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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Glossen eines Deutschen im Auslande.

nicht, es dürfen nicht Gesetze zurückgenommen*) werden, welche sich entweder nicht
ausführen lassen, oder deren Ausführung das Gegentheil von dem bewirkt, was
beabsichtigt wurde. DaS wäre inconsequent und daher nicht liberal; denn der
echte Liberale muß, wenn er in einen Sumpf gerathen ist, getrost weiter waten
und ginge es ihm an den Hals, nur nicht durch Zurückziehen des Fußes wieder
festen Boden gewinnen! Sie haben sich eine beneidenswerthe Jugendlichkeit ge¬
wahrt, die Liberalen dieser Gattung! Aber endlich werden sie sich doch die Frage
vorlegen müssen, was wichtiger sei, die Wiederherstellung geordneter Zustände
innerhalb der katholischen Kirche des Reiches, ohne Wiederherstellung von Uebel-
ständen, welche sich vou 1340 bis 1860 eingeschlichen hatten, oder die Zufrieden¬
heit der jüdischen Presse, oder ob sie, ans Ruder gelangt, den Versuch wagen
würden, den Kampf auf Leben und Tod mit dem Katholicismus aufzunehmen,
um am Ende wirklich nach Canossa pilgern zu müssen, oder aber von den Feinden
des Christenthums selbst unterjocht zu werden?

Mit dieser ersten steht in innigstem Zusammenhange die zweite Anklage:
der Kanzler ermuthigc durch sein Schweigen die antisemitische Agitation. Mit
Politiker!?, welche glauben oder zu glauben vorgeben, daß diese Bewegung künst¬
lich hervorgerufen und durch Pvlizeimaßrcgelu aus der Welt zu schaffen sei,
verlohnt es sich nicht ernsthaft zu reden. Mit Knitteln und Steinen wird man
diese Frage allerdings nicht lösen. Aber wer hat denn den Streit auf die
Gasse hinausgetragen? Wer anders als die Juden und Judengenossen, welche
eine ruhige Discussion nicht dulden wollten, sondern sofort mit Zetergeschrei und
Geschimpf antworteten? Wenn es sehr zu bedauern ist, daß deutsche Jude",
welche behaupte", Deutsche mosaischen Glaubens zu sein, sich doch sofort auf die
Seite jenes internationalen Schacherthnms stellten, welches in alle Verhältnisse
des öffentlichen und privaten Lebens eingedrungen ist und gegen welches sich
die allgemeine Entrüstung wendet, so giebt es nichts ärmlicheres und erbärm¬
licheres als eine Demokratie, welche die Erörterung einer brennenden Frage ver¬
bieten möchte und auf Grund einer (unbewiesenen) Aeußerung sich an die Rock¬
schöße des Kronprinzen hängt -- wie Herr Richter sagen würde --, um den
leitenden Staatsmann zu verdächtigen.

Wenn die Herren wenigstens so ehrlich wären, zu argnmentircn: der Kanzler
verfolgt das Judenthum, denn er möchte die Börsengeschäfte in demselben
Maße besteuern wie jedes andre Geschäft. Sie ereifern sich ja immer gegen
indirecte Steuern, und Herr Bamberger fürchtet einen entsittlichenden Einfluß
von dem System, welches dem Staatsbürger nicht jeden Augenblick gegenwärtig
hält, wieviel er zu den Staatslasten beiträgt. Die Einschränkung des öffentlichen
Hcizcirdspiels an der Börse würde aber wohl die öffentliche Moral noch empfind-



*) Dus ist wohl nicht beabsichtigt, sondern nur milde Deutung und Handhabung der
D. Red. Maigeseye.
Glossen eines Deutschen im Auslande.

nicht, es dürfen nicht Gesetze zurückgenommen*) werden, welche sich entweder nicht
ausführen lassen, oder deren Ausführung das Gegentheil von dem bewirkt, was
beabsichtigt wurde. DaS wäre inconsequent und daher nicht liberal; denn der
echte Liberale muß, wenn er in einen Sumpf gerathen ist, getrost weiter waten
und ginge es ihm an den Hals, nur nicht durch Zurückziehen des Fußes wieder
festen Boden gewinnen! Sie haben sich eine beneidenswerthe Jugendlichkeit ge¬
wahrt, die Liberalen dieser Gattung! Aber endlich werden sie sich doch die Frage
vorlegen müssen, was wichtiger sei, die Wiederherstellung geordneter Zustände
innerhalb der katholischen Kirche des Reiches, ohne Wiederherstellung von Uebel-
ständen, welche sich vou 1340 bis 1860 eingeschlichen hatten, oder die Zufrieden¬
heit der jüdischen Presse, oder ob sie, ans Ruder gelangt, den Versuch wagen
würden, den Kampf auf Leben und Tod mit dem Katholicismus aufzunehmen,
um am Ende wirklich nach Canossa pilgern zu müssen, oder aber von den Feinden
des Christenthums selbst unterjocht zu werden?

Mit dieser ersten steht in innigstem Zusammenhange die zweite Anklage:
der Kanzler ermuthigc durch sein Schweigen die antisemitische Agitation. Mit
Politiker!?, welche glauben oder zu glauben vorgeben, daß diese Bewegung künst¬
lich hervorgerufen und durch Pvlizeimaßrcgelu aus der Welt zu schaffen sei,
verlohnt es sich nicht ernsthaft zu reden. Mit Knitteln und Steinen wird man
diese Frage allerdings nicht lösen. Aber wer hat denn den Streit auf die
Gasse hinausgetragen? Wer anders als die Juden und Judengenossen, welche
eine ruhige Discussion nicht dulden wollten, sondern sofort mit Zetergeschrei und
Geschimpf antworteten? Wenn es sehr zu bedauern ist, daß deutsche Jude»,
welche behaupte«, Deutsche mosaischen Glaubens zu sein, sich doch sofort auf die
Seite jenes internationalen Schacherthnms stellten, welches in alle Verhältnisse
des öffentlichen und privaten Lebens eingedrungen ist und gegen welches sich
die allgemeine Entrüstung wendet, so giebt es nichts ärmlicheres und erbärm¬
licheres als eine Demokratie, welche die Erörterung einer brennenden Frage ver¬
bieten möchte und auf Grund einer (unbewiesenen) Aeußerung sich an die Rock¬
schöße des Kronprinzen hängt — wie Herr Richter sagen würde —, um den
leitenden Staatsmann zu verdächtigen.

Wenn die Herren wenigstens so ehrlich wären, zu argnmentircn: der Kanzler
verfolgt das Judenthum, denn er möchte die Börsengeschäfte in demselben
Maße besteuern wie jedes andre Geschäft. Sie ereifern sich ja immer gegen
indirecte Steuern, und Herr Bamberger fürchtet einen entsittlichenden Einfluß
von dem System, welches dem Staatsbürger nicht jeden Augenblick gegenwärtig
hält, wieviel er zu den Staatslasten beiträgt. Die Einschränkung des öffentlichen
Hcizcirdspiels an der Börse würde aber wohl die öffentliche Moral noch empfind-



*) Dus ist wohl nicht beabsichtigt, sondern nur milde Deutung und Handhabung der
D. Red. Maigeseye.
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[0446] Glossen eines Deutschen im Auslande. nicht, es dürfen nicht Gesetze zurückgenommen*) werden, welche sich entweder nicht ausführen lassen, oder deren Ausführung das Gegentheil von dem bewirkt, was beabsichtigt wurde. DaS wäre inconsequent und daher nicht liberal; denn der echte Liberale muß, wenn er in einen Sumpf gerathen ist, getrost weiter waten und ginge es ihm an den Hals, nur nicht durch Zurückziehen des Fußes wieder festen Boden gewinnen! Sie haben sich eine beneidenswerthe Jugendlichkeit ge¬ wahrt, die Liberalen dieser Gattung! Aber endlich werden sie sich doch die Frage vorlegen müssen, was wichtiger sei, die Wiederherstellung geordneter Zustände innerhalb der katholischen Kirche des Reiches, ohne Wiederherstellung von Uebel- ständen, welche sich vou 1340 bis 1860 eingeschlichen hatten, oder die Zufrieden¬ heit der jüdischen Presse, oder ob sie, ans Ruder gelangt, den Versuch wagen würden, den Kampf auf Leben und Tod mit dem Katholicismus aufzunehmen, um am Ende wirklich nach Canossa pilgern zu müssen, oder aber von den Feinden des Christenthums selbst unterjocht zu werden? Mit dieser ersten steht in innigstem Zusammenhange die zweite Anklage: der Kanzler ermuthigc durch sein Schweigen die antisemitische Agitation. Mit Politiker!?, welche glauben oder zu glauben vorgeben, daß diese Bewegung künst¬ lich hervorgerufen und durch Pvlizeimaßrcgelu aus der Welt zu schaffen sei, verlohnt es sich nicht ernsthaft zu reden. Mit Knitteln und Steinen wird man diese Frage allerdings nicht lösen. Aber wer hat denn den Streit auf die Gasse hinausgetragen? Wer anders als die Juden und Judengenossen, welche eine ruhige Discussion nicht dulden wollten, sondern sofort mit Zetergeschrei und Geschimpf antworteten? Wenn es sehr zu bedauern ist, daß deutsche Jude», welche behaupte«, Deutsche mosaischen Glaubens zu sein, sich doch sofort auf die Seite jenes internationalen Schacherthnms stellten, welches in alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten Lebens eingedrungen ist und gegen welches sich die allgemeine Entrüstung wendet, so giebt es nichts ärmlicheres und erbärm¬ licheres als eine Demokratie, welche die Erörterung einer brennenden Frage ver¬ bieten möchte und auf Grund einer (unbewiesenen) Aeußerung sich an die Rock¬ schöße des Kronprinzen hängt — wie Herr Richter sagen würde —, um den leitenden Staatsmann zu verdächtigen. Wenn die Herren wenigstens so ehrlich wären, zu argnmentircn: der Kanzler verfolgt das Judenthum, denn er möchte die Börsengeschäfte in demselben Maße besteuern wie jedes andre Geschäft. Sie ereifern sich ja immer gegen indirecte Steuern, und Herr Bamberger fürchtet einen entsittlichenden Einfluß von dem System, welches dem Staatsbürger nicht jeden Augenblick gegenwärtig hält, wieviel er zu den Staatslasten beiträgt. Die Einschränkung des öffentlichen Hcizcirdspiels an der Börse würde aber wohl die öffentliche Moral noch empfind- *) Dus ist wohl nicht beabsichtigt, sondern nur milde Deutung und Handhabung der D. Red. Maigeseye.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/446>, abgerufen am 01.09.2024.