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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Russische Agrarzustände,

denn -- kommen die drei Monate Hunger. Es giebt Gubernien, in denen über
16 Rubel jährlich auf die männliche Seele an Branntwein verbraucht wird,
und wo weniger vertrunken wird, da ist der Hauptgrund die geringere Menge
an Erworbnem, die dazu zur Verfügung steht. Das wirkt natürlich wieder zurück
auf die Zustünde in Haus und Hof, und daß der Bauer nicht längst alle Ge-
meiudeläudereicn versoffen hat, daran ist allein der Umstand schuld, daß er sie
nicht veräußern darf, daß es an ihn oder er an es festgeschmiedet ist. Vielleicht
wäre es das einfachste und beste, wenn man ihm gestattete, das Gemeindeland
zu vertrinken. So wäre man dieses Uebel los, und der Staat hätte Aussicht,
noch mehr aus der Branntwcinaccise an Steuern zu erhalten, als er schon be¬
zieht. Das sind nun bereits runde und überrunde 206 Millionen jährlich. Die
Haupteinnahme des Staates und daher eine wohl behütete Quelle. Der Trunk¬
sucht wird notorisch von Staatswegen Vorschub geleistet. Denn wiederholt ist,
besonders von einzelnen Geistlichen, versucht worden, dagegen aufzutreten, und
ist von Staats wegen genöthigt worden, die Agitation zu unterlassen. Trunk¬
sucht, Feiertage, gesetzlich vorgeschriebne Rnubwirthschaft auf dem bäuerlichen
Lande: das sind drei Stützen des Elendes von ansehnlicher Stärke. Dazu kommt
aber noch die Haftpflicht der Gemeinde für Abgaben und Leistungen ihrer Glieder.
Sobald ein Bauer seinen Acker besser bearbeiten wollte, käme er in den Ver¬
dacht, sich etwas erwerben zu wollen, und erwürbe er sich etwas, so müßte er
es für Gemeindeabgabcn hergeben, die seine faulen Nachbarn nicht zahlen können.
Wir lesen also aus dem Gubernium Tschernigow folgendes: "Hat ein Bauer
die Möglichkeit, durch Nebenarbeit etwas zu verdienen, so kümmert er sich nicht
um seine Wirthschaft, und wenn er mit Nebenarbeiten und Handwerk Geld er¬
worben hat, so vergeudet er es nicht zur Verbesserung seiner Wirthschaft, sondern
zieht es vor, seinen Sparpfennig zu verstecken aus Sorge, wegen der gemeinen
Haft verantwortlich zu werden für seine Gemeindegenossen, welche in Bezahlung
der Abgaben und Steuer" säumig sind." Daneben nun die bisherige sogenannte
liberale Negierung und die thatsächlich fehlende Ordnung. Die alte Gewohnheit
des Bauern, auf Arbeit weithin umherzuwaudern, wird dnrch jene Zustände des
Gemeindebesitzes natürlich erhalten und gefördert. Er zieht also aus ans Arbeit;
er verdingt sich beim Großbesitzer A. auf eine Woche; B. bietet ihm morgen
einen Kopeken mehr, und er geht zu B.; A. kann ihm nichts anhaben und ver¬
sucht einen andern Arbeiter zu dingen. Das ist so üblich, daß es keineswegs
für Contractbruch, für pflichtwidrig gilt. Die Unsicherheit der Arbeiter ist überall
gleich und allgemein. Die Folge ist, daß auch der Großbesitz stets in seiner
Wirthschaft unsicher ist und vielfach zurückgeht. Er kann Arbeiter nur dann
bekomme", wenn der Bauer aus Noth gezwungen ist, Brod zu suchen; sobald


Russische Agrarzustände,

denn — kommen die drei Monate Hunger. Es giebt Gubernien, in denen über
16 Rubel jährlich auf die männliche Seele an Branntwein verbraucht wird,
und wo weniger vertrunken wird, da ist der Hauptgrund die geringere Menge
an Erworbnem, die dazu zur Verfügung steht. Das wirkt natürlich wieder zurück
auf die Zustünde in Haus und Hof, und daß der Bauer nicht längst alle Ge-
meiudeläudereicn versoffen hat, daran ist allein der Umstand schuld, daß er sie
nicht veräußern darf, daß es an ihn oder er an es festgeschmiedet ist. Vielleicht
wäre es das einfachste und beste, wenn man ihm gestattete, das Gemeindeland
zu vertrinken. So wäre man dieses Uebel los, und der Staat hätte Aussicht,
noch mehr aus der Branntwcinaccise an Steuern zu erhalten, als er schon be¬
zieht. Das sind nun bereits runde und überrunde 206 Millionen jährlich. Die
Haupteinnahme des Staates und daher eine wohl behütete Quelle. Der Trunk¬
sucht wird notorisch von Staatswegen Vorschub geleistet. Denn wiederholt ist,
besonders von einzelnen Geistlichen, versucht worden, dagegen aufzutreten, und
ist von Staats wegen genöthigt worden, die Agitation zu unterlassen. Trunk¬
sucht, Feiertage, gesetzlich vorgeschriebne Rnubwirthschaft auf dem bäuerlichen
Lande: das sind drei Stützen des Elendes von ansehnlicher Stärke. Dazu kommt
aber noch die Haftpflicht der Gemeinde für Abgaben und Leistungen ihrer Glieder.
Sobald ein Bauer seinen Acker besser bearbeiten wollte, käme er in den Ver¬
dacht, sich etwas erwerben zu wollen, und erwürbe er sich etwas, so müßte er
es für Gemeindeabgabcn hergeben, die seine faulen Nachbarn nicht zahlen können.
Wir lesen also aus dem Gubernium Tschernigow folgendes: „Hat ein Bauer
die Möglichkeit, durch Nebenarbeit etwas zu verdienen, so kümmert er sich nicht
um seine Wirthschaft, und wenn er mit Nebenarbeiten und Handwerk Geld er¬
worben hat, so vergeudet er es nicht zur Verbesserung seiner Wirthschaft, sondern
zieht es vor, seinen Sparpfennig zu verstecken aus Sorge, wegen der gemeinen
Haft verantwortlich zu werden für seine Gemeindegenossen, welche in Bezahlung
der Abgaben und Steuer» säumig sind." Daneben nun die bisherige sogenannte
liberale Negierung und die thatsächlich fehlende Ordnung. Die alte Gewohnheit
des Bauern, auf Arbeit weithin umherzuwaudern, wird dnrch jene Zustände des
Gemeindebesitzes natürlich erhalten und gefördert. Er zieht also aus ans Arbeit;
er verdingt sich beim Großbesitzer A. auf eine Woche; B. bietet ihm morgen
einen Kopeken mehr, und er geht zu B.; A. kann ihm nichts anhaben und ver¬
sucht einen andern Arbeiter zu dingen. Das ist so üblich, daß es keineswegs
für Contractbruch, für pflichtwidrig gilt. Die Unsicherheit der Arbeiter ist überall
gleich und allgemein. Die Folge ist, daß auch der Großbesitz stets in seiner
Wirthschaft unsicher ist und vielfach zurückgeht. Er kann Arbeiter nur dann
bekomme», wenn der Bauer aus Noth gezwungen ist, Brod zu suchen; sobald


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[0064] Russische Agrarzustände, denn — kommen die drei Monate Hunger. Es giebt Gubernien, in denen über 16 Rubel jährlich auf die männliche Seele an Branntwein verbraucht wird, und wo weniger vertrunken wird, da ist der Hauptgrund die geringere Menge an Erworbnem, die dazu zur Verfügung steht. Das wirkt natürlich wieder zurück auf die Zustünde in Haus und Hof, und daß der Bauer nicht längst alle Ge- meiudeläudereicn versoffen hat, daran ist allein der Umstand schuld, daß er sie nicht veräußern darf, daß es an ihn oder er an es festgeschmiedet ist. Vielleicht wäre es das einfachste und beste, wenn man ihm gestattete, das Gemeindeland zu vertrinken. So wäre man dieses Uebel los, und der Staat hätte Aussicht, noch mehr aus der Branntwcinaccise an Steuern zu erhalten, als er schon be¬ zieht. Das sind nun bereits runde und überrunde 206 Millionen jährlich. Die Haupteinnahme des Staates und daher eine wohl behütete Quelle. Der Trunk¬ sucht wird notorisch von Staatswegen Vorschub geleistet. Denn wiederholt ist, besonders von einzelnen Geistlichen, versucht worden, dagegen aufzutreten, und ist von Staats wegen genöthigt worden, die Agitation zu unterlassen. Trunk¬ sucht, Feiertage, gesetzlich vorgeschriebne Rnubwirthschaft auf dem bäuerlichen Lande: das sind drei Stützen des Elendes von ansehnlicher Stärke. Dazu kommt aber noch die Haftpflicht der Gemeinde für Abgaben und Leistungen ihrer Glieder. Sobald ein Bauer seinen Acker besser bearbeiten wollte, käme er in den Ver¬ dacht, sich etwas erwerben zu wollen, und erwürbe er sich etwas, so müßte er es für Gemeindeabgabcn hergeben, die seine faulen Nachbarn nicht zahlen können. Wir lesen also aus dem Gubernium Tschernigow folgendes: „Hat ein Bauer die Möglichkeit, durch Nebenarbeit etwas zu verdienen, so kümmert er sich nicht um seine Wirthschaft, und wenn er mit Nebenarbeiten und Handwerk Geld er¬ worben hat, so vergeudet er es nicht zur Verbesserung seiner Wirthschaft, sondern zieht es vor, seinen Sparpfennig zu verstecken aus Sorge, wegen der gemeinen Haft verantwortlich zu werden für seine Gemeindegenossen, welche in Bezahlung der Abgaben und Steuer» säumig sind." Daneben nun die bisherige sogenannte liberale Negierung und die thatsächlich fehlende Ordnung. Die alte Gewohnheit des Bauern, auf Arbeit weithin umherzuwaudern, wird dnrch jene Zustände des Gemeindebesitzes natürlich erhalten und gefördert. Er zieht also aus ans Arbeit; er verdingt sich beim Großbesitzer A. auf eine Woche; B. bietet ihm morgen einen Kopeken mehr, und er geht zu B.; A. kann ihm nichts anhaben und ver¬ sucht einen andern Arbeiter zu dingen. Das ist so üblich, daß es keineswegs für Contractbruch, für pflichtwidrig gilt. Die Unsicherheit der Arbeiter ist überall gleich und allgemein. Die Folge ist, daß auch der Großbesitz stets in seiner Wirthschaft unsicher ist und vielfach zurückgeht. Er kann Arbeiter nur dann bekomme», wenn der Bauer aus Noth gezwungen ist, Brod zu suchen; sobald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/64>, abgerufen am 01.09.2024.