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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Russische Agrarzustcinde.

Gemeinde, welche für die Abgaben und Lasten des gesammten Gemeindelandes
haftet, mit einem erhöhten Antheil an Lasten für den einzelnen. Die Rückstände
müssen sich immer schneller ansammeln, die Sicherheit, welche der Staat in der
Gemeindebürgschaft zu haben glaubte, verflüchtigt sich.

Das hat min neuerdings zu dem Project geführt, die bäuerlichen Zahlungen
für ihre Landloosc herabzusetzen. Wie aussichtslos aber dieser Plan ist, muß
sich jeder sagen, der die Umstände erwägt, welche zu der Noth der Bauern führten.
Was will man denn eigentlich noch erlassen? Es giebt Gnbernien, in denen der
Bauer für den Hectar keineswegs unfruchtbaren Landes 45 Kopeken (1 Mark)
jährlich an Rente und Capitaltilguug zahlt, ja sogar Gegenden, wo nur 36 Kopeken
(etwa 75 Pfennige) gezahlt werden. Wenn man um, wie geplant wird, bis zu
45 "/g von der Zahlung erließe, so hätte dort der Bauer für den Hectar Cultur¬
land circa 25, resp. 20 Kopeken (50 und 40 Pfennige) zu leisten. Ob man
wirtlich annehmen kann, daß, wenn er nicht 7 Mark für die 7 Hectare Land
zahlen kann, er bei einer Herabsetzung auf die Hälfte gedeihen werde? Schwer¬
lich. Der Staat hätte nur weitre Opfer gebracht, und die 3^z Mark könnte
der Bauer eben so wenig zahlen. Denn dieses Gemeindeland bezahlt eben nicht
mehr die Arbeit, der Bauer arbeitet mit wachsendem Unterschuß.

Es ist sehr bezeichnend, daß man bei aller Sorge um diese ernsten Zustände
wiederum zuerst nach solchen hohlen Mitteln der Staatshilfe greift, nur um dem
geliebten Nationalgötzen des Gemeindebesitzes nicht zu nahe treten zu müsse".
Der Fluch dieses Gemeindebesitzes wird aber noch gestärkt durch einen andern
Umstand: die unbeschränkte Jsolirung der bäuerlichen Gemeinden, welche
man freie Selbstverwaltung zu nennen beliebt. In ganz Rußland -- ich rede
immer nur von dem eigentlichen, slavischen Nußland -- lebt alles nur von dem
Odem, den die zarische Bureaukratie ihm einbläst. Nur eines ist ausgenommen:
die Bauergemeindc. Sie hat ihre freie Verwaltung, ihr freies Gericht, wählt
und beschließt nach Stimmenmehrheit auf ihren Versammlungen der erwachsnen
selbständigen Gemeindeglieder. Eine solche Verfassung könnte vielleicht recht schön
sein unter andern Umständen: wenn ein tüchtiger Adel wirthschaftlich den Bauern
leite", eine gute Beamtenevntrole die Thätigkeit der Gemeindebehörden regeln
könnte. Aber beides fehlt. Der Bauer ist theils durch die Verarmung des Adels,
theils durch Gesetz und Machination des Beamtenthums von aller andern Führung
als derjenigen der Beamten losgerissen, und diese Führung geht darauf aus,
ihm mit Recht oder Unrecht Geld aus der Tasche zu locken. Wo ein Bauer
seine Lage verbessern will, da stößt er erst gegen das Hemmniß des Gemeinde¬
besitzes, dann gegen einzelne Gemeindeglieder, welche ans gutem und bösem Wege
eine despotische Stellung in der Gemeinde erobert haben und keinen neben sich


Russische Agrarzustcinde.

Gemeinde, welche für die Abgaben und Lasten des gesammten Gemeindelandes
haftet, mit einem erhöhten Antheil an Lasten für den einzelnen. Die Rückstände
müssen sich immer schneller ansammeln, die Sicherheit, welche der Staat in der
Gemeindebürgschaft zu haben glaubte, verflüchtigt sich.

Das hat min neuerdings zu dem Project geführt, die bäuerlichen Zahlungen
für ihre Landloosc herabzusetzen. Wie aussichtslos aber dieser Plan ist, muß
sich jeder sagen, der die Umstände erwägt, welche zu der Noth der Bauern führten.
Was will man denn eigentlich noch erlassen? Es giebt Gnbernien, in denen der
Bauer für den Hectar keineswegs unfruchtbaren Landes 45 Kopeken (1 Mark)
jährlich an Rente und Capitaltilguug zahlt, ja sogar Gegenden, wo nur 36 Kopeken
(etwa 75 Pfennige) gezahlt werden. Wenn man um, wie geplant wird, bis zu
45 "/g von der Zahlung erließe, so hätte dort der Bauer für den Hectar Cultur¬
land circa 25, resp. 20 Kopeken (50 und 40 Pfennige) zu leisten. Ob man
wirtlich annehmen kann, daß, wenn er nicht 7 Mark für die 7 Hectare Land
zahlen kann, er bei einer Herabsetzung auf die Hälfte gedeihen werde? Schwer¬
lich. Der Staat hätte nur weitre Opfer gebracht, und die 3^z Mark könnte
der Bauer eben so wenig zahlen. Denn dieses Gemeindeland bezahlt eben nicht
mehr die Arbeit, der Bauer arbeitet mit wachsendem Unterschuß.

Es ist sehr bezeichnend, daß man bei aller Sorge um diese ernsten Zustände
wiederum zuerst nach solchen hohlen Mitteln der Staatshilfe greift, nur um dem
geliebten Nationalgötzen des Gemeindebesitzes nicht zu nahe treten zu müsse».
Der Fluch dieses Gemeindebesitzes wird aber noch gestärkt durch einen andern
Umstand: die unbeschränkte Jsolirung der bäuerlichen Gemeinden, welche
man freie Selbstverwaltung zu nennen beliebt. In ganz Rußland — ich rede
immer nur von dem eigentlichen, slavischen Nußland — lebt alles nur von dem
Odem, den die zarische Bureaukratie ihm einbläst. Nur eines ist ausgenommen:
die Bauergemeindc. Sie hat ihre freie Verwaltung, ihr freies Gericht, wählt
und beschließt nach Stimmenmehrheit auf ihren Versammlungen der erwachsnen
selbständigen Gemeindeglieder. Eine solche Verfassung könnte vielleicht recht schön
sein unter andern Umständen: wenn ein tüchtiger Adel wirthschaftlich den Bauern
leite», eine gute Beamtenevntrole die Thätigkeit der Gemeindebehörden regeln
könnte. Aber beides fehlt. Der Bauer ist theils durch die Verarmung des Adels,
theils durch Gesetz und Machination des Beamtenthums von aller andern Führung
als derjenigen der Beamten losgerissen, und diese Führung geht darauf aus,
ihm mit Recht oder Unrecht Geld aus der Tasche zu locken. Wo ein Bauer
seine Lage verbessern will, da stößt er erst gegen das Hemmniß des Gemeinde¬
besitzes, dann gegen einzelne Gemeindeglieder, welche ans gutem und bösem Wege
eine despotische Stellung in der Gemeinde erobert haben und keinen neben sich


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[0062] Russische Agrarzustcinde. Gemeinde, welche für die Abgaben und Lasten des gesammten Gemeindelandes haftet, mit einem erhöhten Antheil an Lasten für den einzelnen. Die Rückstände müssen sich immer schneller ansammeln, die Sicherheit, welche der Staat in der Gemeindebürgschaft zu haben glaubte, verflüchtigt sich. Das hat min neuerdings zu dem Project geführt, die bäuerlichen Zahlungen für ihre Landloosc herabzusetzen. Wie aussichtslos aber dieser Plan ist, muß sich jeder sagen, der die Umstände erwägt, welche zu der Noth der Bauern führten. Was will man denn eigentlich noch erlassen? Es giebt Gnbernien, in denen der Bauer für den Hectar keineswegs unfruchtbaren Landes 45 Kopeken (1 Mark) jährlich an Rente und Capitaltilguug zahlt, ja sogar Gegenden, wo nur 36 Kopeken (etwa 75 Pfennige) gezahlt werden. Wenn man um, wie geplant wird, bis zu 45 "/g von der Zahlung erließe, so hätte dort der Bauer für den Hectar Cultur¬ land circa 25, resp. 20 Kopeken (50 und 40 Pfennige) zu leisten. Ob man wirtlich annehmen kann, daß, wenn er nicht 7 Mark für die 7 Hectare Land zahlen kann, er bei einer Herabsetzung auf die Hälfte gedeihen werde? Schwer¬ lich. Der Staat hätte nur weitre Opfer gebracht, und die 3^z Mark könnte der Bauer eben so wenig zahlen. Denn dieses Gemeindeland bezahlt eben nicht mehr die Arbeit, der Bauer arbeitet mit wachsendem Unterschuß. Es ist sehr bezeichnend, daß man bei aller Sorge um diese ernsten Zustände wiederum zuerst nach solchen hohlen Mitteln der Staatshilfe greift, nur um dem geliebten Nationalgötzen des Gemeindebesitzes nicht zu nahe treten zu müsse». Der Fluch dieses Gemeindebesitzes wird aber noch gestärkt durch einen andern Umstand: die unbeschränkte Jsolirung der bäuerlichen Gemeinden, welche man freie Selbstverwaltung zu nennen beliebt. In ganz Rußland — ich rede immer nur von dem eigentlichen, slavischen Nußland — lebt alles nur von dem Odem, den die zarische Bureaukratie ihm einbläst. Nur eines ist ausgenommen: die Bauergemeindc. Sie hat ihre freie Verwaltung, ihr freies Gericht, wählt und beschließt nach Stimmenmehrheit auf ihren Versammlungen der erwachsnen selbständigen Gemeindeglieder. Eine solche Verfassung könnte vielleicht recht schön sein unter andern Umständen: wenn ein tüchtiger Adel wirthschaftlich den Bauern leite», eine gute Beamtenevntrole die Thätigkeit der Gemeindebehörden regeln könnte. Aber beides fehlt. Der Bauer ist theils durch die Verarmung des Adels, theils durch Gesetz und Machination des Beamtenthums von aller andern Führung als derjenigen der Beamten losgerissen, und diese Führung geht darauf aus, ihm mit Recht oder Unrecht Geld aus der Tasche zu locken. Wo ein Bauer seine Lage verbessern will, da stößt er erst gegen das Hemmniß des Gemeinde¬ besitzes, dann gegen einzelne Gemeindeglieder, welche ans gutem und bösem Wege eine despotische Stellung in der Gemeinde erobert haben und keinen neben sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/62>, abgerufen am 01.09.2024.