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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

veröffentlichte, das alles zusammengenommen bildet nur eine Handvoll gegen die
Fülle von Liedern, aus denen sich sein Denkmal für die Geschichte der Musik
aufbaut. Imsen ist in seinem vollen Streben abberufen worden, mitten aus
einer Entwicklung, deren Endziel wir vermuthen, aber nicht bestimmen können.
Als Liedercomponist steht er vor uns in zarter Jünglingsgestalt mit einem fein
belebten, aber blassen Antlitz. Seine musikalische Sprache ist bilderreich und
gewählt, aber von einer Weichheit, die über das Normale hinausgeht und vielleicht
von jeher die Folge physischer Leiden war. Die Empfänglichkeit seines Ge¬
müthes war zur Empfindsamkeit gesteigert, und was vor seine rege Phantasie
trat, hatte erst einen leichten Schleier der Melancholie zu durchdringen. In
dieser Eigenheit lag ein Reiz seines Talentes und zugleich eine Schwäche des¬
selben. Er ist sich derselben in der Mitte seiner Schaffenszeit bewußt geworden,
denn wir sehen ihn von da ab dagegen ankämpfen, einmal dadurch daß er sich
in seinen Gesangeompositivnen Stoffen zuwendete, die kleine Schwärmereien aus¬
schlossen, sodann indem er den Vorrath seiner musikalischen Ausdrucksmittel zu
vergrößern suchte. Da machte er sich über Scheffelsche Studentenlieder her, über
Dichtungen von ausgesprochner Kraft, in denen kernige Männer spaßen und
trotzen, über altenglische und schottische Balladen, die mit dem vergossnen Blute
nicht sparen. Und in seiner Musik fing er an zu imitiren und zu fugiren, ging
den alten Meistern des Coutrapuuktes nach und brachte aus den neuen "Musik¬
dramen" das aufgeregte Lebe" der Instrumente auf das begleitende Clavier.
Als Imsen mitten auf dem neuen Wege stand, erlosch seine Fackel. Die Gesang¬
eompositivnen der zweite" Hälfte bringen einen Zuwachs von Leidenschaft und
manchen gewaltigen Ausbruch der Seelenerschütterung; auch in den mildern Stim¬
mungen der Wehmuth und der Sehnsucht weist diese spätere Periode einzelne
Perlen auf, wie die "Heimatglocken." Im allgemeinen aber wird das Gesammt-
bild von Jensens Schaffen durch die Lieder der ersten Hälfte -- bis Opus 35
vielleicht zu rechnen -- bestimmt werden. Was ihm hier zur Liebhaberei ge¬
worden und was ihn zum Manieristeu macht, das hat er nicht abzulegen ver¬
mocht. Man vergleiche nur Lieder, die an den entgegengesetzten Enden seiner
Produetionszeit liegen, "Murmelndes Lüftchen" z.B. und "Erlkönigs Tochter."
Sind das nicht wörtlich dieselben chromatischen Zwischenspiele hier wie dort, die¬
selben verminderten Septimenaeevrdc, wo etwas betont werden soll, dieselbe An¬
muth in deu Melodiewendungen, dieselben Vorzüge und Schwächen? Die Frische
der Erfindung setzt die Lieder seiner frühern Jahre über die der spätern, denen
seine Muße zuweilen im Zustande einer gewissen Abspannung nahegetreten zu
sein scheint. Das Beste Jensens liegt in seiner mittlern Periode, wo er die beiden
Cyklen der "Margarethen-Lieder" und Chamissos "Dolorosa" componirte. Imsen
war ein einseitiges Talent, aber innerhalb seiner Grenzen unerschöpflich reich
an musikalischer Erfindung und befähigt, ein einfaches, kleines poetisches Gebild
mit soviel hübschen musikalischen Einfällen zu glossiren, daß man ihn wegen dieser


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

veröffentlichte, das alles zusammengenommen bildet nur eine Handvoll gegen die
Fülle von Liedern, aus denen sich sein Denkmal für die Geschichte der Musik
aufbaut. Imsen ist in seinem vollen Streben abberufen worden, mitten aus
einer Entwicklung, deren Endziel wir vermuthen, aber nicht bestimmen können.
Als Liedercomponist steht er vor uns in zarter Jünglingsgestalt mit einem fein
belebten, aber blassen Antlitz. Seine musikalische Sprache ist bilderreich und
gewählt, aber von einer Weichheit, die über das Normale hinausgeht und vielleicht
von jeher die Folge physischer Leiden war. Die Empfänglichkeit seines Ge¬
müthes war zur Empfindsamkeit gesteigert, und was vor seine rege Phantasie
trat, hatte erst einen leichten Schleier der Melancholie zu durchdringen. In
dieser Eigenheit lag ein Reiz seines Talentes und zugleich eine Schwäche des¬
selben. Er ist sich derselben in der Mitte seiner Schaffenszeit bewußt geworden,
denn wir sehen ihn von da ab dagegen ankämpfen, einmal dadurch daß er sich
in seinen Gesangeompositivnen Stoffen zuwendete, die kleine Schwärmereien aus¬
schlossen, sodann indem er den Vorrath seiner musikalischen Ausdrucksmittel zu
vergrößern suchte. Da machte er sich über Scheffelsche Studentenlieder her, über
Dichtungen von ausgesprochner Kraft, in denen kernige Männer spaßen und
trotzen, über altenglische und schottische Balladen, die mit dem vergossnen Blute
nicht sparen. Und in seiner Musik fing er an zu imitiren und zu fugiren, ging
den alten Meistern des Coutrapuuktes nach und brachte aus den neuen „Musik¬
dramen" das aufgeregte Lebe» der Instrumente auf das begleitende Clavier.
Als Imsen mitten auf dem neuen Wege stand, erlosch seine Fackel. Die Gesang¬
eompositivnen der zweite» Hälfte bringen einen Zuwachs von Leidenschaft und
manchen gewaltigen Ausbruch der Seelenerschütterung; auch in den mildern Stim¬
mungen der Wehmuth und der Sehnsucht weist diese spätere Periode einzelne
Perlen auf, wie die „Heimatglocken." Im allgemeinen aber wird das Gesammt-
bild von Jensens Schaffen durch die Lieder der ersten Hälfte — bis Opus 35
vielleicht zu rechnen — bestimmt werden. Was ihm hier zur Liebhaberei ge¬
worden und was ihn zum Manieristeu macht, das hat er nicht abzulegen ver¬
mocht. Man vergleiche nur Lieder, die an den entgegengesetzten Enden seiner
Produetionszeit liegen, „Murmelndes Lüftchen" z.B. und „Erlkönigs Tochter."
Sind das nicht wörtlich dieselben chromatischen Zwischenspiele hier wie dort, die¬
selben verminderten Septimenaeevrdc, wo etwas betont werden soll, dieselbe An¬
muth in deu Melodiewendungen, dieselben Vorzüge und Schwächen? Die Frische
der Erfindung setzt die Lieder seiner frühern Jahre über die der spätern, denen
seine Muße zuweilen im Zustande einer gewissen Abspannung nahegetreten zu
sein scheint. Das Beste Jensens liegt in seiner mittlern Periode, wo er die beiden
Cyklen der „Margarethen-Lieder" und Chamissos „Dolorosa" componirte. Imsen
war ein einseitiges Talent, aber innerhalb seiner Grenzen unerschöpflich reich
an musikalischer Erfindung und befähigt, ein einfaches, kleines poetisches Gebild
mit soviel hübschen musikalischen Einfällen zu glossiren, daß man ihn wegen dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/68>, abgerufen am 01.09.2024.