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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

ihrer einfachen Structur auch dem Vermögen des gemeinen Mannes zugänglich
erscheinen. In dieser Beziehung hat Franz das höchste geleistet, was sich im
strophischen Liede vielleicht erreiche" läßt, man kann sie als das Ideal der Gattung
bezeichnen. Sie sind einheitlich und reichhaltig, populär und vornehm zugleich
und bergen in ihrer scheinbaren Einfachheit eine Fülle von eigenthümlicher und
regster Empfindung, Phantasie und hoher Kunst. Das technische Mittel, welches
er bevorzugt und mit einer ihm ganz eignen Gewandtheit anwendet, ist die Mo-
dulation. Sie unterscheidet sich bei ihm von der Weise der Mcmieristen, die
wie Imsen ihre Lieblingsansweichungcn immer wieder bringen, vollständig und
beruht auf einem erweiterten und beweglichen Tonartsystcm, auf dessen Beziehung
zu Meistern wie Bach und zu den sogenannten Kirchentönen mit Recht aufmerk¬
sam gemacht worden ist. Abweichend von dein modernen Branche, der die Quint
bevorzugt, lenkt Franz seine Harmonie gern in die Terz. Während andre Border¬
satz und Nachsatz -- beispielsweise -- über und 6 laufen lassen, wählt Franz
und L oder 0 und ^ als Tonalitätsvcrhältniß. Das giebt schon allein seinen
Liedern ein abstechendes Aeußere. Seine musikalische Genialität und Inspiration
beruht aber darauf nicht. Diese blitzt vielmehr aus der frappanten Verwendung
von an sich ganz einfachen Accorden. Wie schmettert doch jene Stelle in dem
Liede "Im Herbste" ein, wo der Sänger klagt "Jetzt geh' ich allein." Und
was macht die große Wirkung? Es ist ein einfacher Qnartsextneeord. Ein ähn¬
licher Fall ist leicht zu ersehen bei einem andern weltbekannten Liede von Franz,
der "Widmung." Da thut ein Dvminantseptimenaeevrd die Wunder bei den
Worten "was jetzt und einst und ewig Dein."

Ambrvs hat Franz einen Stimmungslyriker genannt im Gegensatz zu Franz
Schubert, den er als Situatiouslyriker bezeichnet. Mau kann den Gegensatz
gelten lassen, augesichts der Thatsache, daß Franz auch bewegte und spannende
Vorgänge gern in ein ruhiges oder doch fcstgeschlvssnes Bild faßt, wie jedermann
aus "Stille Sicherheit" oder "Derweil ich schlafen lag" ersehen kann. Eigent¬
lich aber liegt die Sache doch etwas anders. Franz hält sich nicht einseitig und
ausschließlich um die Stimmung und ignorirt die Situation, ebenso wenig wie
Schubert vor lauter Scene und Handlung die Stimmung vergißt. Aber wenn wir
bei Schubert z. B. den "Feierabend" aufschlagen, finden wir eine Nüance, die das
alte Lied, dessen bewußter Meister Franz in unsrer Gegenwart ist, das Volks¬
lied nicht kennt. Da treten auf einmal Personen auf und sprechen in ihrer
eignen Sprache, der Müller in der seinen, das Mädchen in der ihrigen. Das
Volkslied hat aber nur eine Person für den Vortrag: das ist der Componist,
der den ganzen Vorgang allein besingt. Dieses dramatische Element ist von
Schubert nicht erfunden worden. Es liegt in manchem Tanzliede Thomas Morlehs,
es liegt in andern Stücken der Madrigalenliteratur. Es findet sich unter dem
musikalischen Zeitvertreib des achtzehnten Jahrhunderts in den Bettelzechs, Judeu-
quartetten und Trinkgesüugen, die als Lieder passirten und eigentlich Opernseenen


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

ihrer einfachen Structur auch dem Vermögen des gemeinen Mannes zugänglich
erscheinen. In dieser Beziehung hat Franz das höchste geleistet, was sich im
strophischen Liede vielleicht erreiche» läßt, man kann sie als das Ideal der Gattung
bezeichnen. Sie sind einheitlich und reichhaltig, populär und vornehm zugleich
und bergen in ihrer scheinbaren Einfachheit eine Fülle von eigenthümlicher und
regster Empfindung, Phantasie und hoher Kunst. Das technische Mittel, welches
er bevorzugt und mit einer ihm ganz eignen Gewandtheit anwendet, ist die Mo-
dulation. Sie unterscheidet sich bei ihm von der Weise der Mcmieristen, die
wie Imsen ihre Lieblingsansweichungcn immer wieder bringen, vollständig und
beruht auf einem erweiterten und beweglichen Tonartsystcm, auf dessen Beziehung
zu Meistern wie Bach und zu den sogenannten Kirchentönen mit Recht aufmerk¬
sam gemacht worden ist. Abweichend von dein modernen Branche, der die Quint
bevorzugt, lenkt Franz seine Harmonie gern in die Terz. Während andre Border¬
satz und Nachsatz — beispielsweise — über und 6 laufen lassen, wählt Franz
und L oder 0 und ^ als Tonalitätsvcrhältniß. Das giebt schon allein seinen
Liedern ein abstechendes Aeußere. Seine musikalische Genialität und Inspiration
beruht aber darauf nicht. Diese blitzt vielmehr aus der frappanten Verwendung
von an sich ganz einfachen Accorden. Wie schmettert doch jene Stelle in dem
Liede „Im Herbste" ein, wo der Sänger klagt „Jetzt geh' ich allein." Und
was macht die große Wirkung? Es ist ein einfacher Qnartsextneeord. Ein ähn¬
licher Fall ist leicht zu ersehen bei einem andern weltbekannten Liede von Franz,
der „Widmung." Da thut ein Dvminantseptimenaeevrd die Wunder bei den
Worten „was jetzt und einst und ewig Dein."

Ambrvs hat Franz einen Stimmungslyriker genannt im Gegensatz zu Franz
Schubert, den er als Situatiouslyriker bezeichnet. Mau kann den Gegensatz
gelten lassen, augesichts der Thatsache, daß Franz auch bewegte und spannende
Vorgänge gern in ein ruhiges oder doch fcstgeschlvssnes Bild faßt, wie jedermann
aus „Stille Sicherheit" oder „Derweil ich schlafen lag" ersehen kann. Eigent¬
lich aber liegt die Sache doch etwas anders. Franz hält sich nicht einseitig und
ausschließlich um die Stimmung und ignorirt die Situation, ebenso wenig wie
Schubert vor lauter Scene und Handlung die Stimmung vergißt. Aber wenn wir
bei Schubert z. B. den „Feierabend" aufschlagen, finden wir eine Nüance, die das
alte Lied, dessen bewußter Meister Franz in unsrer Gegenwart ist, das Volks¬
lied nicht kennt. Da treten auf einmal Personen auf und sprechen in ihrer
eignen Sprache, der Müller in der seinen, das Mädchen in der ihrigen. Das
Volkslied hat aber nur eine Person für den Vortrag: das ist der Componist,
der den ganzen Vorgang allein besingt. Dieses dramatische Element ist von
Schubert nicht erfunden worden. Es liegt in manchem Tanzliede Thomas Morlehs,
es liegt in andern Stücken der Madrigalenliteratur. Es findet sich unter dem
musikalischen Zeitvertreib des achtzehnten Jahrhunderts in den Bettelzechs, Judeu-
quartetten und Trinkgesüugen, die als Lieder passirten und eigentlich Opernseenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/71>, abgerufen am 25.11.2024.