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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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man ein Dutzend Zeugenaussagen aus den russischen Gubernicu. Ich rede nicht
von den unrussischen Landestheilen des Westens und Ostens, die auch zumeist
in jener Sammlung von Zeugnissen ausgelassen sind. Es handelt sich hier um
das eigentliche Rußland mit seinen 1861 frei gewordnen Bauern und seinem so
lange als nativnalrussisch gepriesenen Gemeindelande. Es handelt sich um eine
bäuerliche Bevölkerung von über 20 Millionen männlicher Seelen. Das durch¬
schnittliche Bild, welches jene Zengnißsammlung von dem Zustande dieser Bauern
und ihrer Zukunft darbietet, ist ein erschreckendes.

Der natürliche Gegensatz, welcher von jeher in agrarer Beziehung zwischen
dein nördlichen und dem südlichen Rußland bestand, hat sich seit der Bauern¬
befreiung verschärft. Die damals decretirte Landzutheilung hat jenem Unter¬
schiede in den natürlichen Productiousbedinguugen nicht genügend Rechnung
getragen und ist dadurch für die Bauern der nördlichen Region nachtheilig aus¬
gefallen. Es ist eil: allgemeines Urtheil, daß der Bauer dort ein zu geringes
Landloos gegen meist zu hohe Ablösungsentschädigung erhalten habe. Wenn
man jedoch erwägt, daß das Landlovs zwischen 4 und 7 Heetar ans die männliche
Seele und die Jahreszahluug dafür zwischen ^/z und l'/z Rubel (annähernd)
beträgt, so erwacht ein Zweifel daran, ob die Höhe der Zahlung der Grund des
Mißbefindens der Bauern sei. Gewiß ist aber, daß das Mißbefinden des Bauern
in der Nordregivn eilt sehr allgemeines ist, daß er immer weniger imstande ist,
seine Ablvsnngsrentc und seine Abgaben zu zahlen, und daß die Rückstände jährlich
anwachsen, daß die Auswcmdruug nach Süd und Ost zunimmt und immer häufiger
das Ackerlandstück verlassen wird und verödet. Aus manchen Gubernieu, wie
dem Petersburger, Nowgvrvder, Witepsker, Näsaner, hört man, daß die bäuerlichen
Aecker um die Hälfte abgenommen haben, in andren Gegenden soll die bäuer¬
liche Bevölkerungszahl stark fallen. Bon dem südlichen Reichstheil heißt es,
daß zwar der Bauer von dem ihm zugefallnen Landlovsc leben könnte, wenn
nur nicht, wie es sich zeige, die Fruchtbarkeit desselben stetig sich verminderte.
Nach den frühern Annahmen gab der Acker im Norden das zweite bis dritte
Korn, im Süden das sechste bis achte, also schon eine mäßige Frucht. Jetzt
ertönt von allen Seiten die Klage, der bäuerliche Acker lohne kaum mehr die
Arbeit und werde immer unergiebiger. Und betrachtet man diesen russisch-
bäuerlichen sogenannten Landbau näher, so wird man sich darüber nicht wundern,
daß der bäuerliche Acker aufhört, Ernten zu liefern.

Da ist vor allem das herrliche uationalrussische Versicherungsinstitut gegen
Proletariat: der Gemeindebesitz. Jedermann hat sein Stück Acker, Wiese, Weide;
folglich ist niemand ohne Besitz, niemand in der Gefahr, Proletarier zu werden,
wie es so viele in dein verfaulten Europa siud. Das ist das Dogma. Und


man ein Dutzend Zeugenaussagen aus den russischen Gubernicu. Ich rede nicht
von den unrussischen Landestheilen des Westens und Ostens, die auch zumeist
in jener Sammlung von Zeugnissen ausgelassen sind. Es handelt sich hier um
das eigentliche Rußland mit seinen 1861 frei gewordnen Bauern und seinem so
lange als nativnalrussisch gepriesenen Gemeindelande. Es handelt sich um eine
bäuerliche Bevölkerung von über 20 Millionen männlicher Seelen. Das durch¬
schnittliche Bild, welches jene Zengnißsammlung von dem Zustande dieser Bauern
und ihrer Zukunft darbietet, ist ein erschreckendes.

Der natürliche Gegensatz, welcher von jeher in agrarer Beziehung zwischen
dein nördlichen und dem südlichen Rußland bestand, hat sich seit der Bauern¬
befreiung verschärft. Die damals decretirte Landzutheilung hat jenem Unter¬
schiede in den natürlichen Productiousbedinguugen nicht genügend Rechnung
getragen und ist dadurch für die Bauern der nördlichen Region nachtheilig aus¬
gefallen. Es ist eil: allgemeines Urtheil, daß der Bauer dort ein zu geringes
Landloos gegen meist zu hohe Ablösungsentschädigung erhalten habe. Wenn
man jedoch erwägt, daß das Landlovs zwischen 4 und 7 Heetar ans die männliche
Seele und die Jahreszahluug dafür zwischen ^/z und l'/z Rubel (annähernd)
beträgt, so erwacht ein Zweifel daran, ob die Höhe der Zahlung der Grund des
Mißbefindens der Bauern sei. Gewiß ist aber, daß das Mißbefinden des Bauern
in der Nordregivn eilt sehr allgemeines ist, daß er immer weniger imstande ist,
seine Ablvsnngsrentc und seine Abgaben zu zahlen, und daß die Rückstände jährlich
anwachsen, daß die Auswcmdruug nach Süd und Ost zunimmt und immer häufiger
das Ackerlandstück verlassen wird und verödet. Aus manchen Gubernieu, wie
dem Petersburger, Nowgvrvder, Witepsker, Näsaner, hört man, daß die bäuerlichen
Aecker um die Hälfte abgenommen haben, in andren Gegenden soll die bäuer¬
liche Bevölkerungszahl stark fallen. Bon dem südlichen Reichstheil heißt es,
daß zwar der Bauer von dem ihm zugefallnen Landlovsc leben könnte, wenn
nur nicht, wie es sich zeige, die Fruchtbarkeit desselben stetig sich verminderte.
Nach den frühern Annahmen gab der Acker im Norden das zweite bis dritte
Korn, im Süden das sechste bis achte, also schon eine mäßige Frucht. Jetzt
ertönt von allen Seiten die Klage, der bäuerliche Acker lohne kaum mehr die
Arbeit und werde immer unergiebiger. Und betrachtet man diesen russisch-
bäuerlichen sogenannten Landbau näher, so wird man sich darüber nicht wundern,
daß der bäuerliche Acker aufhört, Ernten zu liefern.

Da ist vor allem das herrliche uationalrussische Versicherungsinstitut gegen
Proletariat: der Gemeindebesitz. Jedermann hat sein Stück Acker, Wiese, Weide;
folglich ist niemand ohne Besitz, niemand in der Gefahr, Proletarier zu werden,
wie es so viele in dein verfaulten Europa siud. Das ist das Dogma. Und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/60>, abgerufen am 25.11.2024.