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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Charakteristik des Manchesterthums,

Die österreichischen bekunden meist eine objectivere und richtigere Auffassung der
Dinge. Es leidet keinen Zweifel, daß die Sucht der liberalen Parteien, ihre
Entschließungen nach ihrem veralteten, aber von ihnen für unabänderlich und
unfehlbar angesehenen Parteiprogramm zu fassen, die principielle Opposition gegen
die wirthschaftlichen Pläne des Kanzlers, das kleinliche, advocatenhafte Gezänk
mit ihm, das widerwärtige Herumnörgeln an seiner Person, vor allem aber die
auffallende Gleichgiltigkeit gegen die von ihm vorgeschlagnen materiellen Reformen
und die Vernachlässigung derselben im Vergleich mit den leidigen parlamenta¬
rischen Machtfragen, welche das Volk weit kühler lassen, als die Herren auf der
Leipziger Straße und am Dönhofsplcche glauben, daß dies die wahren Ursachen sind,
wenn breite Schichten der deutschen Bevölkerung die liberale Sache mit dem
Rücken anzusehen anfangen, und die Vertheidiger der letztern müssen sich das
von jenen österreichischen Blättern unverhohlen ins Gesicht sagen lassen.

So schrieb vor einigen Wochen die "Deutsche Zeitung" in Wien, die nie¬
mand als auf cleriealem oder recictioncirem Pferde reitend bezeichnen wird, sehr
richtig: "Die jüngsten Wahlen in Baiern und Sachsen sind ein ernstes Memento
für den Liberalismus. Sie verkünden ihm, was für schwere Unterlassungssünden
er in der Zeit seiner Macht begangen und wie wenig er sür die materiellen
Bedürfnisse, für das Brot des Volkes zu wirken verstanden. Redlich und un¬
erschrocken Mer fassen wir die Sache kühler auf; denn wovor in aller Welt
brauchten die Herren zu erschrecken?j sind die Forckenbeck, die Laster und Bamberger
allezeit für politisches Recht und geistigen Fortschritt eingestanden, aber für den
kränkelnden Wirthschaftsorganismus haben sie nichts geleistet ^natürlich nicht,
da sie "nicht zuviel regiert," der Speculation den Willen gelassen, die Freiheit
der Concurrenz vom Staate nicht beschränkt sehen wollten^ an diesem Schmerzens-
lager standen sie mit verschränkten Armen, blind für die Symptome eines um
sich greifenden Uebels, fatalistisch auf die Wunderkräfte der Natur und den
Proceß der Selbstheilung vertrauend.

War es da zum Staunen, daß der Kranke sich schließlich von den liberalen
Aerzten abwendete, die ihn ohne Rath und Trost ließen, deren ganze Kunst in
einem einzigen abgeleierten Sprüchlein bestand: "Man überlasse ihn seinem Schick¬
sal !" Nicht durch kleinliche Künste hat Fürst Bismarck den Liberalismus besiegt
und "zerbröckelt." Nicht durch den lockenden Klang der Werbetrommel hat er
die Wählerschcmren der alten Fahne entfremdet. Der Kanzler machte sich nur zum
Dolmetsch der Empfindung, die tief in der Seele des Volkes geschlummert hatte,
der Empfindung, daß der Staat seinen Angehörigen wirthschaftlichen Schutz und
materielle Förderung schuldig ist, daß er sie in dem Kampfe aller gegen alle, in
dem furchtbaren Concurrenzkampfe ums Dasein nicht hilflos sich selbst überlassen
dürfe. Der "Staatssocialist" Bismarck treibt keine Umsturzpolitik, er will den
modernen Staat nicht zerstören, sondern erhalten; er fordert nur diejenigen
Opfer, die nothwendig sind, um das Gefahrdrohende, das Unerträgliche aus der


Zur Charakteristik des Manchesterthums,

Die österreichischen bekunden meist eine objectivere und richtigere Auffassung der
Dinge. Es leidet keinen Zweifel, daß die Sucht der liberalen Parteien, ihre
Entschließungen nach ihrem veralteten, aber von ihnen für unabänderlich und
unfehlbar angesehenen Parteiprogramm zu fassen, die principielle Opposition gegen
die wirthschaftlichen Pläne des Kanzlers, das kleinliche, advocatenhafte Gezänk
mit ihm, das widerwärtige Herumnörgeln an seiner Person, vor allem aber die
auffallende Gleichgiltigkeit gegen die von ihm vorgeschlagnen materiellen Reformen
und die Vernachlässigung derselben im Vergleich mit den leidigen parlamenta¬
rischen Machtfragen, welche das Volk weit kühler lassen, als die Herren auf der
Leipziger Straße und am Dönhofsplcche glauben, daß dies die wahren Ursachen sind,
wenn breite Schichten der deutschen Bevölkerung die liberale Sache mit dem
Rücken anzusehen anfangen, und die Vertheidiger der letztern müssen sich das
von jenen österreichischen Blättern unverhohlen ins Gesicht sagen lassen.

So schrieb vor einigen Wochen die „Deutsche Zeitung" in Wien, die nie¬
mand als auf cleriealem oder recictioncirem Pferde reitend bezeichnen wird, sehr
richtig: „Die jüngsten Wahlen in Baiern und Sachsen sind ein ernstes Memento
für den Liberalismus. Sie verkünden ihm, was für schwere Unterlassungssünden
er in der Zeit seiner Macht begangen und wie wenig er sür die materiellen
Bedürfnisse, für das Brot des Volkes zu wirken verstanden. Redlich und un¬
erschrocken Mer fassen wir die Sache kühler auf; denn wovor in aller Welt
brauchten die Herren zu erschrecken?j sind die Forckenbeck, die Laster und Bamberger
allezeit für politisches Recht und geistigen Fortschritt eingestanden, aber für den
kränkelnden Wirthschaftsorganismus haben sie nichts geleistet ^natürlich nicht,
da sie «nicht zuviel regiert,» der Speculation den Willen gelassen, die Freiheit
der Concurrenz vom Staate nicht beschränkt sehen wollten^ an diesem Schmerzens-
lager standen sie mit verschränkten Armen, blind für die Symptome eines um
sich greifenden Uebels, fatalistisch auf die Wunderkräfte der Natur und den
Proceß der Selbstheilung vertrauend.

War es da zum Staunen, daß der Kranke sich schließlich von den liberalen
Aerzten abwendete, die ihn ohne Rath und Trost ließen, deren ganze Kunst in
einem einzigen abgeleierten Sprüchlein bestand: «Man überlasse ihn seinem Schick¬
sal !» Nicht durch kleinliche Künste hat Fürst Bismarck den Liberalismus besiegt
und «zerbröckelt.» Nicht durch den lockenden Klang der Werbetrommel hat er
die Wählerschcmren der alten Fahne entfremdet. Der Kanzler machte sich nur zum
Dolmetsch der Empfindung, die tief in der Seele des Volkes geschlummert hatte,
der Empfindung, daß der Staat seinen Angehörigen wirthschaftlichen Schutz und
materielle Förderung schuldig ist, daß er sie in dem Kampfe aller gegen alle, in
dem furchtbaren Concurrenzkampfe ums Dasein nicht hilflos sich selbst überlassen
dürfe. Der «Staatssocialist» Bismarck treibt keine Umsturzpolitik, er will den
modernen Staat nicht zerstören, sondern erhalten; er fordert nur diejenigen
Opfer, die nothwendig sind, um das Gefahrdrohende, das Unerträgliche aus der


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[0412] Zur Charakteristik des Manchesterthums, Die österreichischen bekunden meist eine objectivere und richtigere Auffassung der Dinge. Es leidet keinen Zweifel, daß die Sucht der liberalen Parteien, ihre Entschließungen nach ihrem veralteten, aber von ihnen für unabänderlich und unfehlbar angesehenen Parteiprogramm zu fassen, die principielle Opposition gegen die wirthschaftlichen Pläne des Kanzlers, das kleinliche, advocatenhafte Gezänk mit ihm, das widerwärtige Herumnörgeln an seiner Person, vor allem aber die auffallende Gleichgiltigkeit gegen die von ihm vorgeschlagnen materiellen Reformen und die Vernachlässigung derselben im Vergleich mit den leidigen parlamenta¬ rischen Machtfragen, welche das Volk weit kühler lassen, als die Herren auf der Leipziger Straße und am Dönhofsplcche glauben, daß dies die wahren Ursachen sind, wenn breite Schichten der deutschen Bevölkerung die liberale Sache mit dem Rücken anzusehen anfangen, und die Vertheidiger der letztern müssen sich das von jenen österreichischen Blättern unverhohlen ins Gesicht sagen lassen. So schrieb vor einigen Wochen die „Deutsche Zeitung" in Wien, die nie¬ mand als auf cleriealem oder recictioncirem Pferde reitend bezeichnen wird, sehr richtig: „Die jüngsten Wahlen in Baiern und Sachsen sind ein ernstes Memento für den Liberalismus. Sie verkünden ihm, was für schwere Unterlassungssünden er in der Zeit seiner Macht begangen und wie wenig er sür die materiellen Bedürfnisse, für das Brot des Volkes zu wirken verstanden. Redlich und un¬ erschrocken Mer fassen wir die Sache kühler auf; denn wovor in aller Welt brauchten die Herren zu erschrecken?j sind die Forckenbeck, die Laster und Bamberger allezeit für politisches Recht und geistigen Fortschritt eingestanden, aber für den kränkelnden Wirthschaftsorganismus haben sie nichts geleistet ^natürlich nicht, da sie «nicht zuviel regiert,» der Speculation den Willen gelassen, die Freiheit der Concurrenz vom Staate nicht beschränkt sehen wollten^ an diesem Schmerzens- lager standen sie mit verschränkten Armen, blind für die Symptome eines um sich greifenden Uebels, fatalistisch auf die Wunderkräfte der Natur und den Proceß der Selbstheilung vertrauend. War es da zum Staunen, daß der Kranke sich schließlich von den liberalen Aerzten abwendete, die ihn ohne Rath und Trost ließen, deren ganze Kunst in einem einzigen abgeleierten Sprüchlein bestand: «Man überlasse ihn seinem Schick¬ sal !» Nicht durch kleinliche Künste hat Fürst Bismarck den Liberalismus besiegt und «zerbröckelt.» Nicht durch den lockenden Klang der Werbetrommel hat er die Wählerschcmren der alten Fahne entfremdet. Der Kanzler machte sich nur zum Dolmetsch der Empfindung, die tief in der Seele des Volkes geschlummert hatte, der Empfindung, daß der Staat seinen Angehörigen wirthschaftlichen Schutz und materielle Förderung schuldig ist, daß er sie in dem Kampfe aller gegen alle, in dem furchtbaren Concurrenzkampfe ums Dasein nicht hilflos sich selbst überlassen dürfe. Der «Staatssocialist» Bismarck treibt keine Umsturzpolitik, er will den modernen Staat nicht zerstören, sondern erhalten; er fordert nur diejenigen Opfer, die nothwendig sind, um das Gefahrdrohende, das Unerträgliche aus der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/412>, abgerufen am 01.09.2024.