Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
politische Briefe.

Processen schnöder Hartherzigkeit mit verzweifelnder Täuschung, wie bei dem
Haftpflichtgesetz, soll die moralische Kraft, die man entbinden will, getödtet
werden, sondern sie soll indirect reichlicher fließend gemacht werden. Die Ent¬
schädigungspflicht der Unternehmer soll den guten Willen derselben zur Vor-
sichtstcchnik anspornen; die rückgezahlten Prämien an die Arbeiter unfallfreier
Fabriken sollen die genossenschaftliche Disciplin erwecken, anstatt die gegenseitige
Unterstützung im Betrug zur Schädigung eines feindlichen Unternehmers. Das
letztere Mittel ist in dem Entwurf allerdings erst mangelhaft zum Ausdruck ge¬
laugt, aus Rücksicht auf die Socialismusfurcht der Gesetzgeber. Aber man wird
die Scheu vor dieser Furcht verlernen müssen und bald verlernen.

So wie die staatliche Armenpflege ein nicht geopferter Nest der Humanität,
d. h. des öffentlichen Pflichtgefühls im deutschen Staatsrecht ist, so thut das
Unfallversicherungsgesetz den nächsten Schritt, anzuerkennen, daß es eine Gesell¬
schaftsklasse giebt, welche der Gesellschaft für ihren Organismus nicht unent¬
behrlich ist und gegen welche sie doch seither ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Die
Gesellschaft lockt Menschen zur Familiengründung an, indem sie zuläßt, daß
ihnen der Lebensunterhalt des Tages angeboten wird, und läßt zu, daß mit
der jeden Tag möglichen Versagung dieses Unterhalts, mit der Unmöglichkeit,
aus demselben der Zukunft vorzusorgen, solche Familien inmitten der Gesellschafter!
in die Wildniß des Lasters und Elends gestoßen werden. Dieser Klasse wenig¬
stens muß der Staat oder die ganze Gesellschaft beispringen, nicht die Unter¬
nehmer allein, denen diese Klasse zunächst unentbehrlich ist. Diese Frage mag
übrigens noch weiter geprüft werden, nur muß die Unmöglichkeit anerkannt
werden, dieser Klasse für ihre eigene Zukunft oder ein bestimmtes Schicksal in
derselben etwas abzuverlangen.

Wie steht es nun mit dem Plane der Altersversorgung? Betreten wir mit
demselben nicht sogleich ein unübersehbares Gebiet? Wir werden es über¬
sehbar machen, indem wir es theilen. Die Altersversorgung kann nur stattfinden
innerhalb bestimmter organischer Verbände, sie kann nur stattfinden unter Er¬
füllung der corporativen Disciplin dieser Verbände, einer Disciplin, der wiederum
nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer unterworfen sein müsse".
Wenn die Unternehmer zur Altersversorgung gemeinsam mit den Arbeitern, ab¬
gesehen von jener von der Eigenhilfe zu befreienden Klasse, beitragen sollen, so
muß die Willkür des Arbeitscontracts auf beiden Seiten beschränkt werden.
Der Arbeiter, für dessen Alter er selbst und sein Arbeitsherr Leistungen ge¬
sammelt haben, ist nicht mehr das Marktobject, die Waare des heutigen, dem
Ungefähr wie das Sandhäufchen dem Wüstenstnrm preisgegebnen Proletariats.
Der Plan der Altersversorgung hat zur ersten Voraussetzung die Legung der
Grundsteine eines neuen Rechts zwischen Arbeiter und Arbeitsherrn, wie zwischen
den Arbeitern untereinander. Aber -- auch das wollen wir nicht verschweigen --
die Belastung der Unternehmungen mit neuen Pflichten setzt auch der Unter-


politische Briefe.

Processen schnöder Hartherzigkeit mit verzweifelnder Täuschung, wie bei dem
Haftpflichtgesetz, soll die moralische Kraft, die man entbinden will, getödtet
werden, sondern sie soll indirect reichlicher fließend gemacht werden. Die Ent¬
schädigungspflicht der Unternehmer soll den guten Willen derselben zur Vor-
sichtstcchnik anspornen; die rückgezahlten Prämien an die Arbeiter unfallfreier
Fabriken sollen die genossenschaftliche Disciplin erwecken, anstatt die gegenseitige
Unterstützung im Betrug zur Schädigung eines feindlichen Unternehmers. Das
letztere Mittel ist in dem Entwurf allerdings erst mangelhaft zum Ausdruck ge¬
laugt, aus Rücksicht auf die Socialismusfurcht der Gesetzgeber. Aber man wird
die Scheu vor dieser Furcht verlernen müssen und bald verlernen.

So wie die staatliche Armenpflege ein nicht geopferter Nest der Humanität,
d. h. des öffentlichen Pflichtgefühls im deutschen Staatsrecht ist, so thut das
Unfallversicherungsgesetz den nächsten Schritt, anzuerkennen, daß es eine Gesell¬
schaftsklasse giebt, welche der Gesellschaft für ihren Organismus nicht unent¬
behrlich ist und gegen welche sie doch seither ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Die
Gesellschaft lockt Menschen zur Familiengründung an, indem sie zuläßt, daß
ihnen der Lebensunterhalt des Tages angeboten wird, und läßt zu, daß mit
der jeden Tag möglichen Versagung dieses Unterhalts, mit der Unmöglichkeit,
aus demselben der Zukunft vorzusorgen, solche Familien inmitten der Gesellschafter!
in die Wildniß des Lasters und Elends gestoßen werden. Dieser Klasse wenig¬
stens muß der Staat oder die ganze Gesellschaft beispringen, nicht die Unter¬
nehmer allein, denen diese Klasse zunächst unentbehrlich ist. Diese Frage mag
übrigens noch weiter geprüft werden, nur muß die Unmöglichkeit anerkannt
werden, dieser Klasse für ihre eigene Zukunft oder ein bestimmtes Schicksal in
derselben etwas abzuverlangen.

Wie steht es nun mit dem Plane der Altersversorgung? Betreten wir mit
demselben nicht sogleich ein unübersehbares Gebiet? Wir werden es über¬
sehbar machen, indem wir es theilen. Die Altersversorgung kann nur stattfinden
innerhalb bestimmter organischer Verbände, sie kann nur stattfinden unter Er¬
füllung der corporativen Disciplin dieser Verbände, einer Disciplin, der wiederum
nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer unterworfen sein müsse».
Wenn die Unternehmer zur Altersversorgung gemeinsam mit den Arbeitern, ab¬
gesehen von jener von der Eigenhilfe zu befreienden Klasse, beitragen sollen, so
muß die Willkür des Arbeitscontracts auf beiden Seiten beschränkt werden.
Der Arbeiter, für dessen Alter er selbst und sein Arbeitsherr Leistungen ge¬
sammelt haben, ist nicht mehr das Marktobject, die Waare des heutigen, dem
Ungefähr wie das Sandhäufchen dem Wüstenstnrm preisgegebnen Proletariats.
Der Plan der Altersversorgung hat zur ersten Voraussetzung die Legung der
Grundsteine eines neuen Rechts zwischen Arbeiter und Arbeitsherrn, wie zwischen
den Arbeitern untereinander. Aber — auch das wollen wir nicht verschweigen —
die Belastung der Unternehmungen mit neuen Pflichten setzt auch der Unter-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150680"/>
          <fw type="header" place="top"> politische Briefe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1702" prev="#ID_1701"> Processen schnöder Hartherzigkeit mit verzweifelnder Täuschung, wie bei dem<lb/>
Haftpflichtgesetz, soll die moralische Kraft, die man entbinden will, getödtet<lb/>
werden, sondern sie soll indirect reichlicher fließend gemacht werden. Die Ent¬<lb/>
schädigungspflicht der Unternehmer soll den guten Willen derselben zur Vor-<lb/>
sichtstcchnik anspornen; die rückgezahlten Prämien an die Arbeiter unfallfreier<lb/>
Fabriken sollen die genossenschaftliche Disciplin erwecken, anstatt die gegenseitige<lb/>
Unterstützung im Betrug zur Schädigung eines feindlichen Unternehmers. Das<lb/>
letztere Mittel ist in dem Entwurf allerdings erst mangelhaft zum Ausdruck ge¬<lb/>
laugt, aus Rücksicht auf die Socialismusfurcht der Gesetzgeber. Aber man wird<lb/>
die Scheu vor dieser Furcht verlernen müssen und bald verlernen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1703"> So wie die staatliche Armenpflege ein nicht geopferter Nest der Humanität,<lb/>
d. h. des öffentlichen Pflichtgefühls im deutschen Staatsrecht ist, so thut das<lb/>
Unfallversicherungsgesetz den nächsten Schritt, anzuerkennen, daß es eine Gesell¬<lb/>
schaftsklasse giebt, welche der Gesellschaft für ihren Organismus nicht unent¬<lb/>
behrlich ist und gegen welche sie doch seither ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Die<lb/>
Gesellschaft lockt Menschen zur Familiengründung an, indem sie zuläßt, daß<lb/>
ihnen der Lebensunterhalt des Tages angeboten wird, und läßt zu, daß mit<lb/>
der jeden Tag möglichen Versagung dieses Unterhalts, mit der Unmöglichkeit,<lb/>
aus demselben der Zukunft vorzusorgen, solche Familien inmitten der Gesellschafter!<lb/>
in die Wildniß des Lasters und Elends gestoßen werden. Dieser Klasse wenig¬<lb/>
stens muß der Staat oder die ganze Gesellschaft beispringen, nicht die Unter¬<lb/>
nehmer allein, denen diese Klasse zunächst unentbehrlich ist. Diese Frage mag<lb/>
übrigens noch weiter geprüft werden, nur muß die Unmöglichkeit anerkannt<lb/>
werden, dieser Klasse für ihre eigene Zukunft oder ein bestimmtes Schicksal in<lb/>
derselben etwas abzuverlangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1704" next="#ID_1705"> Wie steht es nun mit dem Plane der Altersversorgung? Betreten wir mit<lb/>
demselben nicht sogleich ein unübersehbares Gebiet? Wir werden es über¬<lb/>
sehbar machen, indem wir es theilen. Die Altersversorgung kann nur stattfinden<lb/>
innerhalb bestimmter organischer Verbände, sie kann nur stattfinden unter Er¬<lb/>
füllung der corporativen Disciplin dieser Verbände, einer Disciplin, der wiederum<lb/>
nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer unterworfen sein müsse».<lb/>
Wenn die Unternehmer zur Altersversorgung gemeinsam mit den Arbeitern, ab¬<lb/>
gesehen von jener von der Eigenhilfe zu befreienden Klasse, beitragen sollen, so<lb/>
muß die Willkür des Arbeitscontracts auf beiden Seiten beschränkt werden.<lb/>
Der Arbeiter, für dessen Alter er selbst und sein Arbeitsherr Leistungen ge¬<lb/>
sammelt haben, ist nicht mehr das Marktobject, die Waare des heutigen, dem<lb/>
Ungefähr wie das Sandhäufchen dem Wüstenstnrm preisgegebnen Proletariats.<lb/>
Der Plan der Altersversorgung hat zur ersten Voraussetzung die Legung der<lb/>
Grundsteine eines neuen Rechts zwischen Arbeiter und Arbeitsherrn, wie zwischen<lb/>
den Arbeitern untereinander. Aber &#x2014; auch das wollen wir nicht verschweigen &#x2014;<lb/>
die Belastung der Unternehmungen mit neuen Pflichten setzt auch der Unter-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0530] politische Briefe. Processen schnöder Hartherzigkeit mit verzweifelnder Täuschung, wie bei dem Haftpflichtgesetz, soll die moralische Kraft, die man entbinden will, getödtet werden, sondern sie soll indirect reichlicher fließend gemacht werden. Die Ent¬ schädigungspflicht der Unternehmer soll den guten Willen derselben zur Vor- sichtstcchnik anspornen; die rückgezahlten Prämien an die Arbeiter unfallfreier Fabriken sollen die genossenschaftliche Disciplin erwecken, anstatt die gegenseitige Unterstützung im Betrug zur Schädigung eines feindlichen Unternehmers. Das letztere Mittel ist in dem Entwurf allerdings erst mangelhaft zum Ausdruck ge¬ laugt, aus Rücksicht auf die Socialismusfurcht der Gesetzgeber. Aber man wird die Scheu vor dieser Furcht verlernen müssen und bald verlernen. So wie die staatliche Armenpflege ein nicht geopferter Nest der Humanität, d. h. des öffentlichen Pflichtgefühls im deutschen Staatsrecht ist, so thut das Unfallversicherungsgesetz den nächsten Schritt, anzuerkennen, daß es eine Gesell¬ schaftsklasse giebt, welche der Gesellschaft für ihren Organismus nicht unent¬ behrlich ist und gegen welche sie doch seither ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Die Gesellschaft lockt Menschen zur Familiengründung an, indem sie zuläßt, daß ihnen der Lebensunterhalt des Tages angeboten wird, und läßt zu, daß mit der jeden Tag möglichen Versagung dieses Unterhalts, mit der Unmöglichkeit, aus demselben der Zukunft vorzusorgen, solche Familien inmitten der Gesellschafter! in die Wildniß des Lasters und Elends gestoßen werden. Dieser Klasse wenig¬ stens muß der Staat oder die ganze Gesellschaft beispringen, nicht die Unter¬ nehmer allein, denen diese Klasse zunächst unentbehrlich ist. Diese Frage mag übrigens noch weiter geprüft werden, nur muß die Unmöglichkeit anerkannt werden, dieser Klasse für ihre eigene Zukunft oder ein bestimmtes Schicksal in derselben etwas abzuverlangen. Wie steht es nun mit dem Plane der Altersversorgung? Betreten wir mit demselben nicht sogleich ein unübersehbares Gebiet? Wir werden es über¬ sehbar machen, indem wir es theilen. Die Altersversorgung kann nur stattfinden innerhalb bestimmter organischer Verbände, sie kann nur stattfinden unter Er¬ füllung der corporativen Disciplin dieser Verbände, einer Disciplin, der wiederum nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer unterworfen sein müsse». Wenn die Unternehmer zur Altersversorgung gemeinsam mit den Arbeitern, ab¬ gesehen von jener von der Eigenhilfe zu befreienden Klasse, beitragen sollen, so muß die Willkür des Arbeitscontracts auf beiden Seiten beschränkt werden. Der Arbeiter, für dessen Alter er selbst und sein Arbeitsherr Leistungen ge¬ sammelt haben, ist nicht mehr das Marktobject, die Waare des heutigen, dem Ungefähr wie das Sandhäufchen dem Wüstenstnrm preisgegebnen Proletariats. Der Plan der Altersversorgung hat zur ersten Voraussetzung die Legung der Grundsteine eines neuen Rechts zwischen Arbeiter und Arbeitsherrn, wie zwischen den Arbeitern untereinander. Aber — auch das wollen wir nicht verschweigen — die Belastung der Unternehmungen mit neuen Pflichten setzt auch der Unter-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/530
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/530>, abgerufen am 01.09.2024.