
ist wirklich; dasjenige, dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allge¬
meinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist nothwendig, d. h. die Er¬
kenntniß desselben ist das wirklich befriedigende Ziel aller Wissenschaft. Infolge
davon kann es keinen leeren Raum und keine Atome geben, keine zusammenhang¬
losen zufälligen Erscheinungen ohne Ursache und keine Räthsel der Natur, deren
Grund aufzuhellen die Fähigkeiten des menschlichen Erkenntnißvermögens über¬
stiege.

Während fo auf der eiuen Seite durch die "Kritik der reinen Vernunft" unser
Blick auf die Natur geschärft und unser Muth zur vollendeten Erkenntniß der¬
selben durch die Hilfe der bedeutendsten pfcidfindendcn Mittel und Waffen ge¬
steigert wird, ist zu gleicher Zeit festgestellt als ursprüngliche Bedingung zur
Möglichkeit jeder Erfahrung, das, was die Naturforscher bis auf den heutigen
Tag bezweifeln und nicht begreifen wollen, und was bisher höchstens von Pä¬
dagogen und Theologen ausgesprochen ist, daß die Welt der sinnlichen Erschei¬
nungen nur dadurch für uns einen Werth habe, daß eine höhere geistige Welt
ihr zu Grunde liegt und sie möglich macht. Es wird also jeder principielle
Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgehoben und nach allen
Richtungen die freieste Bahn eröffnet, um in voller Harmonie aller einzelnen
Wissenschaften mit einander eine vollständige Befriedigung der menschlichen Ver¬
nunft in allen gesunden Bestrebungen erreichen zu können. Probleme, die nicht
zu lösen wären, sind nach diesen grundlegenden Arbeiten in der Welt der ge¬
stimmten Erfahrung nicht möglich, so lange sie nicht den Principien der Erfah¬
rung überhaupt widersprechen. Nur dann, wenn weder innere noch äußere An¬
schauung mehr irgendwelches Material zur wissenschaftlichen Erkenntniß liefern,
dann ist es vergeblich, weiter zu fragen. Die Gedanken können natürlich in
zuchtloser Freiheit auch diese Grenze beliebig überschreiten, aber eine Antwort
auf ihre Fragen dürfen sie nicht mehr erwarten.


den letzten Grund der Erkenntniß aufzudecken; dieser wird nur durch ein Studium
der Gesetze des Empfindens und Denkens in uns und die Anknüpfung aller Er¬
scheinungen an diese Gesetze erreicht. Herrscht die transcendentale Aesthetik und Logik
in unserm Denken und Empfinden als bestimmende Macht, so kann auch die Welt
der Erfahrung niemals etwas enthalten, was den Gesetzen derselben widerspräche.
Infolge dessen ist es möglich, aus der Natur des Erkenntnißvermögens, welches
unsre Wahrnehmungen beherrscht, eine Reihe von Principien zu entwickeln, die
absolute Giltigkeit für die ganze Natur haben müssen, weil ihre Erkenntniß auf
Wahrnehmung beruht. Z. B. alle Erscheinungen sind den Gesetzen der Mathe¬
matik unterworfen, d. h. sie sind extensive und intensive Größen; die Summe
der Substanzen wird weder vermehrt noch vermindert; alle Erscheinungen haben
eine Ursache, alle stehen in Wechselwirkung mit einander; was mit den formalen
Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich, darum darf man keine
Hypothesen aufstellen, die diese Bedingung nicht erfüllen; was empfunden wird,
ist wirklich; dasjenige, dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allge¬
meinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist nothwendig, d. h. die Er¬
kenntniß desselben ist das wirklich befriedigende Ziel aller Wissenschaft. Infolge
davon kann es keinen leeren Raum und keine Atome geben, keine zusammenhang¬
losen zufälligen Erscheinungen ohne Ursache und keine Räthsel der Natur, deren
Grund aufzuhellen die Fähigkeiten des menschlichen Erkenntnißvermögens über¬
stiege.

Während fo auf der eiuen Seite durch die „Kritik der reinen Vernunft" unser
Blick auf die Natur geschärft und unser Muth zur vollendeten Erkenntniß der¬
selben durch die Hilfe der bedeutendsten pfcidfindendcn Mittel und Waffen ge¬
steigert wird, ist zu gleicher Zeit festgestellt als ursprüngliche Bedingung zur
Möglichkeit jeder Erfahrung, das, was die Naturforscher bis auf den heutigen
Tag bezweifeln und nicht begreifen wollen, und was bisher höchstens von Pä¬
dagogen und Theologen ausgesprochen ist, daß die Welt der sinnlichen Erschei¬
nungen nur dadurch für uns einen Werth habe, daß eine höhere geistige Welt
ihr zu Grunde liegt und sie möglich macht. Es wird also jeder principielle
Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgehoben und nach allen
Richtungen die freieste Bahn eröffnet, um in voller Harmonie aller einzelnen
Wissenschaften mit einander eine vollständige Befriedigung der menschlichen Ver¬
nunft in allen gesunden Bestrebungen erreichen zu können. Probleme, die nicht
zu lösen wären, sind nach diesen grundlegenden Arbeiten in der Welt der ge¬
stimmten Erfahrung nicht möglich, so lange sie nicht den Principien der Erfah¬
rung überhaupt widersprechen. Nur dann, wenn weder innere noch äußere An¬
schauung mehr irgendwelches Material zur wissenschaftlichen Erkenntniß liefern,
dann ist es vergeblich, weiter zu fragen. Die Gedanken können natürlich in
zuchtloser Freiheit auch diese Grenze beliebig überschreiten, aber eine Antwort
auf ihre Fragen dürfen sie nicht mehr erwarten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/240>, abgerufen am 15.01.2025.