Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Völkerkunde "Osteuropas.

tung finden sich leicht, wenn man sich an die jüngsten kriegerischen Ereignisse
erinnert: die Engländer erschlossen Afghanistan, die Holländer Sumatra, die
Russen Centralasien,

Aehnliches läßt sich auch von dem letzten Kriege auf der Balkanhalbinsel
sagen, denn obgleich dieses Land seit den ältesten Zeiten mit den Geschicken und
der Geschichte Europas aufs engste verflochten ist und nie aufgehört hat, die
Blicke der Welt auf sich zu ziehen, so ist es dennoch sowohl in topographischer
als ethnographischer Beziehung weniger genan bekannt geworden als mancher
Theil der außereuropäischen Continente. Die Ursachen dieser auffallenden That¬
sache zu verfolgen würde zu weit von unsrer Aufgabe abführen; genug, sie ist
vorhanden. Und doch bietet die Balkanhalbinsel in ethnographischer Beziehung
ebenso interessante wie schwierige Probleme sür die Wissenschaft dar, denn es
darf jedenfalls als sicher gelten, daß dieselbe die bunteste Mannichfaltigkeit von
Völkern und Volksstämmen besitzt, eine Mannichfaltigkeit, die durch das Alter
einiger Stämme, durch die politischen Verschiebungen und die religiösen Wand¬
lungen noch erhöht wird. Mit der Lösung dieser ethnographischen Schwierig¬
keiten beschäftigt sich Lorenz Diefenbach in seiner vor kurzem erschienenen
Völkerkunde Osteuropas (Darmstadt, L. Brill, 1881), und es ist gewiß er¬
freulich, daß gerade ein auf diesem heiklen Gebiete so bewanderter Forscher wie
Diefenbach den verwirrten Knäuel der Völkerverhältnisse jener Landschaften in
die Hand genommen hat.

Eine Art Programm zu dem neu erschienenen Werke hatte der Verfasser
bereits 1877 beim Ausbruche des letzte" russisch-türkischen Krieges in dem kleinen
Buche: Die Volksstämme der europäischen Türkei herausgegeben.
Dort gab er eine orientirende Darstellung der betreffenden Volksstämme und
machte den Leser mit den Hauptthatsachcn aus der Volkskunde der Albanesen
(nebst Thrakern und Jllyriern), der Griechen, Romanen, Slaven (sammt den
Bulgaren), der Türken, Magyaren, Zigeuner, Armenier, Tscherkessen und Juden
bekannt. Durch sein jüngeres größeres Werk, die "Völkerkunde Osteuropas,"
will er das kleinere und ältere weiter ausführen, tiefer begründen und, wo es
nöthig ist, berichtigen. Es handelte sich zunächst darum, die durch das Schicksal
bunt durcheinander gewürfelten Volksstämme, die nur zum kleinsten Theile ihr
Centrum in der Halbinsel selbst haben, zum größern Theile das Land nur mit
ihrer Peripherie berühren oder nur inselartig in ihm vertreten sind, möglichst
scharf zu charakterisiren. Aus diesem Grunde wurde es nothwendig, aus den
Grenzen des ursprünglich gewählten Gebiets herauszuschreiten und in die nähern
und fernern Nachbarlandschaften überzutreten, wo die zu schildernden Stämme
ihre Heimat haben und ihre speciellen Eigenthümlichkeiten sich leichter und
schärfer feststellen ließen, als es auf dem für eine so bunte Bevölkerung ver¬
hältnißmäßig engen Raum der Balkanhalbinsel möglich gewesen wäre. Der
Verfasser konnte daher auch nicht bloß in Osteuropa bleiben, sondern mußte


Zur Völkerkunde «Osteuropas.

tung finden sich leicht, wenn man sich an die jüngsten kriegerischen Ereignisse
erinnert: die Engländer erschlossen Afghanistan, die Holländer Sumatra, die
Russen Centralasien,

Aehnliches läßt sich auch von dem letzten Kriege auf der Balkanhalbinsel
sagen, denn obgleich dieses Land seit den ältesten Zeiten mit den Geschicken und
der Geschichte Europas aufs engste verflochten ist und nie aufgehört hat, die
Blicke der Welt auf sich zu ziehen, so ist es dennoch sowohl in topographischer
als ethnographischer Beziehung weniger genan bekannt geworden als mancher
Theil der außereuropäischen Continente. Die Ursachen dieser auffallenden That¬
sache zu verfolgen würde zu weit von unsrer Aufgabe abführen; genug, sie ist
vorhanden. Und doch bietet die Balkanhalbinsel in ethnographischer Beziehung
ebenso interessante wie schwierige Probleme sür die Wissenschaft dar, denn es
darf jedenfalls als sicher gelten, daß dieselbe die bunteste Mannichfaltigkeit von
Völkern und Volksstämmen besitzt, eine Mannichfaltigkeit, die durch das Alter
einiger Stämme, durch die politischen Verschiebungen und die religiösen Wand¬
lungen noch erhöht wird. Mit der Lösung dieser ethnographischen Schwierig¬
keiten beschäftigt sich Lorenz Diefenbach in seiner vor kurzem erschienenen
Völkerkunde Osteuropas (Darmstadt, L. Brill, 1881), und es ist gewiß er¬
freulich, daß gerade ein auf diesem heiklen Gebiete so bewanderter Forscher wie
Diefenbach den verwirrten Knäuel der Völkerverhältnisse jener Landschaften in
die Hand genommen hat.

Eine Art Programm zu dem neu erschienenen Werke hatte der Verfasser
bereits 1877 beim Ausbruche des letzte» russisch-türkischen Krieges in dem kleinen
Buche: Die Volksstämme der europäischen Türkei herausgegeben.
Dort gab er eine orientirende Darstellung der betreffenden Volksstämme und
machte den Leser mit den Hauptthatsachcn aus der Volkskunde der Albanesen
(nebst Thrakern und Jllyriern), der Griechen, Romanen, Slaven (sammt den
Bulgaren), der Türken, Magyaren, Zigeuner, Armenier, Tscherkessen und Juden
bekannt. Durch sein jüngeres größeres Werk, die „Völkerkunde Osteuropas,"
will er das kleinere und ältere weiter ausführen, tiefer begründen und, wo es
nöthig ist, berichtigen. Es handelte sich zunächst darum, die durch das Schicksal
bunt durcheinander gewürfelten Volksstämme, die nur zum kleinsten Theile ihr
Centrum in der Halbinsel selbst haben, zum größern Theile das Land nur mit
ihrer Peripherie berühren oder nur inselartig in ihm vertreten sind, möglichst
scharf zu charakterisiren. Aus diesem Grunde wurde es nothwendig, aus den
Grenzen des ursprünglich gewählten Gebiets herauszuschreiten und in die nähern
und fernern Nachbarlandschaften überzutreten, wo die zu schildernden Stämme
ihre Heimat haben und ihre speciellen Eigenthümlichkeiten sich leichter und
schärfer feststellen ließen, als es auf dem für eine so bunte Bevölkerung ver¬
hältnißmäßig engen Raum der Balkanhalbinsel möglich gewesen wäre. Der
Verfasser konnte daher auch nicht bloß in Osteuropa bleiben, sondern mußte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0555" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150705"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Völkerkunde «Osteuropas.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1763" prev="#ID_1762"> tung finden sich leicht, wenn man sich an die jüngsten kriegerischen Ereignisse<lb/>
erinnert: die Engländer erschlossen Afghanistan, die Holländer Sumatra, die<lb/>
Russen Centralasien,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1764"> Aehnliches läßt sich auch von dem letzten Kriege auf der Balkanhalbinsel<lb/>
sagen, denn obgleich dieses Land seit den ältesten Zeiten mit den Geschicken und<lb/>
der Geschichte Europas aufs engste verflochten ist und nie aufgehört hat, die<lb/>
Blicke der Welt auf sich zu ziehen, so ist es dennoch sowohl in topographischer<lb/>
als ethnographischer Beziehung weniger genan bekannt geworden als mancher<lb/>
Theil der außereuropäischen Continente. Die Ursachen dieser auffallenden That¬<lb/>
sache zu verfolgen würde zu weit von unsrer Aufgabe abführen; genug, sie ist<lb/>
vorhanden. Und doch bietet die Balkanhalbinsel in ethnographischer Beziehung<lb/>
ebenso interessante wie schwierige Probleme sür die Wissenschaft dar, denn es<lb/>
darf jedenfalls als sicher gelten, daß dieselbe die bunteste Mannichfaltigkeit von<lb/>
Völkern und Volksstämmen besitzt, eine Mannichfaltigkeit, die durch das Alter<lb/>
einiger Stämme, durch die politischen Verschiebungen und die religiösen Wand¬<lb/>
lungen noch erhöht wird. Mit der Lösung dieser ethnographischen Schwierig¬<lb/>
keiten beschäftigt sich Lorenz Diefenbach in seiner vor kurzem erschienenen<lb/>
Völkerkunde Osteuropas (Darmstadt, L. Brill, 1881), und es ist gewiß er¬<lb/>
freulich, daß gerade ein auf diesem heiklen Gebiete so bewanderter Forscher wie<lb/>
Diefenbach den verwirrten Knäuel der Völkerverhältnisse jener Landschaften in<lb/>
die Hand genommen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1765" next="#ID_1766"> Eine Art Programm zu dem neu erschienenen Werke hatte der Verfasser<lb/>
bereits 1877 beim Ausbruche des letzte» russisch-türkischen Krieges in dem kleinen<lb/>
Buche: Die Volksstämme der europäischen Türkei herausgegeben.<lb/>
Dort gab er eine orientirende Darstellung der betreffenden Volksstämme und<lb/>
machte den Leser mit den Hauptthatsachcn aus der Volkskunde der Albanesen<lb/>
(nebst Thrakern und Jllyriern), der Griechen, Romanen, Slaven (sammt den<lb/>
Bulgaren), der Türken, Magyaren, Zigeuner, Armenier, Tscherkessen und Juden<lb/>
bekannt. Durch sein jüngeres größeres Werk, die &#x201E;Völkerkunde Osteuropas,"<lb/>
will er das kleinere und ältere weiter ausführen, tiefer begründen und, wo es<lb/>
nöthig ist, berichtigen. Es handelte sich zunächst darum, die durch das Schicksal<lb/>
bunt durcheinander gewürfelten Volksstämme, die nur zum kleinsten Theile ihr<lb/>
Centrum in der Halbinsel selbst haben, zum größern Theile das Land nur mit<lb/>
ihrer Peripherie berühren oder nur inselartig in ihm vertreten sind, möglichst<lb/>
scharf zu charakterisiren. Aus diesem Grunde wurde es nothwendig, aus den<lb/>
Grenzen des ursprünglich gewählten Gebiets herauszuschreiten und in die nähern<lb/>
und fernern Nachbarlandschaften überzutreten, wo die zu schildernden Stämme<lb/>
ihre Heimat haben und ihre speciellen Eigenthümlichkeiten sich leichter und<lb/>
schärfer feststellen ließen, als es auf dem für eine so bunte Bevölkerung ver¬<lb/>
hältnißmäßig engen Raum der Balkanhalbinsel möglich gewesen wäre. Der<lb/>
Verfasser konnte daher auch nicht bloß in Osteuropa bleiben, sondern mußte</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0555] Zur Völkerkunde «Osteuropas. tung finden sich leicht, wenn man sich an die jüngsten kriegerischen Ereignisse erinnert: die Engländer erschlossen Afghanistan, die Holländer Sumatra, die Russen Centralasien, Aehnliches läßt sich auch von dem letzten Kriege auf der Balkanhalbinsel sagen, denn obgleich dieses Land seit den ältesten Zeiten mit den Geschicken und der Geschichte Europas aufs engste verflochten ist und nie aufgehört hat, die Blicke der Welt auf sich zu ziehen, so ist es dennoch sowohl in topographischer als ethnographischer Beziehung weniger genan bekannt geworden als mancher Theil der außereuropäischen Continente. Die Ursachen dieser auffallenden That¬ sache zu verfolgen würde zu weit von unsrer Aufgabe abführen; genug, sie ist vorhanden. Und doch bietet die Balkanhalbinsel in ethnographischer Beziehung ebenso interessante wie schwierige Probleme sür die Wissenschaft dar, denn es darf jedenfalls als sicher gelten, daß dieselbe die bunteste Mannichfaltigkeit von Völkern und Volksstämmen besitzt, eine Mannichfaltigkeit, die durch das Alter einiger Stämme, durch die politischen Verschiebungen und die religiösen Wand¬ lungen noch erhöht wird. Mit der Lösung dieser ethnographischen Schwierig¬ keiten beschäftigt sich Lorenz Diefenbach in seiner vor kurzem erschienenen Völkerkunde Osteuropas (Darmstadt, L. Brill, 1881), und es ist gewiß er¬ freulich, daß gerade ein auf diesem heiklen Gebiete so bewanderter Forscher wie Diefenbach den verwirrten Knäuel der Völkerverhältnisse jener Landschaften in die Hand genommen hat. Eine Art Programm zu dem neu erschienenen Werke hatte der Verfasser bereits 1877 beim Ausbruche des letzte» russisch-türkischen Krieges in dem kleinen Buche: Die Volksstämme der europäischen Türkei herausgegeben. Dort gab er eine orientirende Darstellung der betreffenden Volksstämme und machte den Leser mit den Hauptthatsachcn aus der Volkskunde der Albanesen (nebst Thrakern und Jllyriern), der Griechen, Romanen, Slaven (sammt den Bulgaren), der Türken, Magyaren, Zigeuner, Armenier, Tscherkessen und Juden bekannt. Durch sein jüngeres größeres Werk, die „Völkerkunde Osteuropas," will er das kleinere und ältere weiter ausführen, tiefer begründen und, wo es nöthig ist, berichtigen. Es handelte sich zunächst darum, die durch das Schicksal bunt durcheinander gewürfelten Volksstämme, die nur zum kleinsten Theile ihr Centrum in der Halbinsel selbst haben, zum größern Theile das Land nur mit ihrer Peripherie berühren oder nur inselartig in ihm vertreten sind, möglichst scharf zu charakterisiren. Aus diesem Grunde wurde es nothwendig, aus den Grenzen des ursprünglich gewählten Gebiets herauszuschreiten und in die nähern und fernern Nachbarlandschaften überzutreten, wo die zu schildernden Stämme ihre Heimat haben und ihre speciellen Eigenthümlichkeiten sich leichter und schärfer feststellen ließen, als es auf dem für eine so bunte Bevölkerung ver¬ hältnißmäßig engen Raum der Balkanhalbinsel möglich gewesen wäre. Der Verfasser konnte daher auch nicht bloß in Osteuropa bleiben, sondern mußte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/555
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/555>, abgerufen am 01.09.2024.