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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Dramatische Novellen.

eigenstes Talent auf andre Formen verweist, gleichsam zur Novellistik gedrängt
werden und endlich, daß nach allen Seiten hin experimentirt wird, um der er¬
zählenden Prosa neue Stoffe zuzuführen und neue Wirkungen zu gewinnen. Wir
haben bei verschiednen Gelegenheiten Zeugniß ablegen müssen, einen wie getheilten
Eindruck dergleichen Experimente hervorrusen und sind auch heute wieder in der
Lage, einen neuen Versuch dieser Art zu besprechen, welcher nur zu einem kleinen
Theil als geglückt betrachtet werden darf, obgleich er von einer wirklichen Be¬
gabung, einer auf dramatischem Gebiete durch die Tragödien "Brutus und Colla-
tinus" und "Die Bluthochzeit" bewährten Darstellungskraft ausgeht. Wir meinen
die kürzlich unter dem Titel "Völkerfrühling"*) erschienenen Novellen von
Albert Lindner, die ohne Frage eine ernste Theilnahme verdienen. Den Titel
rechtfertigt der Autor damit, daß seine drei Novellen Vorgänge behandeln, welche
bis dicht an die Schwelle einer ausbrechenden großen Bewegung, aus nationalem
Elend und Darniederliegen bis in das Morgenroth einer aufgehenden bessern
Zukunft heranführen. Gegen eine solche Gemeinsamkeit des geistigen Grundzugs
ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, nichts einzuwenden, es wird betreffenden
Falls nur darauf ankommen, daß der Novellist jede Eintönigkeit der Stimmung
und die leicht eintretende Wiederholung in der Charakteristik vermeide, und in
dieser Beziehung heben sich die Novellen des "Völkerfrühlings" scharf von einander
ab und bestätigen, daß der Dichter Phantasie und inneres Leben besitzt, und
daß die allgemeinen Tendenzphrasen, die er hie und da sich und den Lesern
nicht erspart, bei ihm keine Dürftigkeit zu verdecken haben.

Anders steht es um die Composition der drei Novellen, welche sich "Das
Erwachen des Adlers" (1640), "Rococco-Adel" (1788), "Wintersonnenwende"
(1812) betiteln. Lindner selbst bemerkt in der Vorrede: "Was die Composition
dieser Novellen betrifft, so ist Wohl möglich, daß Kritiker, welche ihren Beruf
nur in Tadel und Ausstellungen erkennen, diesen Arbeiten vorwerfen, sie ent¬
hielten einen viel zu stark ausgeprägten dramatischen Gang, der sich mit der
Natur der epischen Kunst nicht vertrüge. Wenn epische Kunst in willkürlicher
Durcheinanderhäufung von Thatsachen, Cultur- und Lomlschildernngen, breiten
Reflexionen und allerhand Detailmalerei bestehen soll, so mögen sie Recht haben.
Ich aber meine, daß eine Kunst, die von Hause aus das Recht beansprucht, lose
und willkürlich in der Form zu sein, nur gewinnen kann, wenn sie in die strengere
Schule einer höher organisirten Kunst geht und von derselben künstlerische An¬
ordnung der Handlung, einen auf den dramatischen Effect hin gefügten Bau,
une unzerbrechliche Gliederung des Geschehenden und eine mit plastischer Kraft
ausgestattete Charakteristik der Figuren lernt. Mit einem Worte meine ich: Es
kann der Novelle unter keinen Umständen schaden, wenn sie von der dramatischen
Kunst das nothwendige vom zufälligen sondern lernt."



*) Völkerfrühling. Drei historische Novellen von Albert Lindner. Berlin, Richard
Hanow, 1881.
Dramatische Novellen.

eigenstes Talent auf andre Formen verweist, gleichsam zur Novellistik gedrängt
werden und endlich, daß nach allen Seiten hin experimentirt wird, um der er¬
zählenden Prosa neue Stoffe zuzuführen und neue Wirkungen zu gewinnen. Wir
haben bei verschiednen Gelegenheiten Zeugniß ablegen müssen, einen wie getheilten
Eindruck dergleichen Experimente hervorrusen und sind auch heute wieder in der
Lage, einen neuen Versuch dieser Art zu besprechen, welcher nur zu einem kleinen
Theil als geglückt betrachtet werden darf, obgleich er von einer wirklichen Be¬
gabung, einer auf dramatischem Gebiete durch die Tragödien „Brutus und Colla-
tinus" und „Die Bluthochzeit" bewährten Darstellungskraft ausgeht. Wir meinen
die kürzlich unter dem Titel „Völkerfrühling"*) erschienenen Novellen von
Albert Lindner, die ohne Frage eine ernste Theilnahme verdienen. Den Titel
rechtfertigt der Autor damit, daß seine drei Novellen Vorgänge behandeln, welche
bis dicht an die Schwelle einer ausbrechenden großen Bewegung, aus nationalem
Elend und Darniederliegen bis in das Morgenroth einer aufgehenden bessern
Zukunft heranführen. Gegen eine solche Gemeinsamkeit des geistigen Grundzugs
ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, nichts einzuwenden, es wird betreffenden
Falls nur darauf ankommen, daß der Novellist jede Eintönigkeit der Stimmung
und die leicht eintretende Wiederholung in der Charakteristik vermeide, und in
dieser Beziehung heben sich die Novellen des „Völkerfrühlings" scharf von einander
ab und bestätigen, daß der Dichter Phantasie und inneres Leben besitzt, und
daß die allgemeinen Tendenzphrasen, die er hie und da sich und den Lesern
nicht erspart, bei ihm keine Dürftigkeit zu verdecken haben.

Anders steht es um die Composition der drei Novellen, welche sich „Das
Erwachen des Adlers" (1640), „Rococco-Adel" (1788), „Wintersonnenwende"
(1812) betiteln. Lindner selbst bemerkt in der Vorrede: „Was die Composition
dieser Novellen betrifft, so ist Wohl möglich, daß Kritiker, welche ihren Beruf
nur in Tadel und Ausstellungen erkennen, diesen Arbeiten vorwerfen, sie ent¬
hielten einen viel zu stark ausgeprägten dramatischen Gang, der sich mit der
Natur der epischen Kunst nicht vertrüge. Wenn epische Kunst in willkürlicher
Durcheinanderhäufung von Thatsachen, Cultur- und Lomlschildernngen, breiten
Reflexionen und allerhand Detailmalerei bestehen soll, so mögen sie Recht haben.
Ich aber meine, daß eine Kunst, die von Hause aus das Recht beansprucht, lose
und willkürlich in der Form zu sein, nur gewinnen kann, wenn sie in die strengere
Schule einer höher organisirten Kunst geht und von derselben künstlerische An¬
ordnung der Handlung, einen auf den dramatischen Effect hin gefügten Bau,
une unzerbrechliche Gliederung des Geschehenden und eine mit plastischer Kraft
ausgestattete Charakteristik der Figuren lernt. Mit einem Worte meine ich: Es
kann der Novelle unter keinen Umständen schaden, wenn sie von der dramatischen
Kunst das nothwendige vom zufälligen sondern lernt."



*) Völkerfrühling. Drei historische Novellen von Albert Lindner. Berlin, Richard
Hanow, 1881.
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[0569] Dramatische Novellen. eigenstes Talent auf andre Formen verweist, gleichsam zur Novellistik gedrängt werden und endlich, daß nach allen Seiten hin experimentirt wird, um der er¬ zählenden Prosa neue Stoffe zuzuführen und neue Wirkungen zu gewinnen. Wir haben bei verschiednen Gelegenheiten Zeugniß ablegen müssen, einen wie getheilten Eindruck dergleichen Experimente hervorrusen und sind auch heute wieder in der Lage, einen neuen Versuch dieser Art zu besprechen, welcher nur zu einem kleinen Theil als geglückt betrachtet werden darf, obgleich er von einer wirklichen Be¬ gabung, einer auf dramatischem Gebiete durch die Tragödien „Brutus und Colla- tinus" und „Die Bluthochzeit" bewährten Darstellungskraft ausgeht. Wir meinen die kürzlich unter dem Titel „Völkerfrühling"*) erschienenen Novellen von Albert Lindner, die ohne Frage eine ernste Theilnahme verdienen. Den Titel rechtfertigt der Autor damit, daß seine drei Novellen Vorgänge behandeln, welche bis dicht an die Schwelle einer ausbrechenden großen Bewegung, aus nationalem Elend und Darniederliegen bis in das Morgenroth einer aufgehenden bessern Zukunft heranführen. Gegen eine solche Gemeinsamkeit des geistigen Grundzugs ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, nichts einzuwenden, es wird betreffenden Falls nur darauf ankommen, daß der Novellist jede Eintönigkeit der Stimmung und die leicht eintretende Wiederholung in der Charakteristik vermeide, und in dieser Beziehung heben sich die Novellen des „Völkerfrühlings" scharf von einander ab und bestätigen, daß der Dichter Phantasie und inneres Leben besitzt, und daß die allgemeinen Tendenzphrasen, die er hie und da sich und den Lesern nicht erspart, bei ihm keine Dürftigkeit zu verdecken haben. Anders steht es um die Composition der drei Novellen, welche sich „Das Erwachen des Adlers" (1640), „Rococco-Adel" (1788), „Wintersonnenwende" (1812) betiteln. Lindner selbst bemerkt in der Vorrede: „Was die Composition dieser Novellen betrifft, so ist Wohl möglich, daß Kritiker, welche ihren Beruf nur in Tadel und Ausstellungen erkennen, diesen Arbeiten vorwerfen, sie ent¬ hielten einen viel zu stark ausgeprägten dramatischen Gang, der sich mit der Natur der epischen Kunst nicht vertrüge. Wenn epische Kunst in willkürlicher Durcheinanderhäufung von Thatsachen, Cultur- und Lomlschildernngen, breiten Reflexionen und allerhand Detailmalerei bestehen soll, so mögen sie Recht haben. Ich aber meine, daß eine Kunst, die von Hause aus das Recht beansprucht, lose und willkürlich in der Form zu sein, nur gewinnen kann, wenn sie in die strengere Schule einer höher organisirten Kunst geht und von derselben künstlerische An¬ ordnung der Handlung, einen auf den dramatischen Effect hin gefügten Bau, une unzerbrechliche Gliederung des Geschehenden und eine mit plastischer Kraft ausgestattete Charakteristik der Figuren lernt. Mit einem Worte meine ich: Es kann der Novelle unter keinen Umständen schaden, wenn sie von der dramatischen Kunst das nothwendige vom zufälligen sondern lernt." *) Völkerfrühling. Drei historische Novellen von Albert Lindner. Berlin, Richard Hanow, 1881.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/569>, abgerufen am 01.09.2024.