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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Russische Agrarzustände,

aufkommen lassen, um sich selbst stets die besten Landstücke zutheilen zu lassen?
dann gegen die Trägheit der Majorität und das Herkommen in den landwirth-
schaftliche" Betriebsarten; endlich gegen das Unvermögen der Edelleute und die
Abneigung der Beamten, ihm bei Neuerungen behilflich zu sein. Er wird immer
wieder auf den freien Willen seiner Gemeindeversammlung zurückgewiesen, und
diese weiß entweder uicht zu helfen oder will nichts neues. Der Bauer hat die
Freiheit eines Rattenkönigs, er ist an die alte Mißwirthschaft festgeschmiedet, er
ist von Gesetzes wegen isolirt gegenüber dem Adel, geknechtet unter die Gemeinde.
Wie sollte man sich auch sonst manche andern Mißstände erklären, die im
Anwachsen begriffe" find? Es ist bekannt, daß in Rußland außerordentlich viele
Tage des Jahres zu den Feiertagen gerechnet werden. Aber wenn man meint,
daß ihre Zahl allmählich herabsinke, so kann man sich aus den Berichten der Commis¬
sion eines andern belehren. Die Zahl der Feiertage ist in der Zunahme, dieselben ent¬
stehen local, in dieser oder jener Gemeinde, und verbreiten sich von da aus weiter. In
einer Gemeinde wird, oft aus dem nichtigsten Grunde, beschlossen, am heutigen
oder morgenden Tage zu feiern; die Gemeinde verbietet bei Strafe ihren Ange¬
hörigen zu arbeiten, ein Trupp Bauern macht sich ins nächste Dorf auf und ver¬
langt, daß man auch dort die Arbeit einstelle, und das Gelage beginnt um sich zu
greifen, der Feiertag ist fertig, und er erhält gar den Segen der Kirche, da sie
davon ihren klingenden Vortheil zieht. Nach dem Commissionsbericht bestehen
Feiertage im Jahre: in dem Gubernium Smolensk 100, Räsan 100, Nowgorod
119, Wvronesch 120, Poltawa und Beßarabien 122, Kiew 125, Jekaterinoslaw
126, Cherson 129, nieder-Nowgorod 148. Das macht auf 10 Gubernien durch¬
schnittlich 121 Feiertage im Jahre. Man glaube nicht, daß diese Feierwuth auf
den langen Winter aufgespart wird. In Woronesch und Tambow wird vom
1. April bis zuni 1. October an 123 Tagen gearbeitet, an 60 Tagen nicht, vom
1. October bis zum 1. April giebt es 70 Feiertage; es besteht also eine ziemlich
gerechte Vertheilung aufs ganze Jahr. Wie ist es da möglich, andre Resultate zu
erwarten, als was wir z. B. aus dem Gubernium Orel hören: der Bauer ar¬
beite 5 Monate, feiere 4 Monate und hungere 3 Monate im Jahre; die Baner-
Wirthschaften sehen aus, als hätte sie der Feind zerstört. Und Orel ist ein sehr
fruchtbares Gubernium.

Schon hieraus, daß es der russische Bauer bis zu 148 Feiertagen im
Jahre gebracht hat, läßt sich auf die Größe eines weitern Uebels schließe", der
Trunksucht. Was thut der inüsziggehendc rohe Bauer an diesen Feiertagen
anders als Branntwein trinken! Sobald er einige Groschen verdient hat oder
die Ernte gemacht ist, wird Feiertag gemacht und das Verdiente vertrunken.
Es wird getrunken, so lauge uoch etwas zu verkaufe" ist vo" der Ernte, und


Russische Agrarzustände,

aufkommen lassen, um sich selbst stets die besten Landstücke zutheilen zu lassen?
dann gegen die Trägheit der Majorität und das Herkommen in den landwirth-
schaftliche» Betriebsarten; endlich gegen das Unvermögen der Edelleute und die
Abneigung der Beamten, ihm bei Neuerungen behilflich zu sein. Er wird immer
wieder auf den freien Willen seiner Gemeindeversammlung zurückgewiesen, und
diese weiß entweder uicht zu helfen oder will nichts neues. Der Bauer hat die
Freiheit eines Rattenkönigs, er ist an die alte Mißwirthschaft festgeschmiedet, er
ist von Gesetzes wegen isolirt gegenüber dem Adel, geknechtet unter die Gemeinde.
Wie sollte man sich auch sonst manche andern Mißstände erklären, die im
Anwachsen begriffe» find? Es ist bekannt, daß in Rußland außerordentlich viele
Tage des Jahres zu den Feiertagen gerechnet werden. Aber wenn man meint,
daß ihre Zahl allmählich herabsinke, so kann man sich aus den Berichten der Commis¬
sion eines andern belehren. Die Zahl der Feiertage ist in der Zunahme, dieselben ent¬
stehen local, in dieser oder jener Gemeinde, und verbreiten sich von da aus weiter. In
einer Gemeinde wird, oft aus dem nichtigsten Grunde, beschlossen, am heutigen
oder morgenden Tage zu feiern; die Gemeinde verbietet bei Strafe ihren Ange¬
hörigen zu arbeiten, ein Trupp Bauern macht sich ins nächste Dorf auf und ver¬
langt, daß man auch dort die Arbeit einstelle, und das Gelage beginnt um sich zu
greifen, der Feiertag ist fertig, und er erhält gar den Segen der Kirche, da sie
davon ihren klingenden Vortheil zieht. Nach dem Commissionsbericht bestehen
Feiertage im Jahre: in dem Gubernium Smolensk 100, Räsan 100, Nowgorod
119, Wvronesch 120, Poltawa und Beßarabien 122, Kiew 125, Jekaterinoslaw
126, Cherson 129, nieder-Nowgorod 148. Das macht auf 10 Gubernien durch¬
schnittlich 121 Feiertage im Jahre. Man glaube nicht, daß diese Feierwuth auf
den langen Winter aufgespart wird. In Woronesch und Tambow wird vom
1. April bis zuni 1. October an 123 Tagen gearbeitet, an 60 Tagen nicht, vom
1. October bis zum 1. April giebt es 70 Feiertage; es besteht also eine ziemlich
gerechte Vertheilung aufs ganze Jahr. Wie ist es da möglich, andre Resultate zu
erwarten, als was wir z. B. aus dem Gubernium Orel hören: der Bauer ar¬
beite 5 Monate, feiere 4 Monate und hungere 3 Monate im Jahre; die Baner-
Wirthschaften sehen aus, als hätte sie der Feind zerstört. Und Orel ist ein sehr
fruchtbares Gubernium.

Schon hieraus, daß es der russische Bauer bis zu 148 Feiertagen im
Jahre gebracht hat, läßt sich auf die Größe eines weitern Uebels schließe», der
Trunksucht. Was thut der inüsziggehendc rohe Bauer an diesen Feiertagen
anders als Branntwein trinken! Sobald er einige Groschen verdient hat oder
die Ernte gemacht ist, wird Feiertag gemacht und das Verdiente vertrunken.
Es wird getrunken, so lauge uoch etwas zu verkaufe» ist vo» der Ernte, und


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[0063] Russische Agrarzustände, aufkommen lassen, um sich selbst stets die besten Landstücke zutheilen zu lassen? dann gegen die Trägheit der Majorität und das Herkommen in den landwirth- schaftliche» Betriebsarten; endlich gegen das Unvermögen der Edelleute und die Abneigung der Beamten, ihm bei Neuerungen behilflich zu sein. Er wird immer wieder auf den freien Willen seiner Gemeindeversammlung zurückgewiesen, und diese weiß entweder uicht zu helfen oder will nichts neues. Der Bauer hat die Freiheit eines Rattenkönigs, er ist an die alte Mißwirthschaft festgeschmiedet, er ist von Gesetzes wegen isolirt gegenüber dem Adel, geknechtet unter die Gemeinde. Wie sollte man sich auch sonst manche andern Mißstände erklären, die im Anwachsen begriffe» find? Es ist bekannt, daß in Rußland außerordentlich viele Tage des Jahres zu den Feiertagen gerechnet werden. Aber wenn man meint, daß ihre Zahl allmählich herabsinke, so kann man sich aus den Berichten der Commis¬ sion eines andern belehren. Die Zahl der Feiertage ist in der Zunahme, dieselben ent¬ stehen local, in dieser oder jener Gemeinde, und verbreiten sich von da aus weiter. In einer Gemeinde wird, oft aus dem nichtigsten Grunde, beschlossen, am heutigen oder morgenden Tage zu feiern; die Gemeinde verbietet bei Strafe ihren Ange¬ hörigen zu arbeiten, ein Trupp Bauern macht sich ins nächste Dorf auf und ver¬ langt, daß man auch dort die Arbeit einstelle, und das Gelage beginnt um sich zu greifen, der Feiertag ist fertig, und er erhält gar den Segen der Kirche, da sie davon ihren klingenden Vortheil zieht. Nach dem Commissionsbericht bestehen Feiertage im Jahre: in dem Gubernium Smolensk 100, Räsan 100, Nowgorod 119, Wvronesch 120, Poltawa und Beßarabien 122, Kiew 125, Jekaterinoslaw 126, Cherson 129, nieder-Nowgorod 148. Das macht auf 10 Gubernien durch¬ schnittlich 121 Feiertage im Jahre. Man glaube nicht, daß diese Feierwuth auf den langen Winter aufgespart wird. In Woronesch und Tambow wird vom 1. April bis zuni 1. October an 123 Tagen gearbeitet, an 60 Tagen nicht, vom 1. October bis zum 1. April giebt es 70 Feiertage; es besteht also eine ziemlich gerechte Vertheilung aufs ganze Jahr. Wie ist es da möglich, andre Resultate zu erwarten, als was wir z. B. aus dem Gubernium Orel hören: der Bauer ar¬ beite 5 Monate, feiere 4 Monate und hungere 3 Monate im Jahre; die Baner- Wirthschaften sehen aus, als hätte sie der Feind zerstört. Und Orel ist ein sehr fruchtbares Gubernium. Schon hieraus, daß es der russische Bauer bis zu 148 Feiertagen im Jahre gebracht hat, läßt sich auf die Größe eines weitern Uebels schließe», der Trunksucht. Was thut der inüsziggehendc rohe Bauer an diesen Feiertagen anders als Branntwein trinken! Sobald er einige Groschen verdient hat oder die Ernte gemacht ist, wird Feiertag gemacht und das Verdiente vertrunken. Es wird getrunken, so lauge uoch etwas zu verkaufe» ist vo» der Ernte, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/63>, abgerufen am 25.11.2024.