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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Charakteristik dos Maiichosierchums.

die freihändlerische Weisheit darüber vernehmen! Weil es nicht schwer ist, in
der Geschichte der Staaten Beispiele von unkluger Einmischung der Regierung
namentlich auf wirthschaftlichem Gebiete zu entdecken, hat man flugs das Kind
mit dem Bade ausgeschüttet und mit arger Herabsetzung dessen, was man spöttisch
"väterliches Regiment" getauft hat, alle und jede Regelung und Beaufsichtigung
wirtschaftlicher Dinge von oben herab für unzulässig erklärt. Es galt im Ka¬
techismus des Mnuchesterthums für ausgemacht und unwiderlegbar, daß die
Regierung in dieser Richtung so wenig wie möglich zu sagen und zu thu" habe.
Die Negierung hatte für die speculativ" Polizeidicnste zu leisten, "den Frieden
zu erhalten, Geld zu prägen und alles übrige dem Volke zu überlassen," unter
dem man die Speculanten verstand. Dar't ovsr Aovörn! sagten die Mauchester-
leutc. ?W trox Zouvsriuzr! rief das Echo in Frankreich. "Keine Vielregiererei!"
schrie die gelehrige Heerde der deutschen Freihändler den englischen Leithammeln
nach. Diese Phrase sollte der Leitstern der Staatsmänner an der Spitze der
Verwaltung sein. Sie sollten auf die Dinge unterm Monde wie die Götter
Epikurs herniederblicken und dem natürlichen Verlaufe der Ereignisse vertrauen,
der stets wohlthätig sei, immer das Rechte treffe. Das Regieren wurde bei
solchen Grundsätzen bequem; denn es bedürfte bei demselben keiner schweren Ge¬
dankenarbeit, und alle Verantwortlichkeit hatte ein Ende. Die Modedoetrin lau¬
tete: Die Interessen der Individuen fallen nothwendig und allgemein mit den
Interessen des Publicums zusammen, das ja nur eine Vereinigung von Indi¬
viduen ist. Die Individuen verstehen ihre Interessen immer besser als die Ne¬
gierung, man lasse sie daher gehen, man lasse sie machen, wie es ihnen beliebt.
Die unwissende und vorurtheilsvolle Meuge, die Schwache", die Nichtdenkenden
dürfen von feiten der herrschenden Klugen und Starken keinerlei Antrieb und
keinerlei Schutz empfangen. Gesetze, die darauf abzielen, sind vom Uebel. Man
darf die Menschen nicht als Kinder, man muß sie als Erwachsene behandeln.
Die Menschheit muß durch Erfahrung klug werden.

Sehen wir uus diese Rathschläge genauer an, so finden wir, daß sie eitel
Dunst und Trug sind. Die aufeinander folgenden Geschlechter und die gegen¬
wärtigen Menschenmasse" werdeu dabei behandelt, als ob sie ein einziges Indi¬
viduum, so alt wie Methusalem und im Besitze nicht bloß der Erfahrung ver¬
gangner Zeiten, sondern auch derjenigen andrer Länder und Hemisphären wären.
Aber woraus bestehen die Völker in Wirklichkeit? Die Masse jeder Nation be¬
steht aus jungen und unerfahrenen Leuten, die von vergangnen oder in der Ferne
bvrgegangnen Dingen meist nicht viel mehr wissen als uns von den Geschäften
und socialen Versuchen bekannt ist, welche vor hundert Jahren auf dem Mars
oder Jupiter stattgefunden haben mögen.

Gelassene Betrachtung der vorhandnen Thatsachen würde in der That hin¬
gereicht haben, die Hohlheit der Modethcorie erkennen zu lassen und zu zeigen,
daß die Einmischung der Regierung für das Fortbestehen und die Entwicklung


Zur Charakteristik dos Maiichosierchums.

die freihändlerische Weisheit darüber vernehmen! Weil es nicht schwer ist, in
der Geschichte der Staaten Beispiele von unkluger Einmischung der Regierung
namentlich auf wirthschaftlichem Gebiete zu entdecken, hat man flugs das Kind
mit dem Bade ausgeschüttet und mit arger Herabsetzung dessen, was man spöttisch
„väterliches Regiment" getauft hat, alle und jede Regelung und Beaufsichtigung
wirtschaftlicher Dinge von oben herab für unzulässig erklärt. Es galt im Ka¬
techismus des Mnuchesterthums für ausgemacht und unwiderlegbar, daß die
Regierung in dieser Richtung so wenig wie möglich zu sagen und zu thu» habe.
Die Negierung hatte für die speculativ» Polizeidicnste zu leisten, „den Frieden
zu erhalten, Geld zu prägen und alles übrige dem Volke zu überlassen," unter
dem man die Speculanten verstand. Dar't ovsr Aovörn! sagten die Mauchester-
leutc. ?W trox Zouvsriuzr! rief das Echo in Frankreich. „Keine Vielregiererei!"
schrie die gelehrige Heerde der deutschen Freihändler den englischen Leithammeln
nach. Diese Phrase sollte der Leitstern der Staatsmänner an der Spitze der
Verwaltung sein. Sie sollten auf die Dinge unterm Monde wie die Götter
Epikurs herniederblicken und dem natürlichen Verlaufe der Ereignisse vertrauen,
der stets wohlthätig sei, immer das Rechte treffe. Das Regieren wurde bei
solchen Grundsätzen bequem; denn es bedürfte bei demselben keiner schweren Ge¬
dankenarbeit, und alle Verantwortlichkeit hatte ein Ende. Die Modedoetrin lau¬
tete: Die Interessen der Individuen fallen nothwendig und allgemein mit den
Interessen des Publicums zusammen, das ja nur eine Vereinigung von Indi¬
viduen ist. Die Individuen verstehen ihre Interessen immer besser als die Ne¬
gierung, man lasse sie daher gehen, man lasse sie machen, wie es ihnen beliebt.
Die unwissende und vorurtheilsvolle Meuge, die Schwache», die Nichtdenkenden
dürfen von feiten der herrschenden Klugen und Starken keinerlei Antrieb und
keinerlei Schutz empfangen. Gesetze, die darauf abzielen, sind vom Uebel. Man
darf die Menschen nicht als Kinder, man muß sie als Erwachsene behandeln.
Die Menschheit muß durch Erfahrung klug werden.

Sehen wir uus diese Rathschläge genauer an, so finden wir, daß sie eitel
Dunst und Trug sind. Die aufeinander folgenden Geschlechter und die gegen¬
wärtigen Menschenmasse» werdeu dabei behandelt, als ob sie ein einziges Indi¬
viduum, so alt wie Methusalem und im Besitze nicht bloß der Erfahrung ver¬
gangner Zeiten, sondern auch derjenigen andrer Länder und Hemisphären wären.
Aber woraus bestehen die Völker in Wirklichkeit? Die Masse jeder Nation be¬
steht aus jungen und unerfahrenen Leuten, die von vergangnen oder in der Ferne
bvrgegangnen Dingen meist nicht viel mehr wissen als uns von den Geschäften
und socialen Versuchen bekannt ist, welche vor hundert Jahren auf dem Mars
oder Jupiter stattgefunden haben mögen.

Gelassene Betrachtung der vorhandnen Thatsachen würde in der That hin¬
gereicht haben, die Hohlheit der Modethcorie erkennen zu lassen und zu zeigen,
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[0407] Zur Charakteristik dos Maiichosierchums. die freihändlerische Weisheit darüber vernehmen! Weil es nicht schwer ist, in der Geschichte der Staaten Beispiele von unkluger Einmischung der Regierung namentlich auf wirthschaftlichem Gebiete zu entdecken, hat man flugs das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und mit arger Herabsetzung dessen, was man spöttisch „väterliches Regiment" getauft hat, alle und jede Regelung und Beaufsichtigung wirtschaftlicher Dinge von oben herab für unzulässig erklärt. Es galt im Ka¬ techismus des Mnuchesterthums für ausgemacht und unwiderlegbar, daß die Regierung in dieser Richtung so wenig wie möglich zu sagen und zu thu» habe. Die Negierung hatte für die speculativ» Polizeidicnste zu leisten, „den Frieden zu erhalten, Geld zu prägen und alles übrige dem Volke zu überlassen," unter dem man die Speculanten verstand. Dar't ovsr Aovörn! sagten die Mauchester- leutc. ?W trox Zouvsriuzr! rief das Echo in Frankreich. „Keine Vielregiererei!" schrie die gelehrige Heerde der deutschen Freihändler den englischen Leithammeln nach. Diese Phrase sollte der Leitstern der Staatsmänner an der Spitze der Verwaltung sein. Sie sollten auf die Dinge unterm Monde wie die Götter Epikurs herniederblicken und dem natürlichen Verlaufe der Ereignisse vertrauen, der stets wohlthätig sei, immer das Rechte treffe. Das Regieren wurde bei solchen Grundsätzen bequem; denn es bedürfte bei demselben keiner schweren Ge¬ dankenarbeit, und alle Verantwortlichkeit hatte ein Ende. Die Modedoetrin lau¬ tete: Die Interessen der Individuen fallen nothwendig und allgemein mit den Interessen des Publicums zusammen, das ja nur eine Vereinigung von Indi¬ viduen ist. Die Individuen verstehen ihre Interessen immer besser als die Ne¬ gierung, man lasse sie daher gehen, man lasse sie machen, wie es ihnen beliebt. Die unwissende und vorurtheilsvolle Meuge, die Schwache», die Nichtdenkenden dürfen von feiten der herrschenden Klugen und Starken keinerlei Antrieb und keinerlei Schutz empfangen. Gesetze, die darauf abzielen, sind vom Uebel. Man darf die Menschen nicht als Kinder, man muß sie als Erwachsene behandeln. Die Menschheit muß durch Erfahrung klug werden. Sehen wir uus diese Rathschläge genauer an, so finden wir, daß sie eitel Dunst und Trug sind. Die aufeinander folgenden Geschlechter und die gegen¬ wärtigen Menschenmasse» werdeu dabei behandelt, als ob sie ein einziges Indi¬ viduum, so alt wie Methusalem und im Besitze nicht bloß der Erfahrung ver¬ gangner Zeiten, sondern auch derjenigen andrer Länder und Hemisphären wären. Aber woraus bestehen die Völker in Wirklichkeit? Die Masse jeder Nation be¬ steht aus jungen und unerfahrenen Leuten, die von vergangnen oder in der Ferne bvrgegangnen Dingen meist nicht viel mehr wissen als uns von den Geschäften und socialen Versuchen bekannt ist, welche vor hundert Jahren auf dem Mars oder Jupiter stattgefunden haben mögen. Gelassene Betrachtung der vorhandnen Thatsachen würde in der That hin¬ gereicht haben, die Hohlheit der Modethcorie erkennen zu lassen und zu zeigen, daß die Einmischung der Regierung für das Fortbestehen und die Entwicklung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/407>, abgerufen am 01.09.2024.