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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Politische Briefe,

Auch heute und mehr noch als vor zwei Jahren kann, wer "Plötzlich wieder
eintritt in die stürmische deutsche Welt/' sich des Schreckens nicht erwehren; aber
der Schrecken wird nicht wie damals hervorgerufen durch das, was unter der
Oberfläche der Tagesbewegung vorgeht, sondern durch den stnrmzerrissenen An¬
blick dieser Oberflüche selbst, auf welche um alles emporgestiegen ist, was Treitschke
vor zwei Jahren in der Tiefe wahrnahm. Es ist in der That mehr als ober¬
flächlich, diesen Sturm zurückzuführen auf die Manöver der preußisch-deutschen
Regieruugspresse, wie es die "Nationalzcitnng" noch um 3, August versucht hat
in einem Artikel, welcher davon ausging, daß Deutschland noch niemals eine so
"wüste und häßliche Wahlbewegnng" wie die gegenwärtige erlebt habe, als deren
Hauptzug die Verdrängung der sachlichen durch die persönliche Polemik ange¬
geben war. Die Schuld an diesem "überaus beschämenden Schauspiel" ward
von der "Nationalzeitung" wesentlich auf die Regierung gewälzt. Weil diese
kein sachliches Programm habe und nicht haben könne, da das persönliche Re¬
giment sich immer schärfer zuspitze, was so viel heißen sollte, als immer mehr
Selbstzweck werde, habe der Wahlkampf kein Ziel als diejenigen niederzuwerfen,
welche nicht das persönliche Regiment des Kanzlers wollten. So nicht die Worte,
aber der genaue Sinn dessen, was die "Nativnalzeitung" am 3. August ausführte.

In der That erweckt dieser Wahlkampf den Anschein eines Kampfes gegen
Männer und nicht für Maßregeln. Entspricht der Anschein der Sache? Und
wenn nicht, woher kommt dieser Anschein? -- Um auf diese Frage die Autwort
zu finden, müssen wir die Vorfrage stellen: Ist es wirklich die Regierung ge¬
wesen, welche in den gegenwärtigen Wahlkampf das persönliche Element getragen
hat, das in demselben sich so breit macht, wenn die Triebfeder" desselben mit diesem
Element auch keineswegs erschöpft sind? Giebt es wirklich einen ehrlichen Manu,
der diese letzte Frage bejahen und einem ehrlichen Mann dabei ins Auge sehen kann?

Im Spätsommer 1879, gleich nachdem im Reichstage die Reform des Zoll¬
tarifs durchgekämpft worden war, wurde von der Fortschrittspartei die Losung
auszugeben versucht: "Der Reichskanzler, Fürst Bismarck, muß fort von seinem
Platze!" Diese Losung wurde jedoch innerhalb der Fortschrittspartei selbst, von
der "Kieler Zeitung" namentlich, zurückgewiesen und von dem radikalen Theile
der Partei uicht aufrecht gehalten, weil die Anzeichen einer allgemeinen Mi߬
billigung hervortraten. So errang die Fortschrittspartei bei den preußischen
Landtagswahlen von 1879 nicht nur keine neuen Sitze, sondern sie verlor deren
29, die Conservativen aber gewannen 88 Sitze und erreichten eine Gesammt-
zcchl von 165 Mandaten. Im März 1880 erfolgten jene englischen Wahlen,
bei denen unter Gladstones Führung die verbündeten Whigs, Nculiberalen und
Radikalen eine unerwartete Mehrheit gewannen und das Ministerium Beaevns-
sÄd zum Rücktritt nöthigten. Jetzt gab der deutsche Fortschritt, vor alleu sein
rührigstes Mitglied Herr Eugen Richter, unermüdlich die Losung ans, diese eng¬
lischen Wahlen müßte" das Vorbild der 1881 bevorstehenden Neuwahlen zum


Grenzboten III. 1881. 60
Politische Briefe,

Auch heute und mehr noch als vor zwei Jahren kann, wer „Plötzlich wieder
eintritt in die stürmische deutsche Welt/' sich des Schreckens nicht erwehren; aber
der Schrecken wird nicht wie damals hervorgerufen durch das, was unter der
Oberfläche der Tagesbewegung vorgeht, sondern durch den stnrmzerrissenen An¬
blick dieser Oberflüche selbst, auf welche um alles emporgestiegen ist, was Treitschke
vor zwei Jahren in der Tiefe wahrnahm. Es ist in der That mehr als ober¬
flächlich, diesen Sturm zurückzuführen auf die Manöver der preußisch-deutschen
Regieruugspresse, wie es die „Nationalzcitnng" noch um 3, August versucht hat
in einem Artikel, welcher davon ausging, daß Deutschland noch niemals eine so
„wüste und häßliche Wahlbewegnng" wie die gegenwärtige erlebt habe, als deren
Hauptzug die Verdrängung der sachlichen durch die persönliche Polemik ange¬
geben war. Die Schuld an diesem „überaus beschämenden Schauspiel" ward
von der „Nationalzeitung" wesentlich auf die Regierung gewälzt. Weil diese
kein sachliches Programm habe und nicht haben könne, da das persönliche Re¬
giment sich immer schärfer zuspitze, was so viel heißen sollte, als immer mehr
Selbstzweck werde, habe der Wahlkampf kein Ziel als diejenigen niederzuwerfen,
welche nicht das persönliche Regiment des Kanzlers wollten. So nicht die Worte,
aber der genaue Sinn dessen, was die „Nativnalzeitung" am 3. August ausführte.

In der That erweckt dieser Wahlkampf den Anschein eines Kampfes gegen
Männer und nicht für Maßregeln. Entspricht der Anschein der Sache? Und
wenn nicht, woher kommt dieser Anschein? — Um auf diese Frage die Autwort
zu finden, müssen wir die Vorfrage stellen: Ist es wirklich die Regierung ge¬
wesen, welche in den gegenwärtigen Wahlkampf das persönliche Element getragen
hat, das in demselben sich so breit macht, wenn die Triebfeder» desselben mit diesem
Element auch keineswegs erschöpft sind? Giebt es wirklich einen ehrlichen Manu,
der diese letzte Frage bejahen und einem ehrlichen Mann dabei ins Auge sehen kann?

Im Spätsommer 1879, gleich nachdem im Reichstage die Reform des Zoll¬
tarifs durchgekämpft worden war, wurde von der Fortschrittspartei die Losung
auszugeben versucht: „Der Reichskanzler, Fürst Bismarck, muß fort von seinem
Platze!" Diese Losung wurde jedoch innerhalb der Fortschrittspartei selbst, von
der „Kieler Zeitung" namentlich, zurückgewiesen und von dem radikalen Theile
der Partei uicht aufrecht gehalten, weil die Anzeichen einer allgemeinen Mi߬
billigung hervortraten. So errang die Fortschrittspartei bei den preußischen
Landtagswahlen von 1879 nicht nur keine neuen Sitze, sondern sie verlor deren
29, die Conservativen aber gewannen 88 Sitze und erreichten eine Gesammt-
zcchl von 165 Mandaten. Im März 1880 erfolgten jene englischen Wahlen,
bei denen unter Gladstones Führung die verbündeten Whigs, Nculiberalen und
Radikalen eine unerwartete Mehrheit gewannen und das Ministerium Beaevns-
sÄd zum Rücktritt nöthigten. Jetzt gab der deutsche Fortschritt, vor alleu sein
rührigstes Mitglied Herr Eugen Richter, unermüdlich die Losung ans, diese eng¬
lischen Wahlen müßte» das Vorbild der 1881 bevorstehenden Neuwahlen zum


Grenzboten III. 1881. 60
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[0481] Politische Briefe, Auch heute und mehr noch als vor zwei Jahren kann, wer „Plötzlich wieder eintritt in die stürmische deutsche Welt/' sich des Schreckens nicht erwehren; aber der Schrecken wird nicht wie damals hervorgerufen durch das, was unter der Oberfläche der Tagesbewegung vorgeht, sondern durch den stnrmzerrissenen An¬ blick dieser Oberflüche selbst, auf welche um alles emporgestiegen ist, was Treitschke vor zwei Jahren in der Tiefe wahrnahm. Es ist in der That mehr als ober¬ flächlich, diesen Sturm zurückzuführen auf die Manöver der preußisch-deutschen Regieruugspresse, wie es die „Nationalzcitnng" noch um 3, August versucht hat in einem Artikel, welcher davon ausging, daß Deutschland noch niemals eine so „wüste und häßliche Wahlbewegnng" wie die gegenwärtige erlebt habe, als deren Hauptzug die Verdrängung der sachlichen durch die persönliche Polemik ange¬ geben war. Die Schuld an diesem „überaus beschämenden Schauspiel" ward von der „Nationalzeitung" wesentlich auf die Regierung gewälzt. Weil diese kein sachliches Programm habe und nicht haben könne, da das persönliche Re¬ giment sich immer schärfer zuspitze, was so viel heißen sollte, als immer mehr Selbstzweck werde, habe der Wahlkampf kein Ziel als diejenigen niederzuwerfen, welche nicht das persönliche Regiment des Kanzlers wollten. So nicht die Worte, aber der genaue Sinn dessen, was die „Nativnalzeitung" am 3. August ausführte. In der That erweckt dieser Wahlkampf den Anschein eines Kampfes gegen Männer und nicht für Maßregeln. Entspricht der Anschein der Sache? Und wenn nicht, woher kommt dieser Anschein? — Um auf diese Frage die Autwort zu finden, müssen wir die Vorfrage stellen: Ist es wirklich die Regierung ge¬ wesen, welche in den gegenwärtigen Wahlkampf das persönliche Element getragen hat, das in demselben sich so breit macht, wenn die Triebfeder» desselben mit diesem Element auch keineswegs erschöpft sind? Giebt es wirklich einen ehrlichen Manu, der diese letzte Frage bejahen und einem ehrlichen Mann dabei ins Auge sehen kann? Im Spätsommer 1879, gleich nachdem im Reichstage die Reform des Zoll¬ tarifs durchgekämpft worden war, wurde von der Fortschrittspartei die Losung auszugeben versucht: „Der Reichskanzler, Fürst Bismarck, muß fort von seinem Platze!" Diese Losung wurde jedoch innerhalb der Fortschrittspartei selbst, von der „Kieler Zeitung" namentlich, zurückgewiesen und von dem radikalen Theile der Partei uicht aufrecht gehalten, weil die Anzeichen einer allgemeinen Mi߬ billigung hervortraten. So errang die Fortschrittspartei bei den preußischen Landtagswahlen von 1879 nicht nur keine neuen Sitze, sondern sie verlor deren 29, die Conservativen aber gewannen 88 Sitze und erreichten eine Gesammt- zcchl von 165 Mandaten. Im März 1880 erfolgten jene englischen Wahlen, bei denen unter Gladstones Führung die verbündeten Whigs, Nculiberalen und Radikalen eine unerwartete Mehrheit gewannen und das Ministerium Beaevns- sÄd zum Rücktritt nöthigten. Jetzt gab der deutsche Fortschritt, vor alleu sein rührigstes Mitglied Herr Eugen Richter, unermüdlich die Losung ans, diese eng¬ lischen Wahlen müßte» das Vorbild der 1881 bevorstehenden Neuwahlen zum Grenzboten III. 1881. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/481>, abgerufen am 01.09.2024.