Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Kant und die Lrfahrungswissenschaften. niemals fragen sollten, z, B. das Ding an sich. Der transeendentale Gegen¬
sagt wieder Goethe, ohne zu wissen, daß er die schwersten Resultate der "Kritik Diese Einsicht ist das erste Erfordernis; für jede gesunde philosophische For¬ Kant und die Lrfahrungswissenschaften. niemals fragen sollten, z, B. das Ding an sich. Der transeendentale Gegen¬
sagt wieder Goethe, ohne zu wissen, daß er die schwersten Resultate der „Kritik Diese Einsicht ist das erste Erfordernis; für jede gesunde philosophische For¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150961"/> <fw type="header" place="top"> Kant und die Lrfahrungswissenschaften.</fw><lb/> <p xml:id="ID_786" prev="#ID_785" next="#ID_787"> niemals fragen sollten, z, B. das Ding an sich. Der transeendentale Gegen¬<lb/> stand ist also der Grund in uns selbst, der uns befähigt, die Erscheinungen als<lb/> wirkliche Gegenstände der Erfahrung aufzufassen, aus mannichfaltigen Eindrücken<lb/> eine Einheit zu bilden. Dieser Grund muß uns verborgen bleiben, denn in<lb/> demselben, sagt Kant, liegt das Geheimniß des Ursprungs unsrer Sinnlichkeit,<lb/> welches zu erforschen unsre Sinne ein unschickliches Werkzeug sein würden, da<lb/> wir durch dieselben immer nur Erscheinungen auffinden können, aber nicht deren<lb/> nichtsinnliche Ursache.</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_18" type="poem"> <l> Ihr fvlaet falscher Spur,<lb/> Denkt nicht, wir scherzen I<lb/> Ist nicht der Kern der Natur<lb/> Menschen im Herzen?</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_787" prev="#ID_786"> sagt wieder Goethe, ohne zu wissen, daß er die schwersten Resultate der „Kritik<lb/> der reinen Vernunft" damit poetisch ausdrückt. Das Ding an sich aber, welches<lb/> Liebmann („Kant und die Epigonen") im Kriticismus mit vollem Rechte einen<lb/> falschen Blutstropfen nannte, ist nach der tiefern Analyse von Krause gar uicht<lb/> darin vorhanden. Dadurch, daß uns etwas sinnlich erscheint, hat es vollkommenen<lb/> Anspruch auf wirkliche Realität im strictestcn Sinne des Wortes. Dafür daß<lb/> wir keiner Sinnestäuschung unterliegen, haben wir die Fähigkeiten des urtheilenden<lb/> Verstandes, die kategorialen Functionen, die wir ins Spiel setzen müssen so lange,<lb/> bis wir die vollkommene Uebereinstimmung der einzelnen Wahrnehmung mit<lb/> den Principien der Erkenntniß überhaupt nachgewiesen haben. Hinter, außer<lb/> oder über der Erscheinung in Zeit und Raum ist aber jede Erfahrung unmög¬<lb/> lich, und jedes Annehmen einer solchen Möglichkeit nichts weiter als ein Hirn-<lb/> gespinnst. Es ist keine tugendhafte Resignation, ans die Erkenntniß der Dinge<lb/> an sich zu verzichte», für die wir uns anderweitigen Trost zu suchen hätten,<lb/> sondern nur die Einsicht, daß wir früher falsche Fragen gestellt haben, die des¬<lb/> wegen ten?e Antwort fanden, weil sie keinen Sinn hatten.</p><lb/> <p xml:id="ID_788" next="#ID_789"> Diese Einsicht ist das erste Erfordernis; für jede gesunde philosophische For¬<lb/> schung und sollte es billig auch für jede empirische Forschung sein. Denn der<lb/> Gewinn, der uns dadurch in Aussicht gestellt wird, ist sofort einleuchtend.<lb/> Wenn wir alle unsre wissenschaftlichen Kenntnisse über die ganze Welt nur durch<lb/> die Sinne erwerben können, wenn also das allein wirklich ist, was sich uns durch<lb/> sinnliche Empfindung anzeigt, Empfindung aber in Raum und Zeit verläuft<lb/> und von unserm Erkenntnißvermögen abhängig ist, so ist die ganze wirkliche<lb/> Welt nur in Zeit und Raum, und die Gesetze, nach denen sich alle Verände¬<lb/> rungen in ihr vollziehen, müssen abhängig sein vou den Gesetzen, nach denen<lb/> sich unsre Empfindung und Wahrnehmung vollzieht. Die rein empiriftische Me¬<lb/> thode der Forschung, die sich voujeher gerühmt hat, die einzigen echten wissen¬<lb/> schaftlichen Principien zu besitzen, sinkt gewissermaßen herab zu dem, was sie<lb/> allein wirklich sein kann, ein Hilfsmittel der Erkenntniß, aber sie ist unfähig,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0239]
Kant und die Lrfahrungswissenschaften.
niemals fragen sollten, z, B. das Ding an sich. Der transeendentale Gegen¬
stand ist also der Grund in uns selbst, der uns befähigt, die Erscheinungen als
wirkliche Gegenstände der Erfahrung aufzufassen, aus mannichfaltigen Eindrücken
eine Einheit zu bilden. Dieser Grund muß uns verborgen bleiben, denn in
demselben, sagt Kant, liegt das Geheimniß des Ursprungs unsrer Sinnlichkeit,
welches zu erforschen unsre Sinne ein unschickliches Werkzeug sein würden, da
wir durch dieselben immer nur Erscheinungen auffinden können, aber nicht deren
nichtsinnliche Ursache.
Ihr fvlaet falscher Spur,
Denkt nicht, wir scherzen I
Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?
sagt wieder Goethe, ohne zu wissen, daß er die schwersten Resultate der „Kritik
der reinen Vernunft" damit poetisch ausdrückt. Das Ding an sich aber, welches
Liebmann („Kant und die Epigonen") im Kriticismus mit vollem Rechte einen
falschen Blutstropfen nannte, ist nach der tiefern Analyse von Krause gar uicht
darin vorhanden. Dadurch, daß uns etwas sinnlich erscheint, hat es vollkommenen
Anspruch auf wirkliche Realität im strictestcn Sinne des Wortes. Dafür daß
wir keiner Sinnestäuschung unterliegen, haben wir die Fähigkeiten des urtheilenden
Verstandes, die kategorialen Functionen, die wir ins Spiel setzen müssen so lange,
bis wir die vollkommene Uebereinstimmung der einzelnen Wahrnehmung mit
den Principien der Erkenntniß überhaupt nachgewiesen haben. Hinter, außer
oder über der Erscheinung in Zeit und Raum ist aber jede Erfahrung unmög¬
lich, und jedes Annehmen einer solchen Möglichkeit nichts weiter als ein Hirn-
gespinnst. Es ist keine tugendhafte Resignation, ans die Erkenntniß der Dinge
an sich zu verzichte», für die wir uns anderweitigen Trost zu suchen hätten,
sondern nur die Einsicht, daß wir früher falsche Fragen gestellt haben, die des¬
wegen ten?e Antwort fanden, weil sie keinen Sinn hatten.
Diese Einsicht ist das erste Erfordernis; für jede gesunde philosophische For¬
schung und sollte es billig auch für jede empirische Forschung sein. Denn der
Gewinn, der uns dadurch in Aussicht gestellt wird, ist sofort einleuchtend.
Wenn wir alle unsre wissenschaftlichen Kenntnisse über die ganze Welt nur durch
die Sinne erwerben können, wenn also das allein wirklich ist, was sich uns durch
sinnliche Empfindung anzeigt, Empfindung aber in Raum und Zeit verläuft
und von unserm Erkenntnißvermögen abhängig ist, so ist die ganze wirkliche
Welt nur in Zeit und Raum, und die Gesetze, nach denen sich alle Verände¬
rungen in ihr vollziehen, müssen abhängig sein vou den Gesetzen, nach denen
sich unsre Empfindung und Wahrnehmung vollzieht. Die rein empiriftische Me¬
thode der Forschung, die sich voujeher gerühmt hat, die einzigen echten wissen¬
schaftlichen Principien zu besitzen, sinkt gewissermaßen herab zu dem, was sie
allein wirklich sein kann, ein Hilfsmittel der Erkenntniß, aber sie ist unfähig,
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