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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann,

Mehr bestimmte Individualität als bei den beiden letztgenannten Künstlern
finden wir in den Liedern von Carl Reinecke. Einen guten Lassen kann man
mit einem guten Raff verwechseln, und einen sehr guten Joachim Raff vielleicht
gar mit einem Robert Franz, aber an einem Reineckischcn Liede wird man seinen
Autor meist erkennen. Der Natur dieses Komponisten scheint ein so reiches Maß
von Milde und Liebenswürdigkeit zu eigen zu sein, daß alle seine Arbeiten einen
Theil davon tragen. Wie der Fisch im Wasser tummelt sich seine Phantasie
im Anmuthiger und Graziösen und vollführt darin ergötzliche und muntre Spiele;
das Rauhe glättet sie, das Grausige streift sie nur. Ein Ton freundlicher Ver¬
bindlichkeit und des Maßvollen ist seiner Muße uneutreißbar, und mit ihm ver¬
birgt sie zuweilen die eigne Ergriffenheit. Dazu ist Reinecke ein Meister der
musikalischen Sprache von ganz besondrer Begabung. So leicht, fließend und
einschmeichelnd wie z, B, in seinen vierhändigen Clavierstücken hat noch keiner
die schwierigen Formen des Canons gebraucht. Das geht noch über Rückerts
poetische Kunststücke. Diese Virtuosität in der Form, diese Zucht zum Strengen
mag ihn auch davor bewahrt haben, jemals in jene Weichlichkeit zu verfallen,
die nicht bloß modern ist, sondern auch gerade seinem Naturell näher lag als
ander". Wie er sich einst mit der Musik zu Hoffmanns .,Nußknacker und Mause-
könig" einführte, so ist auch die Sphäre des Phantastisch-Humoristischeu seine
Specialität geblieben. Unter den Liedern gehört dahin das "Lied des Zwergen
Tom", dessen spaßhafter Gravität wenig Pendants an die Seite zu setzen sein
dürften; augenblicklich fällt mir nnr Löwes "Hochzeitslied" ein. Verwandt damit
sind alle die Stoffe, die in das Naive, Kindliche und Halblustige gehören. So
z. B. "Der Schelm" und "O süße Mutter, ich kaun nicht spinnen." Das sind
Sachen, die den Gesaugfreuud erfreuen, und die der Musiker wohl studiren kaun.
Diese hübschen Sechzehntelfiguren im Clavier mit den interessanten Wechselnvten,
diese netten Imitationen, der Wechsel der Motive, die Einführung der Pointen,
das ist alles sehr lehrreich, wenn es auch schwer sein dürfte das nachzumachen,
denn der vornehme Hauch über deu gefällige" Tönen, das Temperirte und
Maßvolle, das diese unverkennbare Flvttheit stets meistert, ist ein Individuelles,
an dem man eben Reinecke am besten erkennt. Unter seinen frühern Liedern
könnten die Sänger eine dankbare Umschau halten. Da ist z. B. in Opus 27
"Der Gondelier."


Was hat dem Schiffer sie gegeben?
Er war zufrieden mit dein Lohn

heißt es am Schluß. Diese letzte Zeile aber ist so voll allerliebster Schelmerei,
so schlagend neckisch und fein pikant, daß das Lied ein wahrer Stnnnbrecher
sein muß für Sänger, die ihr Publieum fröhlich machen wollen. Unter diesen
ältern Gesängen finden sich auch mehrere Chelm für die Baßstimme, die ver¬
hältnißmäßig in der Literatur vernachlässigt wird. Einer davon enthält die
Composition von Wilhelm Müllers "Kellnerin von Bacharach," Unter den


Das deutsche Lied seit Robert Schumann,

Mehr bestimmte Individualität als bei den beiden letztgenannten Künstlern
finden wir in den Liedern von Carl Reinecke. Einen guten Lassen kann man
mit einem guten Raff verwechseln, und einen sehr guten Joachim Raff vielleicht
gar mit einem Robert Franz, aber an einem Reineckischcn Liede wird man seinen
Autor meist erkennen. Der Natur dieses Komponisten scheint ein so reiches Maß
von Milde und Liebenswürdigkeit zu eigen zu sein, daß alle seine Arbeiten einen
Theil davon tragen. Wie der Fisch im Wasser tummelt sich seine Phantasie
im Anmuthiger und Graziösen und vollführt darin ergötzliche und muntre Spiele;
das Rauhe glättet sie, das Grausige streift sie nur. Ein Ton freundlicher Ver¬
bindlichkeit und des Maßvollen ist seiner Muße uneutreißbar, und mit ihm ver¬
birgt sie zuweilen die eigne Ergriffenheit. Dazu ist Reinecke ein Meister der
musikalischen Sprache von ganz besondrer Begabung. So leicht, fließend und
einschmeichelnd wie z, B, in seinen vierhändigen Clavierstücken hat noch keiner
die schwierigen Formen des Canons gebraucht. Das geht noch über Rückerts
poetische Kunststücke. Diese Virtuosität in der Form, diese Zucht zum Strengen
mag ihn auch davor bewahrt haben, jemals in jene Weichlichkeit zu verfallen,
die nicht bloß modern ist, sondern auch gerade seinem Naturell näher lag als
ander». Wie er sich einst mit der Musik zu Hoffmanns .,Nußknacker und Mause-
könig" einführte, so ist auch die Sphäre des Phantastisch-Humoristischeu seine
Specialität geblieben. Unter den Liedern gehört dahin das „Lied des Zwergen
Tom", dessen spaßhafter Gravität wenig Pendants an die Seite zu setzen sein
dürften; augenblicklich fällt mir nnr Löwes „Hochzeitslied" ein. Verwandt damit
sind alle die Stoffe, die in das Naive, Kindliche und Halblustige gehören. So
z. B. „Der Schelm" und „O süße Mutter, ich kaun nicht spinnen." Das sind
Sachen, die den Gesaugfreuud erfreuen, und die der Musiker wohl studiren kaun.
Diese hübschen Sechzehntelfiguren im Clavier mit den interessanten Wechselnvten,
diese netten Imitationen, der Wechsel der Motive, die Einführung der Pointen,
das ist alles sehr lehrreich, wenn es auch schwer sein dürfte das nachzumachen,
denn der vornehme Hauch über deu gefällige» Tönen, das Temperirte und
Maßvolle, das diese unverkennbare Flvttheit stets meistert, ist ein Individuelles,
an dem man eben Reinecke am besten erkennt. Unter seinen frühern Liedern
könnten die Sänger eine dankbare Umschau halten. Da ist z. B. in Opus 27
„Der Gondelier."


Was hat dem Schiffer sie gegeben?
Er war zufrieden mit dein Lohn

heißt es am Schluß. Diese letzte Zeile aber ist so voll allerliebster Schelmerei,
so schlagend neckisch und fein pikant, daß das Lied ein wahrer Stnnnbrecher
sein muß für Sänger, die ihr Publieum fröhlich machen wollen. Unter diesen
ältern Gesängen finden sich auch mehrere Chelm für die Baßstimme, die ver¬
hältnißmäßig in der Literatur vernachlässigt wird. Einer davon enthält die
Composition von Wilhelm Müllers „Kellnerin von Bacharach," Unter den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/40>, abgerufen am 01.09.2024.