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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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politische Briefe.

artig zusammengesetztes Bundesreich auferlegt und uns einen unfertigen, nach
den verschiedensten Richtungen theils freiwillig, theils unfreiwillig auseinander-
gehenden Nativnalchnrakter hinterlassen. Die Fortbildung unsrer Einheit, das
heißt der Bestand unsrer politischen Nationalität, beruht auf der hegemonischen
Monarchie. Unsre Verfassung kann nur bezwecken, der Monarchie die mit¬
wirkenden Kräfte aus der Nation zur Seite zu stellen, sie kann auf lange,
lange nicht daran denken, den zusammenhaltenden Kern aus der zum Ornament
gewordnen Monarchie in irgend einen Volkskreis, der seinerseits eine regierende
Körperschaft entsendet, zu verlegen. Wenn nun der Liberalismus diese That¬
sache verkennt, wenn er die regierende Körperschaft fordert unter Aufstellung der
Fiction, der Liberalismus werde nach Einsetzung dieser Körperschaft sofort voll¬
bringen, was ihm bisher noch nie gelungen, nämlich die ganze auseiucmder-
strebende Nation zu seinen Principien und Dogmen zu bekehren, so müße jene
Frage aufgeworfen und endlich definitiv beantwortet werden. Die Einsicht muß
endlich Gemeingut der Gebildeten werden, warum der englische oligarchische
Parlamentarismus auf Deutschland nicht übertragbar ist, warum der bloße
Versuch dazu das kaum errungene Gut der Nationalität unwiderbringlich zer¬
stören, uns als Volk auf immer zerreißen und zertheilt der Hegemonie des
Auslandes überliefern müßte.

Aber mit merkwürdiger Lebendigkeit erhebt sich der deutsche Volksinstinkt
gegen den Liberalismus, der, eigensinnig auf einer mangelhaften Tradition be¬
harrend, den großen Moment der Geschichte verkennt, den unsre Tage bilden.
Der Volksinstinkt ahnt, daß der Liberalismus uns nicht nur den Erwerb der
jüngsten großen Vergangenheit gefährdet, sondern auch sich abwendet von den
Forderungen der Zukunft, welche diesen Erwerb erst festigen können: von der
Eigenständigkeit des Reiches durch ausreichende, dem Reiche gehörige Finanz-
quellen, von der moralischen Eroberung aller Klassen für das Reich und von
ihrer Versöhnung unter einander, von der Sicherung und angemessenen Ver-
theilung des gesammten Volkswohlstandes. Der Liberalismus glaubt diese Auf¬
gaben nach wie vor dem I^isssr "Her zuweisen zu können, während der In¬
stinkt des Volkes begreift, daß alle sociale und politische Harmonie ein Kunstwerk,
aber nicht ein Naturproduct ist. und daß das natürliche Wachsthum im besten
Falle das Chaos des Urwaldes hervorbringt, wenn nämlich niemand dieses Wachs¬
thum stört. So wendet sich der Voltsinstinkt anscheinend der Führung einer
Partei zu, welche für seine heißesten Wünsche lange Zeit nur Spott gehabt, welche
bei dem Werke der nationalen Wiedergeburt abseits gestanden hat. Aber diese Partei
tritt jetzt ein für die Monarchie, was sie immer gethan hat, für die Pläne des Kanzlers,
die mit den alten Voraussetzungen der Partei unvereinbar sind, für den Staats¬
mann selbst, den sie oft für einen Abtrünnigen erklärt hat. Die Partei hat
sich damit reformirt und muß sich nothwendig ans dem einmal betretenen Wege
noch weiter reformiren. Darum folgt ihr das Volk in immer großem Schaaren,
mit immer größerer Ueberwindung alter Antipathien. Dies ist der Umschwung
im deutschen Volke. So erklärt er sich.


politische Briefe.

artig zusammengesetztes Bundesreich auferlegt und uns einen unfertigen, nach
den verschiedensten Richtungen theils freiwillig, theils unfreiwillig auseinander-
gehenden Nativnalchnrakter hinterlassen. Die Fortbildung unsrer Einheit, das
heißt der Bestand unsrer politischen Nationalität, beruht auf der hegemonischen
Monarchie. Unsre Verfassung kann nur bezwecken, der Monarchie die mit¬
wirkenden Kräfte aus der Nation zur Seite zu stellen, sie kann auf lange,
lange nicht daran denken, den zusammenhaltenden Kern aus der zum Ornament
gewordnen Monarchie in irgend einen Volkskreis, der seinerseits eine regierende
Körperschaft entsendet, zu verlegen. Wenn nun der Liberalismus diese That¬
sache verkennt, wenn er die regierende Körperschaft fordert unter Aufstellung der
Fiction, der Liberalismus werde nach Einsetzung dieser Körperschaft sofort voll¬
bringen, was ihm bisher noch nie gelungen, nämlich die ganze auseiucmder-
strebende Nation zu seinen Principien und Dogmen zu bekehren, so müße jene
Frage aufgeworfen und endlich definitiv beantwortet werden. Die Einsicht muß
endlich Gemeingut der Gebildeten werden, warum der englische oligarchische
Parlamentarismus auf Deutschland nicht übertragbar ist, warum der bloße
Versuch dazu das kaum errungene Gut der Nationalität unwiderbringlich zer¬
stören, uns als Volk auf immer zerreißen und zertheilt der Hegemonie des
Auslandes überliefern müßte.

Aber mit merkwürdiger Lebendigkeit erhebt sich der deutsche Volksinstinkt
gegen den Liberalismus, der, eigensinnig auf einer mangelhaften Tradition be¬
harrend, den großen Moment der Geschichte verkennt, den unsre Tage bilden.
Der Volksinstinkt ahnt, daß der Liberalismus uns nicht nur den Erwerb der
jüngsten großen Vergangenheit gefährdet, sondern auch sich abwendet von den
Forderungen der Zukunft, welche diesen Erwerb erst festigen können: von der
Eigenständigkeit des Reiches durch ausreichende, dem Reiche gehörige Finanz-
quellen, von der moralischen Eroberung aller Klassen für das Reich und von
ihrer Versöhnung unter einander, von der Sicherung und angemessenen Ver-
theilung des gesammten Volkswohlstandes. Der Liberalismus glaubt diese Auf¬
gaben nach wie vor dem I^isssr »Her zuweisen zu können, während der In¬
stinkt des Volkes begreift, daß alle sociale und politische Harmonie ein Kunstwerk,
aber nicht ein Naturproduct ist. und daß das natürliche Wachsthum im besten
Falle das Chaos des Urwaldes hervorbringt, wenn nämlich niemand dieses Wachs¬
thum stört. So wendet sich der Voltsinstinkt anscheinend der Führung einer
Partei zu, welche für seine heißesten Wünsche lange Zeit nur Spott gehabt, welche
bei dem Werke der nationalen Wiedergeburt abseits gestanden hat. Aber diese Partei
tritt jetzt ein für die Monarchie, was sie immer gethan hat, für die Pläne des Kanzlers,
die mit den alten Voraussetzungen der Partei unvereinbar sind, für den Staats¬
mann selbst, den sie oft für einen Abtrünnigen erklärt hat. Die Partei hat
sich damit reformirt und muß sich nothwendig ans dem einmal betretenen Wege
noch weiter reformiren. Darum folgt ihr das Volk in immer großem Schaaren,
mit immer größerer Ueberwindung alter Antipathien. Dies ist der Umschwung
im deutschen Volke. So erklärt er sich.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/485>, abgerufen am 25.11.2024.