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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Charakteristik des Manchesterthums.

zu sagen, die sie bei jeder Gelegenheit an den Tag legen. Dieser Hochmuth ist
weder vornehm noch wissenschaftlich. Mit vollem Rechte sagt unser Autor, hierin
merkwürdig mit den: Verfasser der zu Anfang dieser Aufsätze besprochnen Schrift
"Der Cobden-Club" zusammentreffend, in der Einleitung zu seinen Unter¬
suchungen!

"Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, behauptet man. Das ist aber
eine Täuschung, die darin zu liegen scheint, daß man, statt im Futurum zu sprechen,
das Präsens braucht. Die Nationalökonomie wird einmal eine Wissenschaft sein.
Die Wirthschaftslehre von Mnnu und Ger im Jahre 1760 war etwas sehr andres
als die Wirthschaftslehre Mac Cullochs und Mills im Jahre 1850; aber vielleicht
war sie von dieser nicht mehr verschieden als die Wirthschaftslehre Mac Cullochs
und Mills von der Wirthschaftslehre sein wird, die im Jahre 1960 verkündigt
und gedruckt werden wird. Wenn man unter Wissenschaft eine organisch gegliederte
Sammlung von Wahrheiten versteht, deren man sich durch Erfahrung vergewissert
hat, und in Betreff deren alle wohlunterrichteten Leute im wesentlichen überein¬
stimmen, dann ist die Nationalökonomie noch keine Wissenschaft. Wenn man mit
dem Ausdrucke Wissenschaft einen Gegenstand oder einige Gegenstände meint, in
Bezug auf welche einiges bekannt geworden ist, das meiste aber noch durch Er¬
fahrung, Beobachtung und geduldiges Nachdenken zu entdecken und in gediegener
Weise festzustellen ist, so ist in diesem niedrigeren Sinne die Nationalökonomie
in der That eine Wissenschaft.

Aber wenn die Nationalökonomie Anspruch darauf erhebt, überhaupt eine
Wissenschaft zu sein, so muß sie viel von ihren Prätensionen nachlassen, viel von
ihrem Dogmatismus aufgeben und auf eine niedrigere Stufe treten, so muß sie
einen bescheidneren Ton annehmen, mehr fragen als behaupten, Zweifel dulden
und Widerspruch ertragen lernen. sJetzt kommt, soweit sie vom Geiste Manchesters
durchdrungen ist, ihr Mangel an allen jenen Eigenschaften nur ihrem Ueber¬
fluß an Herzlosigkeit gleicht Wenn sie darnach strebt, aus dem Buche der Er¬
fahrung zu lernen, so muß sie beim Umblättern der Seiten desselben darauf gefaßt
sein, ganz unerwarteten Problemen und solchen schließlichen Lösungen zu begegnen,
die allen vorgefaßten Meinungen widersprechen. Sie muß gewärtig sein und es
ertragen können, zu sehen, wie Theorie auf Theorie, obwohl gestützt durch große
Namen und mit der äußersten Zuversichtlichkeit vorgetragen, zu guterletzt durch
Praktische Versuche widerlegt und als grober Irrthum prostituirt wird. Sie muß
sich erinnern, daß aus dem Gebiete der Politik, besonders der Wirthschaftspolitik,
auf zwanzig falsche Schritte in der Regel ein richtiger kommt, und daß alle jene
falschen oft versucht werden, bevor dnrch Erfahrung gezeigt werden kann, dnß der
richtige in Wirklichkeit der richtige ist. > Ein großer Theil unsrer Nationalökonomen
aber und darunter alle Freihändler lassen sich davon nichts träumen, sie sind
Schnelldcnker wie die Fortschrittler, welche sich verhalten, als ob die Politik die
leichteste Kunst oder Wissenschaft wäre, während sie doch die schwerste ist.^j


Grenzboten III. 1881. l>9
Zur Charakteristik des Manchesterthums.

zu sagen, die sie bei jeder Gelegenheit an den Tag legen. Dieser Hochmuth ist
weder vornehm noch wissenschaftlich. Mit vollem Rechte sagt unser Autor, hierin
merkwürdig mit den: Verfasser der zu Anfang dieser Aufsätze besprochnen Schrift
„Der Cobden-Club" zusammentreffend, in der Einleitung zu seinen Unter¬
suchungen!

„Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, behauptet man. Das ist aber
eine Täuschung, die darin zu liegen scheint, daß man, statt im Futurum zu sprechen,
das Präsens braucht. Die Nationalökonomie wird einmal eine Wissenschaft sein.
Die Wirthschaftslehre von Mnnu und Ger im Jahre 1760 war etwas sehr andres
als die Wirthschaftslehre Mac Cullochs und Mills im Jahre 1850; aber vielleicht
war sie von dieser nicht mehr verschieden als die Wirthschaftslehre Mac Cullochs
und Mills von der Wirthschaftslehre sein wird, die im Jahre 1960 verkündigt
und gedruckt werden wird. Wenn man unter Wissenschaft eine organisch gegliederte
Sammlung von Wahrheiten versteht, deren man sich durch Erfahrung vergewissert
hat, und in Betreff deren alle wohlunterrichteten Leute im wesentlichen überein¬
stimmen, dann ist die Nationalökonomie noch keine Wissenschaft. Wenn man mit
dem Ausdrucke Wissenschaft einen Gegenstand oder einige Gegenstände meint, in
Bezug auf welche einiges bekannt geworden ist, das meiste aber noch durch Er¬
fahrung, Beobachtung und geduldiges Nachdenken zu entdecken und in gediegener
Weise festzustellen ist, so ist in diesem niedrigeren Sinne die Nationalökonomie
in der That eine Wissenschaft.

Aber wenn die Nationalökonomie Anspruch darauf erhebt, überhaupt eine
Wissenschaft zu sein, so muß sie viel von ihren Prätensionen nachlassen, viel von
ihrem Dogmatismus aufgeben und auf eine niedrigere Stufe treten, so muß sie
einen bescheidneren Ton annehmen, mehr fragen als behaupten, Zweifel dulden
und Widerspruch ertragen lernen. sJetzt kommt, soweit sie vom Geiste Manchesters
durchdrungen ist, ihr Mangel an allen jenen Eigenschaften nur ihrem Ueber¬
fluß an Herzlosigkeit gleicht Wenn sie darnach strebt, aus dem Buche der Er¬
fahrung zu lernen, so muß sie beim Umblättern der Seiten desselben darauf gefaßt
sein, ganz unerwarteten Problemen und solchen schließlichen Lösungen zu begegnen,
die allen vorgefaßten Meinungen widersprechen. Sie muß gewärtig sein und es
ertragen können, zu sehen, wie Theorie auf Theorie, obwohl gestützt durch große
Namen und mit der äußersten Zuversichtlichkeit vorgetragen, zu guterletzt durch
Praktische Versuche widerlegt und als grober Irrthum prostituirt wird. Sie muß
sich erinnern, daß aus dem Gebiete der Politik, besonders der Wirthschaftspolitik,
auf zwanzig falsche Schritte in der Regel ein richtiger kommt, und daß alle jene
falschen oft versucht werden, bevor dnrch Erfahrung gezeigt werden kann, dnß der
richtige in Wirklichkeit der richtige ist. > Ein großer Theil unsrer Nationalökonomen
aber und darunter alle Freihändler lassen sich davon nichts träumen, sie sind
Schnelldcnker wie die Fortschrittler, welche sich verhalten, als ob die Politik die
leichteste Kunst oder Wissenschaft wäre, während sie doch die schwerste ist.^j


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/473>, abgerufen am 01.09.2024.