Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Charakteristik des Manchesterthums.

Was Frankreich nicht thun wollte, hat Irland thun müssen. Die Unionsacte
sorgte für allmähliches Aufhören des Schutzes der irischen Industrie gegen die
ihr weit überlegene englische. Aber Frankreich handelte anders, und seine Fabriken
thun es jetzt den englischen gleich."

Was Frankreich 1815 nicht thun wollte und später unter dem zweiten
Kaiserreiche nur in beschränktem Maße that, sollte unter der Herrschaft der Frei¬
händler Deutschland thun. Wäre es ganz nach deren Wille" gegangen, so wäre
die deutsche Fabrikthätigkeit jetzt todt und begraben. Schon das, was jene durch¬
setzten, hat diesen Theil unsers wirthschaftlichen Lebens schwer geschädigt, und
es wird einiger Zeit bedürfen, bevor das seitdem adoptirte weisere System den
Schaden völlig aufhellt.

"Nach herkömmlicher Theorie ist es gleichgiltig, ob der Banmwollenpflanzcr
tausend Meilen weit vom Baumwollenspinner, der Kornerzeugcr ebenso weit vom
Müller, Bäcker oder Consumenten wohnt. Bei sorgfältiger Prüfung aber ent¬
deckt man sehr erhebliche Vortheile in dem nachbarlichen Verhältnisse, bei dem
die verschiedenen Producenten sich gegenseitig unmittelbar in die Hände arbeiten.
Wohnt der Landwirth, der Viehzüchter, der Flachserzeuger, der Gärtner dicht
bei dem Müller, dem Schlächter, dem Wollwaaren- oder Lciuwaudfabrikanteu,
so findet er vor seiner Thür einen sichern Absatzort für seiue Producte, und
andrerseits sieht der Fabrikant rings um sich und nahe bei sich Märkte für seine
Fabrikate, und zwar solche Märkte, die ihm wohl bekannt sind, und in Betreff
deren er sich nicht leicht verspeeuliren kann. Landwirthschaft, Industrie und Handel
besammen nicht bloß die Seeküsten und Flußufer, sondern dringe" gedeihend ins
Innere ein und steigern dort den Werth der Grundstücke. Die unmittelbare Nachbar¬
schaft und das wechselseitige Einwirken von Erzeugern von Rohstoffen und von
Vernrbeitern derselben giebt jedem die Beschäftigung, für die er besonders ge¬
eignet ist, dein einen Arbeit für seine robusten Arme, dem andern für seine geschickte
Hand, den: dritten für sein Organisationstalent und seinen Erfindergeist.

Außer natürlichen und bleibenden Mißständen aber giebt es auch zeitweilige
und zufällige, und auch gegen diese muß der Staat die industrielle Thätigkeit
schützen. Was der nächsten Generation äußerst vortheilhaft sein kann, ist der
gegenwärtigen vielleicht schädlich. Um zukünftig Gewinn einzuheimsen, mag jetzt
ein Opfer erforderlich sein. Jndividnen werden dies selten bringen wollen, Privat¬
unternehmer sehen in der Regel nur auf das laufende oder das nächste Jahr.
Die Staatsklugheit muß hinzukommen, die höher steht und darum weiter blickt.
Sie muß die schwachsichtige Erwerbsbegier beherrschen, für die Zukunft sorgen
und die Industrie in Kanäle leiten, die endgiltig und bleibend wohlthätige
Wirkung üben. So geschah es in Holland, so regierten Lord Burleigh und
Cromwell, so Colbert und Peter der Große," und so verfuhr man im alten
Preußen bis zu der Zeit, wo der fremdländische Schwindel vom iWssr eg-ire
sich breit machen durfte.


Zur Charakteristik des Manchesterthums.

Was Frankreich nicht thun wollte, hat Irland thun müssen. Die Unionsacte
sorgte für allmähliches Aufhören des Schutzes der irischen Industrie gegen die
ihr weit überlegene englische. Aber Frankreich handelte anders, und seine Fabriken
thun es jetzt den englischen gleich."

Was Frankreich 1815 nicht thun wollte und später unter dem zweiten
Kaiserreiche nur in beschränktem Maße that, sollte unter der Herrschaft der Frei¬
händler Deutschland thun. Wäre es ganz nach deren Wille» gegangen, so wäre
die deutsche Fabrikthätigkeit jetzt todt und begraben. Schon das, was jene durch¬
setzten, hat diesen Theil unsers wirthschaftlichen Lebens schwer geschädigt, und
es wird einiger Zeit bedürfen, bevor das seitdem adoptirte weisere System den
Schaden völlig aufhellt.

„Nach herkömmlicher Theorie ist es gleichgiltig, ob der Banmwollenpflanzcr
tausend Meilen weit vom Baumwollenspinner, der Kornerzeugcr ebenso weit vom
Müller, Bäcker oder Consumenten wohnt. Bei sorgfältiger Prüfung aber ent¬
deckt man sehr erhebliche Vortheile in dem nachbarlichen Verhältnisse, bei dem
die verschiedenen Producenten sich gegenseitig unmittelbar in die Hände arbeiten.
Wohnt der Landwirth, der Viehzüchter, der Flachserzeuger, der Gärtner dicht
bei dem Müller, dem Schlächter, dem Wollwaaren- oder Lciuwaudfabrikanteu,
so findet er vor seiner Thür einen sichern Absatzort für seiue Producte, und
andrerseits sieht der Fabrikant rings um sich und nahe bei sich Märkte für seine
Fabrikate, und zwar solche Märkte, die ihm wohl bekannt sind, und in Betreff
deren er sich nicht leicht verspeeuliren kann. Landwirthschaft, Industrie und Handel
besammen nicht bloß die Seeküsten und Flußufer, sondern dringe» gedeihend ins
Innere ein und steigern dort den Werth der Grundstücke. Die unmittelbare Nachbar¬
schaft und das wechselseitige Einwirken von Erzeugern von Rohstoffen und von
Vernrbeitern derselben giebt jedem die Beschäftigung, für die er besonders ge¬
eignet ist, dein einen Arbeit für seine robusten Arme, dem andern für seine geschickte
Hand, den: dritten für sein Organisationstalent und seinen Erfindergeist.

Außer natürlichen und bleibenden Mißständen aber giebt es auch zeitweilige
und zufällige, und auch gegen diese muß der Staat die industrielle Thätigkeit
schützen. Was der nächsten Generation äußerst vortheilhaft sein kann, ist der
gegenwärtigen vielleicht schädlich. Um zukünftig Gewinn einzuheimsen, mag jetzt
ein Opfer erforderlich sein. Jndividnen werden dies selten bringen wollen, Privat¬
unternehmer sehen in der Regel nur auf das laufende oder das nächste Jahr.
Die Staatsklugheit muß hinzukommen, die höher steht und darum weiter blickt.
Sie muß die schwachsichtige Erwerbsbegier beherrschen, für die Zukunft sorgen
und die Industrie in Kanäle leiten, die endgiltig und bleibend wohlthätige
Wirkung üben. So geschah es in Holland, so regierten Lord Burleigh und
Cromwell, so Colbert und Peter der Große," und so verfuhr man im alten
Preußen bis zu der Zeit, wo der fremdländische Schwindel vom iWssr eg-ire
sich breit machen durfte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150505"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Charakteristik des Manchesterthums.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1118"> Was Frankreich nicht thun wollte, hat Irland thun müssen. Die Unionsacte<lb/>
sorgte für allmähliches Aufhören des Schutzes der irischen Industrie gegen die<lb/>
ihr weit überlegene englische. Aber Frankreich handelte anders, und seine Fabriken<lb/>
thun es jetzt den englischen gleich."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1119"> Was Frankreich 1815 nicht thun wollte und später unter dem zweiten<lb/>
Kaiserreiche nur in beschränktem Maße that, sollte unter der Herrschaft der Frei¬<lb/>
händler Deutschland thun. Wäre es ganz nach deren Wille» gegangen, so wäre<lb/>
die deutsche Fabrikthätigkeit jetzt todt und begraben. Schon das, was jene durch¬<lb/>
setzten, hat diesen Theil unsers wirthschaftlichen Lebens schwer geschädigt, und<lb/>
es wird einiger Zeit bedürfen, bevor das seitdem adoptirte weisere System den<lb/>
Schaden völlig aufhellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1120"> &#x201E;Nach herkömmlicher Theorie ist es gleichgiltig, ob der Banmwollenpflanzcr<lb/>
tausend Meilen weit vom Baumwollenspinner, der Kornerzeugcr ebenso weit vom<lb/>
Müller, Bäcker oder Consumenten wohnt. Bei sorgfältiger Prüfung aber ent¬<lb/>
deckt man sehr erhebliche Vortheile in dem nachbarlichen Verhältnisse, bei dem<lb/>
die verschiedenen Producenten sich gegenseitig unmittelbar in die Hände arbeiten.<lb/>
Wohnt der Landwirth, der Viehzüchter, der Flachserzeuger, der Gärtner dicht<lb/>
bei dem Müller, dem Schlächter, dem Wollwaaren- oder Lciuwaudfabrikanteu,<lb/>
so findet er vor seiner Thür einen sichern Absatzort für seiue Producte, und<lb/>
andrerseits sieht der Fabrikant rings um sich und nahe bei sich Märkte für seine<lb/>
Fabrikate, und zwar solche Märkte, die ihm wohl bekannt sind, und in Betreff<lb/>
deren er sich nicht leicht verspeeuliren kann. Landwirthschaft, Industrie und Handel<lb/>
besammen nicht bloß die Seeküsten und Flußufer, sondern dringe» gedeihend ins<lb/>
Innere ein und steigern dort den Werth der Grundstücke. Die unmittelbare Nachbar¬<lb/>
schaft und das wechselseitige Einwirken von Erzeugern von Rohstoffen und von<lb/>
Vernrbeitern derselben giebt jedem die Beschäftigung, für die er besonders ge¬<lb/>
eignet ist, dein einen Arbeit für seine robusten Arme, dem andern für seine geschickte<lb/>
Hand, den: dritten für sein Organisationstalent und seinen Erfindergeist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1121"> Außer natürlichen und bleibenden Mißständen aber giebt es auch zeitweilige<lb/>
und zufällige, und auch gegen diese muß der Staat die industrielle Thätigkeit<lb/>
schützen. Was der nächsten Generation äußerst vortheilhaft sein kann, ist der<lb/>
gegenwärtigen vielleicht schädlich. Um zukünftig Gewinn einzuheimsen, mag jetzt<lb/>
ein Opfer erforderlich sein. Jndividnen werden dies selten bringen wollen, Privat¬<lb/>
unternehmer sehen in der Regel nur auf das laufende oder das nächste Jahr.<lb/>
Die Staatsklugheit muß hinzukommen, die höher steht und darum weiter blickt.<lb/>
Sie muß die schwachsichtige Erwerbsbegier beherrschen, für die Zukunft sorgen<lb/>
und die Industrie in Kanäle leiten, die endgiltig und bleibend wohlthätige<lb/>
Wirkung üben. So geschah es in Holland, so regierten Lord Burleigh und<lb/>
Cromwell, so Colbert und Peter der Große," und so verfuhr man im alten<lb/>
Preußen bis zu der Zeit, wo der fremdländische Schwindel vom iWssr eg-ire<lb/>
sich breit machen durfte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] Zur Charakteristik des Manchesterthums. Was Frankreich nicht thun wollte, hat Irland thun müssen. Die Unionsacte sorgte für allmähliches Aufhören des Schutzes der irischen Industrie gegen die ihr weit überlegene englische. Aber Frankreich handelte anders, und seine Fabriken thun es jetzt den englischen gleich." Was Frankreich 1815 nicht thun wollte und später unter dem zweiten Kaiserreiche nur in beschränktem Maße that, sollte unter der Herrschaft der Frei¬ händler Deutschland thun. Wäre es ganz nach deren Wille» gegangen, so wäre die deutsche Fabrikthätigkeit jetzt todt und begraben. Schon das, was jene durch¬ setzten, hat diesen Theil unsers wirthschaftlichen Lebens schwer geschädigt, und es wird einiger Zeit bedürfen, bevor das seitdem adoptirte weisere System den Schaden völlig aufhellt. „Nach herkömmlicher Theorie ist es gleichgiltig, ob der Banmwollenpflanzcr tausend Meilen weit vom Baumwollenspinner, der Kornerzeugcr ebenso weit vom Müller, Bäcker oder Consumenten wohnt. Bei sorgfältiger Prüfung aber ent¬ deckt man sehr erhebliche Vortheile in dem nachbarlichen Verhältnisse, bei dem die verschiedenen Producenten sich gegenseitig unmittelbar in die Hände arbeiten. Wohnt der Landwirth, der Viehzüchter, der Flachserzeuger, der Gärtner dicht bei dem Müller, dem Schlächter, dem Wollwaaren- oder Lciuwaudfabrikanteu, so findet er vor seiner Thür einen sichern Absatzort für seiue Producte, und andrerseits sieht der Fabrikant rings um sich und nahe bei sich Märkte für seine Fabrikate, und zwar solche Märkte, die ihm wohl bekannt sind, und in Betreff deren er sich nicht leicht verspeeuliren kann. Landwirthschaft, Industrie und Handel besammen nicht bloß die Seeküsten und Flußufer, sondern dringe» gedeihend ins Innere ein und steigern dort den Werth der Grundstücke. Die unmittelbare Nachbar¬ schaft und das wechselseitige Einwirken von Erzeugern von Rohstoffen und von Vernrbeitern derselben giebt jedem die Beschäftigung, für die er besonders ge¬ eignet ist, dein einen Arbeit für seine robusten Arme, dem andern für seine geschickte Hand, den: dritten für sein Organisationstalent und seinen Erfindergeist. Außer natürlichen und bleibenden Mißständen aber giebt es auch zeitweilige und zufällige, und auch gegen diese muß der Staat die industrielle Thätigkeit schützen. Was der nächsten Generation äußerst vortheilhaft sein kann, ist der gegenwärtigen vielleicht schädlich. Um zukünftig Gewinn einzuheimsen, mag jetzt ein Opfer erforderlich sein. Jndividnen werden dies selten bringen wollen, Privat¬ unternehmer sehen in der Regel nur auf das laufende oder das nächste Jahr. Die Staatsklugheit muß hinzukommen, die höher steht und darum weiter blickt. Sie muß die schwachsichtige Erwerbsbegier beherrschen, für die Zukunft sorgen und die Industrie in Kanäle leiten, die endgiltig und bleibend wohlthätige Wirkung üben. So geschah es in Holland, so regierten Lord Burleigh und Cromwell, so Colbert und Peter der Große," und so verfuhr man im alten Preußen bis zu der Zeit, wo der fremdländische Schwindel vom iWssr eg-ire sich breit machen durfte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/355>, abgerufen am 01.09.2024.