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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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gangenheit versenkt, die ihm bewegter, mächtiger, reizvoller erscheint, kann er wahr¬
haft poetische Resultate aus derselben gewinnen, kann sich aber ebensowohl daran
gewöhnen, ihre Äußerlichkeiten, ihre zufälligsten Vorgänge und ihr Costüm ohne
weitres für poetisch zu halten. Wie nahe ist nicht Lingg dieser Gefahr schon
in seinem großen epischen Gedicht "Die Völkerwandrung" gekommen! Auf wie
vielen Seiten, denen nur ein und das andre kühne Bild ein tiefres Interesse
leiht, wird das großangelegte Gedicht zu einer Reimchronik! Ueber wie viele
öde und unbelebte Partien der Erzählung, des historischen Referats müssen die
klangvollen, stolz dahinrauschenden Octaven hinweghelfen! Und doch hegte und
weckte der Dichter an seinem großen Stoffe ein tiefres und wärmeres Interesse,
der Zweifel, ob nicht anch uns eine Völkerwandrung, eine Nacht und Barbarei
bevorstehe, "in der bis auf den letzten bleichen Funken die alte Freiheit und
Cultur versunken," beseelt ihn und wirkt in den mächtigsten und lebendigsten
Partien des Gedichts eine ahnungsvolle und elegische Stimmung, ein Gefühl
der Theilnahme im Leser. Aber wie schon gegen den Schluß hin dem Dichter
die Kraft dieser Belebung des spröden, weitschichtigen, in keine einheitliche Com-
position zu zwingenden Stoffes versagte, wie sich Lingg auf Wirkungen zu ver¬
lassen begann, welche die Vorgänge der Völkerwandrung wohl in einer bestimmten
poetischen Auffassung, aber nicht an sich haben konnten, so gewöhnte sich der
Autor mehr und mehr daran, den Ueberlieferungen aus den ersten mittelalter¬
lichen Jahrhunderten eine poetische Bedeutung an sich zuzutrauen, Etwas ähn¬
liches mag ihm bei den "Byzantinischen Novellen" vorgeschwebt haben. Wir
wollen nicht von vornherein in Abrede stellen, daß Erzählungen aus Byzanz,
so fern und fremd und in gewissem Sinne selbst widrig uns diese ganze ost¬
römische Welt ist, zu poetischer Wirkung erhoben werden könnten. Aber dann
müßte der Dichter an Empfindungen und Erlebnisse anknüpfen, die uns ver¬
traut und verständlich sind, müßte an die Stelle der historischen Wahrheit seiner
Erzählungen die künstlerische Wahrscheinlichkeit setzen, welche ihr Gesetz immer
nur aus unsrer Cultur, unsrer Kunst, nicht aber aus einer vergangnen Kunst
empfängt. Statt dessen erzählt Lingg die Byzantinischen Geschichten in einem
völlig archaistischen Stil, er ahmt in gewissen Theilen seiner Erzählung die
byzantinischen Historiker nach und giebt die Begebenheiten mit der eigenthümlichen
Kälte und Gleichgiltigkeit jener Schriftsteller wieder, denen das besondre Schick¬
sal im allgemeinen Schicksal des Reichs und des Volks untergegangen ist. Wenn
es irgend die Aufgabe lebendiger Poesie sein könnte, den Ton einer vergangnen
Kunst zu treffen, so wäre das ein hohes Lob; in Wahrheit ist es ein Tadel.
Aus jeder einzelnen dieser Erzählungen spricht an irgend einer Stelle der Phantasie-
volle Dichter, den wir in Lingg ehren, aus dem Ganzen des Buches aber der
gefährliche Zug der gegenwärtigen Literatur, sich viel lieber ans das Seltsame,
Abenteuerliche und Bunte des Stoffes als auf die innre Theilnahme des Dichters
und der Leser zu verlassen.


gangenheit versenkt, die ihm bewegter, mächtiger, reizvoller erscheint, kann er wahr¬
haft poetische Resultate aus derselben gewinnen, kann sich aber ebensowohl daran
gewöhnen, ihre Äußerlichkeiten, ihre zufälligsten Vorgänge und ihr Costüm ohne
weitres für poetisch zu halten. Wie nahe ist nicht Lingg dieser Gefahr schon
in seinem großen epischen Gedicht „Die Völkerwandrung" gekommen! Auf wie
vielen Seiten, denen nur ein und das andre kühne Bild ein tiefres Interesse
leiht, wird das großangelegte Gedicht zu einer Reimchronik! Ueber wie viele
öde und unbelebte Partien der Erzählung, des historischen Referats müssen die
klangvollen, stolz dahinrauschenden Octaven hinweghelfen! Und doch hegte und
weckte der Dichter an seinem großen Stoffe ein tiefres und wärmeres Interesse,
der Zweifel, ob nicht anch uns eine Völkerwandrung, eine Nacht und Barbarei
bevorstehe, „in der bis auf den letzten bleichen Funken die alte Freiheit und
Cultur versunken," beseelt ihn und wirkt in den mächtigsten und lebendigsten
Partien des Gedichts eine ahnungsvolle und elegische Stimmung, ein Gefühl
der Theilnahme im Leser. Aber wie schon gegen den Schluß hin dem Dichter
die Kraft dieser Belebung des spröden, weitschichtigen, in keine einheitliche Com-
position zu zwingenden Stoffes versagte, wie sich Lingg auf Wirkungen zu ver¬
lassen begann, welche die Vorgänge der Völkerwandrung wohl in einer bestimmten
poetischen Auffassung, aber nicht an sich haben konnten, so gewöhnte sich der
Autor mehr und mehr daran, den Ueberlieferungen aus den ersten mittelalter¬
lichen Jahrhunderten eine poetische Bedeutung an sich zuzutrauen, Etwas ähn¬
liches mag ihm bei den „Byzantinischen Novellen" vorgeschwebt haben. Wir
wollen nicht von vornherein in Abrede stellen, daß Erzählungen aus Byzanz,
so fern und fremd und in gewissem Sinne selbst widrig uns diese ganze ost¬
römische Welt ist, zu poetischer Wirkung erhoben werden könnten. Aber dann
müßte der Dichter an Empfindungen und Erlebnisse anknüpfen, die uns ver¬
traut und verständlich sind, müßte an die Stelle der historischen Wahrheit seiner
Erzählungen die künstlerische Wahrscheinlichkeit setzen, welche ihr Gesetz immer
nur aus unsrer Cultur, unsrer Kunst, nicht aber aus einer vergangnen Kunst
empfängt. Statt dessen erzählt Lingg die Byzantinischen Geschichten in einem
völlig archaistischen Stil, er ahmt in gewissen Theilen seiner Erzählung die
byzantinischen Historiker nach und giebt die Begebenheiten mit der eigenthümlichen
Kälte und Gleichgiltigkeit jener Schriftsteller wieder, denen das besondre Schick¬
sal im allgemeinen Schicksal des Reichs und des Volks untergegangen ist. Wenn
es irgend die Aufgabe lebendiger Poesie sein könnte, den Ton einer vergangnen
Kunst zu treffen, so wäre das ein hohes Lob; in Wahrheit ist es ein Tadel.
Aus jeder einzelnen dieser Erzählungen spricht an irgend einer Stelle der Phantasie-
volle Dichter, den wir in Lingg ehren, aus dem Ganzen des Buches aber der
gefährliche Zug der gegenwärtigen Literatur, sich viel lieber ans das Seltsame,
Abenteuerliche und Bunte des Stoffes als auf die innre Theilnahme des Dichters
und der Leser zu verlassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/50>, abgerufen am 01.09.2024.