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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Politische Briefe.

nichts anders helfen. Es wird mit den socialen Heilmitteln des Kanzlers nicht
anders sein.

Die sociale Frage -- wie viele Köpfe haben sich an der l'lvßen Definition
des Problems gemüht, weil die Definition allerdings die Diagnose wäre! Wie
immer in solchen Fällen, hat man auch den Weg eingeschlagen, das Problem
zu leugnen, indem man es in eine Reihe von Problemen auflöst. Dem möchten
wir zustimmen, aber nur im historischen, nicht im technischen Sinne. Wir
meinen: das Deficit, aus welchem in den Gesellschaftsformen verschiedener Pe¬
rioden die sociale Disharmonie entspringt, ist ein verschiedenes. In der modernen
Cnlturepochc aber ist es ein einheitliches, gleichartiges, und alle technischen Arbeiten
zur Hebung desselben müssen sich an ein und dieselbe Quelle wenden. Von
allen genetischen Erklärungen der socialen Disharmonie in unsrer Epoche hat
bei weitem die zutreffendste der geistreiche Leroy-Beaulieu gegeben, in dem
Uebergewicht der industriellen Produetivnstechnik über die landwirthschaftliche.
Das Mißverhältnis^ wird auch nicht durch die Erfindungen ausgeglichen werden,
auf die einige Leute warten und die Getreide und Fleisch so produeirbar-
machen sollen wie Strümpfe, Papier und dergleichen: eine Welt, vor der es
einem Angst werden könnte. Dem Mißverhältnis;, welches Leroy-Beaulieu ent¬
deckt hat, liegt vielmehr ein tieferes zu Grunde, vielleicht die eigentliche Wurzel
der socialen Frage in unsrer Zeit. Es besteht ein Mißverhältnis^ zwischen der
materiellen Cultur und der moralischen, zwischen den materiellen und moralischen
Herrschaftsmitteln. Das Deficit liegt anf feiten der moralischen Kraft, aber
nicht weil ihre Quelle erschöpft ist, sondern weil ihre Anwendung den For¬
derungen des Zeitalters nicht entspricht. Die Pessimisten meinen, die Quelle
selbst sei am Versiegen; die Sittenprediger pumpen mit untauglichen Werkzeugen
an der Quelle, und die Pharisäer wollen sie gar mit dem Schmutz todter
Ueberlieferung zum Fließen bringen. Darum kann es sich bei ernsthaften Re¬
formplänen nicht handeln, den Imperativ, welchen der Wandsbecker Bote an
"uns" richtete, an die Arbeiter zu richten: "Wollt nur besser werden, gleich
wirds besser sein." Es handelt sich bei der socialen Frage um Ersatz des
moralischen Deficits durch Organisation der moralischen Kraft. Die
Quelle ist noch da, aber man muß ihr neue Röhren legen, und wenn sie erst
kräftig darin sprudelt, dann allerdings wird man auch die Quelle reinigen
müssen; aber das ist das Ende, nicht der Anfang. Bis man zu einem wirk¬
samen System von Röhren gelangt, muß man ein Rohr nach dem andern legen.
Es gilt die schmalen Gänge zu erweitern, es gilt zu verhüten, daß der mühsam
durchsickernde Quell tropfenweise unfruchtbar verzettelt werde. Jetzt wird mo¬
ralische Kraft verzettelt und infolge deren wirthschaftliche Kraft. Das mora¬
lische Deficit bewirkt ein wirthschaftliches, materielles Deficit.

Der Entwurf des Unfallvcrsicherungsgesetzes ist der erste meisterhafte Ver¬
such, der moralischen Kraft ein neues Rohr zu legen. Nicht in rabulistischen


Grenzboten III. Z881. 66
Politische Briefe.

nichts anders helfen. Es wird mit den socialen Heilmitteln des Kanzlers nicht
anders sein.

Die sociale Frage — wie viele Köpfe haben sich an der l'lvßen Definition
des Problems gemüht, weil die Definition allerdings die Diagnose wäre! Wie
immer in solchen Fällen, hat man auch den Weg eingeschlagen, das Problem
zu leugnen, indem man es in eine Reihe von Problemen auflöst. Dem möchten
wir zustimmen, aber nur im historischen, nicht im technischen Sinne. Wir
meinen: das Deficit, aus welchem in den Gesellschaftsformen verschiedener Pe¬
rioden die sociale Disharmonie entspringt, ist ein verschiedenes. In der modernen
Cnlturepochc aber ist es ein einheitliches, gleichartiges, und alle technischen Arbeiten
zur Hebung desselben müssen sich an ein und dieselbe Quelle wenden. Von
allen genetischen Erklärungen der socialen Disharmonie in unsrer Epoche hat
bei weitem die zutreffendste der geistreiche Leroy-Beaulieu gegeben, in dem
Uebergewicht der industriellen Produetivnstechnik über die landwirthschaftliche.
Das Mißverhältnis^ wird auch nicht durch die Erfindungen ausgeglichen werden,
auf die einige Leute warten und die Getreide und Fleisch so produeirbar-
machen sollen wie Strümpfe, Papier und dergleichen: eine Welt, vor der es
einem Angst werden könnte. Dem Mißverhältnis;, welches Leroy-Beaulieu ent¬
deckt hat, liegt vielmehr ein tieferes zu Grunde, vielleicht die eigentliche Wurzel
der socialen Frage in unsrer Zeit. Es besteht ein Mißverhältnis^ zwischen der
materiellen Cultur und der moralischen, zwischen den materiellen und moralischen
Herrschaftsmitteln. Das Deficit liegt anf feiten der moralischen Kraft, aber
nicht weil ihre Quelle erschöpft ist, sondern weil ihre Anwendung den For¬
derungen des Zeitalters nicht entspricht. Die Pessimisten meinen, die Quelle
selbst sei am Versiegen; die Sittenprediger pumpen mit untauglichen Werkzeugen
an der Quelle, und die Pharisäer wollen sie gar mit dem Schmutz todter
Ueberlieferung zum Fließen bringen. Darum kann es sich bei ernsthaften Re¬
formplänen nicht handeln, den Imperativ, welchen der Wandsbecker Bote an
„uns" richtete, an die Arbeiter zu richten: „Wollt nur besser werden, gleich
wirds besser sein." Es handelt sich bei der socialen Frage um Ersatz des
moralischen Deficits durch Organisation der moralischen Kraft. Die
Quelle ist noch da, aber man muß ihr neue Röhren legen, und wenn sie erst
kräftig darin sprudelt, dann allerdings wird man auch die Quelle reinigen
müssen; aber das ist das Ende, nicht der Anfang. Bis man zu einem wirk¬
samen System von Röhren gelangt, muß man ein Rohr nach dem andern legen.
Es gilt die schmalen Gänge zu erweitern, es gilt zu verhüten, daß der mühsam
durchsickernde Quell tropfenweise unfruchtbar verzettelt werde. Jetzt wird mo¬
ralische Kraft verzettelt und infolge deren wirthschaftliche Kraft. Das mora¬
lische Deficit bewirkt ein wirthschaftliches, materielles Deficit.

Der Entwurf des Unfallvcrsicherungsgesetzes ist der erste meisterhafte Ver¬
such, der moralischen Kraft ein neues Rohr zu legen. Nicht in rabulistischen


Grenzboten III. Z881. 66
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[0529] Politische Briefe. nichts anders helfen. Es wird mit den socialen Heilmitteln des Kanzlers nicht anders sein. Die sociale Frage — wie viele Köpfe haben sich an der l'lvßen Definition des Problems gemüht, weil die Definition allerdings die Diagnose wäre! Wie immer in solchen Fällen, hat man auch den Weg eingeschlagen, das Problem zu leugnen, indem man es in eine Reihe von Problemen auflöst. Dem möchten wir zustimmen, aber nur im historischen, nicht im technischen Sinne. Wir meinen: das Deficit, aus welchem in den Gesellschaftsformen verschiedener Pe¬ rioden die sociale Disharmonie entspringt, ist ein verschiedenes. In der modernen Cnlturepochc aber ist es ein einheitliches, gleichartiges, und alle technischen Arbeiten zur Hebung desselben müssen sich an ein und dieselbe Quelle wenden. Von allen genetischen Erklärungen der socialen Disharmonie in unsrer Epoche hat bei weitem die zutreffendste der geistreiche Leroy-Beaulieu gegeben, in dem Uebergewicht der industriellen Produetivnstechnik über die landwirthschaftliche. Das Mißverhältnis^ wird auch nicht durch die Erfindungen ausgeglichen werden, auf die einige Leute warten und die Getreide und Fleisch so produeirbar- machen sollen wie Strümpfe, Papier und dergleichen: eine Welt, vor der es einem Angst werden könnte. Dem Mißverhältnis;, welches Leroy-Beaulieu ent¬ deckt hat, liegt vielmehr ein tieferes zu Grunde, vielleicht die eigentliche Wurzel der socialen Frage in unsrer Zeit. Es besteht ein Mißverhältnis^ zwischen der materiellen Cultur und der moralischen, zwischen den materiellen und moralischen Herrschaftsmitteln. Das Deficit liegt anf feiten der moralischen Kraft, aber nicht weil ihre Quelle erschöpft ist, sondern weil ihre Anwendung den For¬ derungen des Zeitalters nicht entspricht. Die Pessimisten meinen, die Quelle selbst sei am Versiegen; die Sittenprediger pumpen mit untauglichen Werkzeugen an der Quelle, und die Pharisäer wollen sie gar mit dem Schmutz todter Ueberlieferung zum Fließen bringen. Darum kann es sich bei ernsthaften Re¬ formplänen nicht handeln, den Imperativ, welchen der Wandsbecker Bote an „uns" richtete, an die Arbeiter zu richten: „Wollt nur besser werden, gleich wirds besser sein." Es handelt sich bei der socialen Frage um Ersatz des moralischen Deficits durch Organisation der moralischen Kraft. Die Quelle ist noch da, aber man muß ihr neue Röhren legen, und wenn sie erst kräftig darin sprudelt, dann allerdings wird man auch die Quelle reinigen müssen; aber das ist das Ende, nicht der Anfang. Bis man zu einem wirk¬ samen System von Röhren gelangt, muß man ein Rohr nach dem andern legen. Es gilt die schmalen Gänge zu erweitern, es gilt zu verhüten, daß der mühsam durchsickernde Quell tropfenweise unfruchtbar verzettelt werde. Jetzt wird mo¬ ralische Kraft verzettelt und infolge deren wirthschaftliche Kraft. Das mora¬ lische Deficit bewirkt ein wirthschaftliches, materielles Deficit. Der Entwurf des Unfallvcrsicherungsgesetzes ist der erste meisterhafte Ver¬ such, der moralischen Kraft ein neues Rohr zu legen. Nicht in rabulistischen Grenzboten III. Z881. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/529>, abgerufen am 01.09.2024.