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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

die Fichte vereinsamt schwankt, und wir erquicken uns an der Frische des berg-
bekränzten Flußthales, das der Frühling eben schmückt. Nichts von der poetischen
Kraft, die dein Componisten eigen, bleibt latent. Diese Lieder sind mit der
äußersten Energie der Phantasie geschrieben. Sie giebt ihnen oft etwas Fieber¬
haftes, wo Leidenschaften spielen, etwas Visionäres und Entrücktes, wo stille
Gedanken walten. Nicht alle kamt man eigentlich als dramatisch bezeichnen. Bei
einem Gedichte wie "Es muß ein Wunderbares sein" schließt der Text die wirk¬
liche Dramatik aus. Aber ein frappantes Angenblicksbild hat Lißzt doch daraus
gemacht und uns eine junge Person hingezeichnet, deren Herz noch einer ge-
schlossnen Knospe gleicht, die die Liebe noch nicht kennt und nun in der Abend¬
stunde von Ahnen und Sehnen durchzogen wird. Was auch die Gedichte bringen,
wie Lißzt sie behandelt im Vergleich zu andern, ist es immer ungefähr der Unter¬
schied wie zwischen der Novelle in Briefform oder in einer andern Art der direkten
Erzählung durch die Betheiligten und andrerseits der Darstellung durch den un-
betheiligten Schriftsteller.

Ganz selbstverständlich hat diese eigne Art der Anschauung auch die Form
der Lißztschen Lieder beeinflußt. Viele von ihnen haben etwas Rhapsodisches,
Jmprovisirtes. die Melodie kommt absatzweise, nicht im fortlaufenden Gleichmaß.
Sie ist oft nicht ein Gefang, sondern eine Declamation, ein Sprechen im Hin-
starren; der Sänger schweigt auch viel und lauscht dem Clavier. Das gehört
alles zur dramatischen Darstellung, die nicht vom Concertgesang und Ohren¬
schmaus ausgehen kann. Es hängt damit auch zusammen, daß wir oft verschiedne
Personen zu hören glauben. Die eine ruft erschreckt und aufgeregt: "Wo weilt
er?" Eine andre antwortet geisterhaft: "Im kalten, im schaurigen Land." Oben
schreit es: "Vergiftet sind meine Lieder!" In der Tiefe fährt es fort: "Wie
könnt' es anders sein!" Man würde aber auf ganz falschem Wege sein, wenn
man diese Lieder für formlos hielte. Keineswegs sind sie das. Trotz des Ab-
brechens, AufHaltens, Pausirens, bei allem Wechsel der Motive und Rhythmen,
trotz aller Symptome der Unregelmäßigkeit, die diese Gesänge im Aeußern häusiger
tragen als die andrer Componisten, nie sind sie zerfallen und zusammenhanglos.
Im Gegentheil einheitlicher als viele, wenn anch das Band, das die Theile an
einander heftet, nicht immer ein der offnen Seite liegt. Man fühlt immer den
Brennpunkt durch, in dem die Worte gesammelt wurden, und wie sie als ein festes,
ganzes Bild concipirt sind, wirken sie auch als Ganzes fesselnd und übersichtlich.
Sie sind das Product der Freiheit, aber einer genialen Freiheit. Uebrigens hat
Lißzt auch verschiedne ganz einfache Lieder geschrieben, in geschlossner und volks-
thümlicher Melodie. In den acht Heften, die die Lißztschen Lieder gesammelt
bringen, mag man sich umsehen. Die Clavierbegleitung ist durchweg leicht; der
Gesang ist es theilweise; häufig wird er durch die Chromatik schwierig und durch
die Anforderungen an den Vortrag. Der individuelle Geschmack wird für und
gegen entscheide", vorbeigehen darf niemand an ihnen, wer das Lied der Gegen-"


Grmzboten III. 1331. ö
Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

die Fichte vereinsamt schwankt, und wir erquicken uns an der Frische des berg-
bekränzten Flußthales, das der Frühling eben schmückt. Nichts von der poetischen
Kraft, die dein Componisten eigen, bleibt latent. Diese Lieder sind mit der
äußersten Energie der Phantasie geschrieben. Sie giebt ihnen oft etwas Fieber¬
haftes, wo Leidenschaften spielen, etwas Visionäres und Entrücktes, wo stille
Gedanken walten. Nicht alle kamt man eigentlich als dramatisch bezeichnen. Bei
einem Gedichte wie „Es muß ein Wunderbares sein" schließt der Text die wirk¬
liche Dramatik aus. Aber ein frappantes Angenblicksbild hat Lißzt doch daraus
gemacht und uns eine junge Person hingezeichnet, deren Herz noch einer ge-
schlossnen Knospe gleicht, die die Liebe noch nicht kennt und nun in der Abend¬
stunde von Ahnen und Sehnen durchzogen wird. Was auch die Gedichte bringen,
wie Lißzt sie behandelt im Vergleich zu andern, ist es immer ungefähr der Unter¬
schied wie zwischen der Novelle in Briefform oder in einer andern Art der direkten
Erzählung durch die Betheiligten und andrerseits der Darstellung durch den un-
betheiligten Schriftsteller.

Ganz selbstverständlich hat diese eigne Art der Anschauung auch die Form
der Lißztschen Lieder beeinflußt. Viele von ihnen haben etwas Rhapsodisches,
Jmprovisirtes. die Melodie kommt absatzweise, nicht im fortlaufenden Gleichmaß.
Sie ist oft nicht ein Gefang, sondern eine Declamation, ein Sprechen im Hin-
starren; der Sänger schweigt auch viel und lauscht dem Clavier. Das gehört
alles zur dramatischen Darstellung, die nicht vom Concertgesang und Ohren¬
schmaus ausgehen kann. Es hängt damit auch zusammen, daß wir oft verschiedne
Personen zu hören glauben. Die eine ruft erschreckt und aufgeregt: „Wo weilt
er?" Eine andre antwortet geisterhaft: „Im kalten, im schaurigen Land." Oben
schreit es: „Vergiftet sind meine Lieder!" In der Tiefe fährt es fort: „Wie
könnt' es anders sein!" Man würde aber auf ganz falschem Wege sein, wenn
man diese Lieder für formlos hielte. Keineswegs sind sie das. Trotz des Ab-
brechens, AufHaltens, Pausirens, bei allem Wechsel der Motive und Rhythmen,
trotz aller Symptome der Unregelmäßigkeit, die diese Gesänge im Aeußern häusiger
tragen als die andrer Componisten, nie sind sie zerfallen und zusammenhanglos.
Im Gegentheil einheitlicher als viele, wenn anch das Band, das die Theile an
einander heftet, nicht immer ein der offnen Seite liegt. Man fühlt immer den
Brennpunkt durch, in dem die Worte gesammelt wurden, und wie sie als ein festes,
ganzes Bild concipirt sind, wirken sie auch als Ganzes fesselnd und übersichtlich.
Sie sind das Product der Freiheit, aber einer genialen Freiheit. Uebrigens hat
Lißzt auch verschiedne ganz einfache Lieder geschrieben, in geschlossner und volks-
thümlicher Melodie. In den acht Heften, die die Lißztschen Lieder gesammelt
bringen, mag man sich umsehen. Die Clavierbegleitung ist durchweg leicht; der
Gesang ist es theilweise; häufig wird er durch die Chromatik schwierig und durch
die Anforderungen an den Vortrag. Der individuelle Geschmack wird für und
gegen entscheide», vorbeigehen darf niemand an ihnen, wer das Lied der Gegen-"


Grmzboten III. 1331. ö
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/73>, abgerufen am 01.09.2024.