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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Rückblicke ans die Lehrorvcrscunmlung in Karlsruhe,

das gedächtnißmäßige Wissen auf diejenigen Stoffe beschränken, welche für die
harmonische Bildung des Schülers in religiös-sittlicher, nationaler und prak¬
tischer Hinsicht dauernd erforderlich sind" und "Im Interesse einer solchen har¬
monischen Bildung ist der Unterricht überall anschaulich zu begründen und sind
die gegenseitigen Beziehungen desselben sorgfältig zu pflegen." "Damit haben
wir gesagt," schloß Halben, "was wir thun wollen in unsern Schulen, damit
haben wir keine Vorwürfe auf uns selber geworfen, haben nicht gesagt, daß es
zur Zeit noch schlecht stehe in unsern Schulen." Der nächste Redner, Real-
schuldirector Heinrich (Prag), bekämpfte in gleicher Weise den Vortrag Furth.
Er glaube nicht, daß der Referent die böse Absicht habe, die Schule in den
Augen des Volkes herabzusetzen. In keinem Falle aber dürfe man einen solchen
Vortrag ohne Widerspruch hingehen lassen, in der jetzigen Zeit wäre dies sehr
gefährlich. Schließlich gab, nachdem noch einige Redner das Wort ergriffen
hatten, der Referent klein bei. Er habe, sagte er, die Erfahrung gemacht, daß
wenige Jahre nach dem Verlassen der Volksschule die meisten Menschen wieder
leer seien. Es müsse doch eine Ursache vorhanden sein, welche den Unterricht
zu einem unfruchtbaren gemacht habe, und darin stimmten auch andre bedeutende
Pädagogen überein, daß ein Allzuvielwissen, eine übermäßige Pflege des Gedächt¬
nisses, ein übermäßiges Einstopfen von Wissensstoff den Schüler in der That
geradezu dumm mache. Es sei doch psychologisch und pädagogisch festgestellt,
daß der Mensch nicht durch Aufnahme von viel und vielerlei einen weiten Blick
erhalte, sondern an wenigen Objecten könnten die geistigen Kräfte derart gestählt
und geschärft werden, daß sie vermöchten, alle Lebensverhältnisse zu überschauen.
Er habe nur der Versammlung eine Anregung bieten wollen, diese wichtige Frage
näher ins Auge zu fassen. Da aber seine Thesen allerdings zu weitgehend seien
und die Gefahr in sich bargen, daß dadurch reactionären Gelüsten auf dem
Wege der Schulbildung eine Handhabe gegeben werden könnte, so empfehle er
die Halbenschen Thesen zur Annahme und lasse die seinen fallen.

Der ganze Vorgang bei dieser Debatte ist außerordentlich bezeichnend. Nicht
pädagogische Erwägungen also bestimmen die Resolutionen, sondern politische
Rücksichten. Ein Redner mag immerhin Recht haben, darüber wird nicht debat-
tirt, sondern die Leserversammlung stellt sich in den Schatten einer Partei und
schweigt todt, was der andern Partei zur Waffe gegen sie dienen könnte. Handelt
es sich hier noch um das Wohl des Schülers oder um das des Lehrerstandes?
Und hat also Herr von Puttkamer so Unrecht, wenn er meint, jene Versamm¬
lungen hätten mit dem Berufe des Lehrers nichts zu thun?

Wir haben ein ziemlich ausführliches Referat über die in Karlsruhe ge¬
haltenen Vorträge gegeben. Es ist keiner darunter, der nicht in kleinerem Kreise
hätte gründlicher behandelt werden können. Nach dieser Seite hin ist also die
Nothwendigkeit einer allgemeinen deutschen Lehrerversammlung gewiß nicht zu
erweisen. Wie steht es im übrigen?


Grenzboten III. 1881, 7t
Rückblicke ans die Lehrorvcrscunmlung in Karlsruhe,

das gedächtnißmäßige Wissen auf diejenigen Stoffe beschränken, welche für die
harmonische Bildung des Schülers in religiös-sittlicher, nationaler und prak¬
tischer Hinsicht dauernd erforderlich sind" und „Im Interesse einer solchen har¬
monischen Bildung ist der Unterricht überall anschaulich zu begründen und sind
die gegenseitigen Beziehungen desselben sorgfältig zu pflegen." „Damit haben
wir gesagt," schloß Halben, „was wir thun wollen in unsern Schulen, damit
haben wir keine Vorwürfe auf uns selber geworfen, haben nicht gesagt, daß es
zur Zeit noch schlecht stehe in unsern Schulen." Der nächste Redner, Real-
schuldirector Heinrich (Prag), bekämpfte in gleicher Weise den Vortrag Furth.
Er glaube nicht, daß der Referent die böse Absicht habe, die Schule in den
Augen des Volkes herabzusetzen. In keinem Falle aber dürfe man einen solchen
Vortrag ohne Widerspruch hingehen lassen, in der jetzigen Zeit wäre dies sehr
gefährlich. Schließlich gab, nachdem noch einige Redner das Wort ergriffen
hatten, der Referent klein bei. Er habe, sagte er, die Erfahrung gemacht, daß
wenige Jahre nach dem Verlassen der Volksschule die meisten Menschen wieder
leer seien. Es müsse doch eine Ursache vorhanden sein, welche den Unterricht
zu einem unfruchtbaren gemacht habe, und darin stimmten auch andre bedeutende
Pädagogen überein, daß ein Allzuvielwissen, eine übermäßige Pflege des Gedächt¬
nisses, ein übermäßiges Einstopfen von Wissensstoff den Schüler in der That
geradezu dumm mache. Es sei doch psychologisch und pädagogisch festgestellt,
daß der Mensch nicht durch Aufnahme von viel und vielerlei einen weiten Blick
erhalte, sondern an wenigen Objecten könnten die geistigen Kräfte derart gestählt
und geschärft werden, daß sie vermöchten, alle Lebensverhältnisse zu überschauen.
Er habe nur der Versammlung eine Anregung bieten wollen, diese wichtige Frage
näher ins Auge zu fassen. Da aber seine Thesen allerdings zu weitgehend seien
und die Gefahr in sich bargen, daß dadurch reactionären Gelüsten auf dem
Wege der Schulbildung eine Handhabe gegeben werden könnte, so empfehle er
die Halbenschen Thesen zur Annahme und lasse die seinen fallen.

Der ganze Vorgang bei dieser Debatte ist außerordentlich bezeichnend. Nicht
pädagogische Erwägungen also bestimmen die Resolutionen, sondern politische
Rücksichten. Ein Redner mag immerhin Recht haben, darüber wird nicht debat-
tirt, sondern die Leserversammlung stellt sich in den Schatten einer Partei und
schweigt todt, was der andern Partei zur Waffe gegen sie dienen könnte. Handelt
es sich hier noch um das Wohl des Schülers oder um das des Lehrerstandes?
Und hat also Herr von Puttkamer so Unrecht, wenn er meint, jene Versamm¬
lungen hätten mit dem Berufe des Lehrers nichts zu thun?

Wir haben ein ziemlich ausführliches Referat über die in Karlsruhe ge¬
haltenen Vorträge gegeben. Es ist keiner darunter, der nicht in kleinerem Kreise
hätte gründlicher behandelt werden können. Nach dieser Seite hin ist also die
Nothwendigkeit einer allgemeinen deutschen Lehrerversammlung gewiß nicht zu
erweisen. Wie steht es im übrigen?


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[0565] Rückblicke ans die Lehrorvcrscunmlung in Karlsruhe, das gedächtnißmäßige Wissen auf diejenigen Stoffe beschränken, welche für die harmonische Bildung des Schülers in religiös-sittlicher, nationaler und prak¬ tischer Hinsicht dauernd erforderlich sind" und „Im Interesse einer solchen har¬ monischen Bildung ist der Unterricht überall anschaulich zu begründen und sind die gegenseitigen Beziehungen desselben sorgfältig zu pflegen." „Damit haben wir gesagt," schloß Halben, „was wir thun wollen in unsern Schulen, damit haben wir keine Vorwürfe auf uns selber geworfen, haben nicht gesagt, daß es zur Zeit noch schlecht stehe in unsern Schulen." Der nächste Redner, Real- schuldirector Heinrich (Prag), bekämpfte in gleicher Weise den Vortrag Furth. Er glaube nicht, daß der Referent die böse Absicht habe, die Schule in den Augen des Volkes herabzusetzen. In keinem Falle aber dürfe man einen solchen Vortrag ohne Widerspruch hingehen lassen, in der jetzigen Zeit wäre dies sehr gefährlich. Schließlich gab, nachdem noch einige Redner das Wort ergriffen hatten, der Referent klein bei. Er habe, sagte er, die Erfahrung gemacht, daß wenige Jahre nach dem Verlassen der Volksschule die meisten Menschen wieder leer seien. Es müsse doch eine Ursache vorhanden sein, welche den Unterricht zu einem unfruchtbaren gemacht habe, und darin stimmten auch andre bedeutende Pädagogen überein, daß ein Allzuvielwissen, eine übermäßige Pflege des Gedächt¬ nisses, ein übermäßiges Einstopfen von Wissensstoff den Schüler in der That geradezu dumm mache. Es sei doch psychologisch und pädagogisch festgestellt, daß der Mensch nicht durch Aufnahme von viel und vielerlei einen weiten Blick erhalte, sondern an wenigen Objecten könnten die geistigen Kräfte derart gestählt und geschärft werden, daß sie vermöchten, alle Lebensverhältnisse zu überschauen. Er habe nur der Versammlung eine Anregung bieten wollen, diese wichtige Frage näher ins Auge zu fassen. Da aber seine Thesen allerdings zu weitgehend seien und die Gefahr in sich bargen, daß dadurch reactionären Gelüsten auf dem Wege der Schulbildung eine Handhabe gegeben werden könnte, so empfehle er die Halbenschen Thesen zur Annahme und lasse die seinen fallen. Der ganze Vorgang bei dieser Debatte ist außerordentlich bezeichnend. Nicht pädagogische Erwägungen also bestimmen die Resolutionen, sondern politische Rücksichten. Ein Redner mag immerhin Recht haben, darüber wird nicht debat- tirt, sondern die Leserversammlung stellt sich in den Schatten einer Partei und schweigt todt, was der andern Partei zur Waffe gegen sie dienen könnte. Handelt es sich hier noch um das Wohl des Schülers oder um das des Lehrerstandes? Und hat also Herr von Puttkamer so Unrecht, wenn er meint, jene Versamm¬ lungen hätten mit dem Berufe des Lehrers nichts zu thun? Wir haben ein ziemlich ausführliches Referat über die in Karlsruhe ge¬ haltenen Vorträge gegeben. Es ist keiner darunter, der nicht in kleinerem Kreise hätte gründlicher behandelt werden können. Nach dieser Seite hin ist also die Nothwendigkeit einer allgemeinen deutschen Lehrerversammlung gewiß nicht zu erweisen. Wie steht es im übrigen? Grenzboten III. 1881, 7t

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/565>, abgerufen am 01.09.2024.