Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Fortschrittlicher lvahlschwindel.

Beispiele und Anzeichen stehen für diese Behauptung reichlich zu Diensten,
Wir beschäftigen uns indeß für heute damit nicht. Was im folgenden widerlegt
werden soll, ist eine andre Unwahrheit jener Wahlepisteln, die nämlich, daß die
Fortschrittspartei sich auch um die nationale Entwicklung erhebliche Verdienste
erworben habe, und daß das heutige Preußen und das deutsche Reich zum guten
Theile das Werk ihrer Hände sei. Wäre manchen ihrer Aeußerungen zu glauben,
so würde sie ungefähr alles geschaffen haben, dessen wir uns gegenwärtig auf
staatlichem Gebiete erfreuen, so würden wir ihr vor allem die deutsche Einheit
gut schreiben müssen. Wer das behauptet, muß eine ungewöhnlich dreiste Stirn,
und wer sich das aufbinden läßt, muß ein Gedächtniß wie ein Sieb haben. Das
reine Gegentheil tritt uns aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart der
Partei unwiderlegbar entgegen. Die Fortschrittspartei hat in der deutschen Frage
immer statt klarer Gedanken nur nebelhafte Phrasen gehabt, immer ihre Partei-
doctrin höher gestellt als das nächste Interesse der Nation, nach außen hin wohl
geordnet und genügend gerüstet, groß und frei zu sein, sie hat immer mehr oder
minder an der Krankheit laborirt, sich für fremde Nationalitäten und deren Be¬
strebungen zu begeistern, auch wo dieselben nur auf Kosten des eignen Vater¬
landes befriedigt werden konnten. In Betreff der deutschen Idee war sie wie
die falsche Mutter beim Urtheile Salomos, die lieber wollte, daß das Kind zu
Grunde gehe, als daß damit anders als nach ihrem Willen geschehe. Mit der
deutschen Einheit hatte es ihr Zeit, die war leicht zu haben und mußte von
selber kommen; das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses war die
große Frage, das war vor allem zu retten, das Recht, jedes Jahr die Existenz
der preußischen Armee zu bedrohen, auf deren Stärke die Möglichkeit einer Ver¬
wirklichung jener Einheit allein beruhte.

Die Fortschrittspartei und die, aus deren Mitte sie entstand, haben die
nationale Idee nicht nur niemals gefördert, sondern sie, anderm zustrebend, mit
allen Kräften und Mitteln auf ihrem Wege aufgehalten, weil sie sich nicht in
ihrem Sinne gestalten wollte. "Sie wollten sie, wie es nicht ging." Das war
schon 1848 und im nächsten Jahre so, wo die liberale Partei mit ihren über¬
triebnen Ansprüchen die anfänglich nicht ungünstige Stellung Preußens soweit
verderben half -- wir sagen half, denn auch andre wirkten mit -- daß daraus
die klägliche Manteuffelei wurde, Olmütz und 1866 "das Canossa in Paris, wo
unser Bevollmächtigter stundenlang im Vorzimmer warten mußte, ehe er dabei
sein durfte und wo Preußen überhaupt nicht mehr mitgerechnet wurde." Das
fand ferner unter den Ministern der neuen Aera statt, wo die Liberalen eine
so vortheilhafte Position inne hatten, wie nie zuvor, dieselbe aber, immer den
Blick auf ihre Doctrin gerichtet, immer von dieser verblendet, durch unfruchtbare
Rechthaberei verscherzten, indem sie durch hartnäckige Opposition gegen die könig¬
liche Armeereorganisation veranlaßten, daß das Ministerium Bismarck ans Ruder
gelangte. Hier könnte man nach dem, was sich daraus entwickelte, allerdings


Fortschrittlicher lvahlschwindel.

Beispiele und Anzeichen stehen für diese Behauptung reichlich zu Diensten,
Wir beschäftigen uns indeß für heute damit nicht. Was im folgenden widerlegt
werden soll, ist eine andre Unwahrheit jener Wahlepisteln, die nämlich, daß die
Fortschrittspartei sich auch um die nationale Entwicklung erhebliche Verdienste
erworben habe, und daß das heutige Preußen und das deutsche Reich zum guten
Theile das Werk ihrer Hände sei. Wäre manchen ihrer Aeußerungen zu glauben,
so würde sie ungefähr alles geschaffen haben, dessen wir uns gegenwärtig auf
staatlichem Gebiete erfreuen, so würden wir ihr vor allem die deutsche Einheit
gut schreiben müssen. Wer das behauptet, muß eine ungewöhnlich dreiste Stirn,
und wer sich das aufbinden läßt, muß ein Gedächtniß wie ein Sieb haben. Das
reine Gegentheil tritt uns aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart der
Partei unwiderlegbar entgegen. Die Fortschrittspartei hat in der deutschen Frage
immer statt klarer Gedanken nur nebelhafte Phrasen gehabt, immer ihre Partei-
doctrin höher gestellt als das nächste Interesse der Nation, nach außen hin wohl
geordnet und genügend gerüstet, groß und frei zu sein, sie hat immer mehr oder
minder an der Krankheit laborirt, sich für fremde Nationalitäten und deren Be¬
strebungen zu begeistern, auch wo dieselben nur auf Kosten des eignen Vater¬
landes befriedigt werden konnten. In Betreff der deutschen Idee war sie wie
die falsche Mutter beim Urtheile Salomos, die lieber wollte, daß das Kind zu
Grunde gehe, als daß damit anders als nach ihrem Willen geschehe. Mit der
deutschen Einheit hatte es ihr Zeit, die war leicht zu haben und mußte von
selber kommen; das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses war die
große Frage, das war vor allem zu retten, das Recht, jedes Jahr die Existenz
der preußischen Armee zu bedrohen, auf deren Stärke die Möglichkeit einer Ver¬
wirklichung jener Einheit allein beruhte.

Die Fortschrittspartei und die, aus deren Mitte sie entstand, haben die
nationale Idee nicht nur niemals gefördert, sondern sie, anderm zustrebend, mit
allen Kräften und Mitteln auf ihrem Wege aufgehalten, weil sie sich nicht in
ihrem Sinne gestalten wollte. „Sie wollten sie, wie es nicht ging." Das war
schon 1848 und im nächsten Jahre so, wo die liberale Partei mit ihren über¬
triebnen Ansprüchen die anfänglich nicht ungünstige Stellung Preußens soweit
verderben half — wir sagen half, denn auch andre wirkten mit — daß daraus
die klägliche Manteuffelei wurde, Olmütz und 1866 „das Canossa in Paris, wo
unser Bevollmächtigter stundenlang im Vorzimmer warten mußte, ehe er dabei
sein durfte und wo Preußen überhaupt nicht mehr mitgerechnet wurde." Das
fand ferner unter den Ministern der neuen Aera statt, wo die Liberalen eine
so vortheilhafte Position inne hatten, wie nie zuvor, dieselbe aber, immer den
Blick auf ihre Doctrin gerichtet, immer von dieser verblendet, durch unfruchtbare
Rechthaberei verscherzten, indem sie durch hartnäckige Opposition gegen die könig¬
liche Armeereorganisation veranlaßten, daß das Ministerium Bismarck ans Ruder
gelangte. Hier könnte man nach dem, was sich daraus entwickelte, allerdings


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150240"/>
          <fw type="header" place="top"> Fortschrittlicher lvahlschwindel.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_242"> Beispiele und Anzeichen stehen für diese Behauptung reichlich zu Diensten,<lb/>
Wir beschäftigen uns indeß für heute damit nicht. Was im folgenden widerlegt<lb/>
werden soll, ist eine andre Unwahrheit jener Wahlepisteln, die nämlich, daß die<lb/>
Fortschrittspartei sich auch um die nationale Entwicklung erhebliche Verdienste<lb/>
erworben habe, und daß das heutige Preußen und das deutsche Reich zum guten<lb/>
Theile das Werk ihrer Hände sei. Wäre manchen ihrer Aeußerungen zu glauben,<lb/>
so würde sie ungefähr alles geschaffen haben, dessen wir uns gegenwärtig auf<lb/>
staatlichem Gebiete erfreuen, so würden wir ihr vor allem die deutsche Einheit<lb/>
gut schreiben müssen. Wer das behauptet, muß eine ungewöhnlich dreiste Stirn,<lb/>
und wer sich das aufbinden läßt, muß ein Gedächtniß wie ein Sieb haben. Das<lb/>
reine Gegentheil tritt uns aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart der<lb/>
Partei unwiderlegbar entgegen. Die Fortschrittspartei hat in der deutschen Frage<lb/>
immer statt klarer Gedanken nur nebelhafte Phrasen gehabt, immer ihre Partei-<lb/>
doctrin höher gestellt als das nächste Interesse der Nation, nach außen hin wohl<lb/>
geordnet und genügend gerüstet, groß und frei zu sein, sie hat immer mehr oder<lb/>
minder an der Krankheit laborirt, sich für fremde Nationalitäten und deren Be¬<lb/>
strebungen zu begeistern, auch wo dieselben nur auf Kosten des eignen Vater¬<lb/>
landes befriedigt werden konnten. In Betreff der deutschen Idee war sie wie<lb/>
die falsche Mutter beim Urtheile Salomos, die lieber wollte, daß das Kind zu<lb/>
Grunde gehe, als daß damit anders als nach ihrem Willen geschehe. Mit der<lb/>
deutschen Einheit hatte es ihr Zeit, die war leicht zu haben und mußte von<lb/>
selber kommen; das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses war die<lb/>
große Frage, das war vor allem zu retten, das Recht, jedes Jahr die Existenz<lb/>
der preußischen Armee zu bedrohen, auf deren Stärke die Möglichkeit einer Ver¬<lb/>
wirklichung jener Einheit allein beruhte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_243" next="#ID_244"> Die Fortschrittspartei und die, aus deren Mitte sie entstand, haben die<lb/>
nationale Idee nicht nur niemals gefördert, sondern sie, anderm zustrebend, mit<lb/>
allen Kräften und Mitteln auf ihrem Wege aufgehalten, weil sie sich nicht in<lb/>
ihrem Sinne gestalten wollte. &#x201E;Sie wollten sie, wie es nicht ging." Das war<lb/>
schon 1848 und im nächsten Jahre so, wo die liberale Partei mit ihren über¬<lb/>
triebnen Ansprüchen die anfänglich nicht ungünstige Stellung Preußens soweit<lb/>
verderben half &#x2014; wir sagen half, denn auch andre wirkten mit &#x2014; daß daraus<lb/>
die klägliche Manteuffelei wurde, Olmütz und 1866 &#x201E;das Canossa in Paris, wo<lb/>
unser Bevollmächtigter stundenlang im Vorzimmer warten mußte, ehe er dabei<lb/>
sein durfte und wo Preußen überhaupt nicht mehr mitgerechnet wurde." Das<lb/>
fand ferner unter den Ministern der neuen Aera statt, wo die Liberalen eine<lb/>
so vortheilhafte Position inne hatten, wie nie zuvor, dieselbe aber, immer den<lb/>
Blick auf ihre Doctrin gerichtet, immer von dieser verblendet, durch unfruchtbare<lb/>
Rechthaberei verscherzten, indem sie durch hartnäckige Opposition gegen die könig¬<lb/>
liche Armeereorganisation veranlaßten, daß das Ministerium Bismarck ans Ruder<lb/>
gelangte. Hier könnte man nach dem, was sich daraus entwickelte, allerdings</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] Fortschrittlicher lvahlschwindel. Beispiele und Anzeichen stehen für diese Behauptung reichlich zu Diensten, Wir beschäftigen uns indeß für heute damit nicht. Was im folgenden widerlegt werden soll, ist eine andre Unwahrheit jener Wahlepisteln, die nämlich, daß die Fortschrittspartei sich auch um die nationale Entwicklung erhebliche Verdienste erworben habe, und daß das heutige Preußen und das deutsche Reich zum guten Theile das Werk ihrer Hände sei. Wäre manchen ihrer Aeußerungen zu glauben, so würde sie ungefähr alles geschaffen haben, dessen wir uns gegenwärtig auf staatlichem Gebiete erfreuen, so würden wir ihr vor allem die deutsche Einheit gut schreiben müssen. Wer das behauptet, muß eine ungewöhnlich dreiste Stirn, und wer sich das aufbinden läßt, muß ein Gedächtniß wie ein Sieb haben. Das reine Gegentheil tritt uns aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart der Partei unwiderlegbar entgegen. Die Fortschrittspartei hat in der deutschen Frage immer statt klarer Gedanken nur nebelhafte Phrasen gehabt, immer ihre Partei- doctrin höher gestellt als das nächste Interesse der Nation, nach außen hin wohl geordnet und genügend gerüstet, groß und frei zu sein, sie hat immer mehr oder minder an der Krankheit laborirt, sich für fremde Nationalitäten und deren Be¬ strebungen zu begeistern, auch wo dieselben nur auf Kosten des eignen Vater¬ landes befriedigt werden konnten. In Betreff der deutschen Idee war sie wie die falsche Mutter beim Urtheile Salomos, die lieber wollte, daß das Kind zu Grunde gehe, als daß damit anders als nach ihrem Willen geschehe. Mit der deutschen Einheit hatte es ihr Zeit, die war leicht zu haben und mußte von selber kommen; das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses war die große Frage, das war vor allem zu retten, das Recht, jedes Jahr die Existenz der preußischen Armee zu bedrohen, auf deren Stärke die Möglichkeit einer Ver¬ wirklichung jener Einheit allein beruhte. Die Fortschrittspartei und die, aus deren Mitte sie entstand, haben die nationale Idee nicht nur niemals gefördert, sondern sie, anderm zustrebend, mit allen Kräften und Mitteln auf ihrem Wege aufgehalten, weil sie sich nicht in ihrem Sinne gestalten wollte. „Sie wollten sie, wie es nicht ging." Das war schon 1848 und im nächsten Jahre so, wo die liberale Partei mit ihren über¬ triebnen Ansprüchen die anfänglich nicht ungünstige Stellung Preußens soweit verderben half — wir sagen half, denn auch andre wirkten mit — daß daraus die klägliche Manteuffelei wurde, Olmütz und 1866 „das Canossa in Paris, wo unser Bevollmächtigter stundenlang im Vorzimmer warten mußte, ehe er dabei sein durfte und wo Preußen überhaupt nicht mehr mitgerechnet wurde." Das fand ferner unter den Ministern der neuen Aera statt, wo die Liberalen eine so vortheilhafte Position inne hatten, wie nie zuvor, dieselbe aber, immer den Blick auf ihre Doctrin gerichtet, immer von dieser verblendet, durch unfruchtbare Rechthaberei verscherzten, indem sie durch hartnäckige Opposition gegen die könig¬ liche Armeereorganisation veranlaßten, daß das Ministerium Bismarck ans Ruder gelangte. Hier könnte man nach dem, was sich daraus entwickelte, allerdings

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/90>, abgerufen am 01.09.2024.