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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

diesem Gebiete den Kampf mit der Ueberlieferung und ihren Vorurtheilen in
energischerer Weise aufgenommen haben würde, als es so leider der Fall war.

Schon 1636 hatte er mit seinem kulant xiocliAuv sich für die neue Form des
Dramas, anfangs freilich nur anonym, entschieden, ohne damit die Bedeutung
des classischen Dramas doch irgend beeinträchtigen zu wollen. Sein LnsÄut,
probi^ug -- sagt er im Vorworte -- sei eine Mischung von Erröten und scherz¬
haften, von Komischen und von Rührendem. Lacroix meint, daß dies auf
Shakespeare zurückweise. Auf das englische Theater gewiß. Unmittelbar war
das Voltairische Drama aber wohl nur in Anlehnung an Destouches und an
La Chaussöe entstanden. Gewiß war es ein großer Schritt zur Befreiung vom
Hergebrachten, daß Voltaire sich für eine solche Mischung, wenn auch nur außer¬
halb der Tragödie, erklärte und überhaupt kein Genre ausgeschlossen sehen wollte,
"bis auf das Langweilige." Er arbeitete damit, wie weit diese Gattung des
Dramas auch dem Shakespearischen fern lag, dem Verständniß für das letztere vor.

Das von Voltaire für dasselbe angeregte Interesse machte inzwischen, auch
unabhängig von ihm, noch weitre Fortschritte. Im Jahre 1740 trat Gresset
mit seinem Mormrä III. auf, in welchem sich schon ein Mord ans der Bühne
vollzieht, wofür sich der Autor im Vorwort ausdrücklich auf das englische Theater
beruft; doch erregte es damals (z. B. bei I. I. Rousseau) noch Anstoß. 1775
erschien ferner anonym der erste Band des IIMtrs MAlÄs (8 Bände), welcher
in seinen ersten Theilen nur Shakespearische Dramen in freien Uebersetzungen
brachte und von La Place herrührt. Derselbe spricht sich im Vorwort (Ilisvcmrs
sur Is tlMtriz) folgendermaßen aus: "Es ist unerheblich, daß Shakespeare in
einem andern Geschmack als dem unsern gearbeitet hat, es ist nur ein Grund
mehr, unsre Neugier zu erregen. Der französische muß ja nicht nothwendig der
aller andern Nationen sein, auch wird man demi Lesen dieses Dichters nicht nur
den Unterschied des französischen Genius, sondern auch Züge von Kraft, sowie
neue und ganz ursprüngliche Schönheiten finden." Er schätzt an Shakespeare
zugleich den Dichter, Schauspieler und Philosophen. Auch rühmt er an ihm,
daß er für das Volk gedichtet habe. "Nie hat ein Dichter so unmittelbar aus
der Natur geschöpft. Alle audern haben von der Tradition gelebt. Shakespeare
allein scheint nur seiner Inspiration gefolgt zu sein. Er ist weniger Nachahmer
und Maler der Natur, als das Organ der Empfindungen und Bewegungen,
die sie charakterisiren. Seine Charaktere sind immer wahr, immer consequent,
immer natürlich und individuell. Bei jedem andern Dichter ist jeder Charakter
ein Bild, dessen verschiedenen, einzelnen Zügen wir schon tausendmal bei andern
Autoren oder im gewöhnlichen Leben begegnet sind. Bei Shakespeare ist es ein
solches, das wir zum erstenmal sehen und das uns doch durch seine Wahrheit
so frappirt, daß wir die Wirklichkeit selbst vor uns zu sehen glauben.... Nie hat
ein Autor eine so große Gewalt über die Leidenschaften im weitesten Umfange
gehabt, und doch sehen wir nie eine Anstrengung, ob er sie nun erregen, eut-


Shakespeare in Frankreich.

diesem Gebiete den Kampf mit der Ueberlieferung und ihren Vorurtheilen in
energischerer Weise aufgenommen haben würde, als es so leider der Fall war.

Schon 1636 hatte er mit seinem kulant xiocliAuv sich für die neue Form des
Dramas, anfangs freilich nur anonym, entschieden, ohne damit die Bedeutung
des classischen Dramas doch irgend beeinträchtigen zu wollen. Sein LnsÄut,
probi^ug — sagt er im Vorworte — sei eine Mischung von Erröten und scherz¬
haften, von Komischen und von Rührendem. Lacroix meint, daß dies auf
Shakespeare zurückweise. Auf das englische Theater gewiß. Unmittelbar war
das Voltairische Drama aber wohl nur in Anlehnung an Destouches und an
La Chaussöe entstanden. Gewiß war es ein großer Schritt zur Befreiung vom
Hergebrachten, daß Voltaire sich für eine solche Mischung, wenn auch nur außer¬
halb der Tragödie, erklärte und überhaupt kein Genre ausgeschlossen sehen wollte,
„bis auf das Langweilige." Er arbeitete damit, wie weit diese Gattung des
Dramas auch dem Shakespearischen fern lag, dem Verständniß für das letztere vor.

Das von Voltaire für dasselbe angeregte Interesse machte inzwischen, auch
unabhängig von ihm, noch weitre Fortschritte. Im Jahre 1740 trat Gresset
mit seinem Mormrä III. auf, in welchem sich schon ein Mord ans der Bühne
vollzieht, wofür sich der Autor im Vorwort ausdrücklich auf das englische Theater
beruft; doch erregte es damals (z. B. bei I. I. Rousseau) noch Anstoß. 1775
erschien ferner anonym der erste Band des IIMtrs MAlÄs (8 Bände), welcher
in seinen ersten Theilen nur Shakespearische Dramen in freien Uebersetzungen
brachte und von La Place herrührt. Derselbe spricht sich im Vorwort (Ilisvcmrs
sur Is tlMtriz) folgendermaßen aus: „Es ist unerheblich, daß Shakespeare in
einem andern Geschmack als dem unsern gearbeitet hat, es ist nur ein Grund
mehr, unsre Neugier zu erregen. Der französische muß ja nicht nothwendig der
aller andern Nationen sein, auch wird man demi Lesen dieses Dichters nicht nur
den Unterschied des französischen Genius, sondern auch Züge von Kraft, sowie
neue und ganz ursprüngliche Schönheiten finden." Er schätzt an Shakespeare
zugleich den Dichter, Schauspieler und Philosophen. Auch rühmt er an ihm,
daß er für das Volk gedichtet habe. „Nie hat ein Dichter so unmittelbar aus
der Natur geschöpft. Alle audern haben von der Tradition gelebt. Shakespeare
allein scheint nur seiner Inspiration gefolgt zu sein. Er ist weniger Nachahmer
und Maler der Natur, als das Organ der Empfindungen und Bewegungen,
die sie charakterisiren. Seine Charaktere sind immer wahr, immer consequent,
immer natürlich und individuell. Bei jedem andern Dichter ist jeder Charakter
ein Bild, dessen verschiedenen, einzelnen Zügen wir schon tausendmal bei andern
Autoren oder im gewöhnlichen Leben begegnet sind. Bei Shakespeare ist es ein
solches, das wir zum erstenmal sehen und das uns doch durch seine Wahrheit
so frappirt, daß wir die Wirklichkeit selbst vor uns zu sehen glauben.... Nie hat
ein Autor eine so große Gewalt über die Leidenschaften im weitesten Umfange
gehabt, und doch sehen wir nie eine Anstrengung, ob er sie nun erregen, eut-


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[0338] Shakespeare in Frankreich. diesem Gebiete den Kampf mit der Ueberlieferung und ihren Vorurtheilen in energischerer Weise aufgenommen haben würde, als es so leider der Fall war. Schon 1636 hatte er mit seinem kulant xiocliAuv sich für die neue Form des Dramas, anfangs freilich nur anonym, entschieden, ohne damit die Bedeutung des classischen Dramas doch irgend beeinträchtigen zu wollen. Sein LnsÄut, probi^ug — sagt er im Vorworte — sei eine Mischung von Erröten und scherz¬ haften, von Komischen und von Rührendem. Lacroix meint, daß dies auf Shakespeare zurückweise. Auf das englische Theater gewiß. Unmittelbar war das Voltairische Drama aber wohl nur in Anlehnung an Destouches und an La Chaussöe entstanden. Gewiß war es ein großer Schritt zur Befreiung vom Hergebrachten, daß Voltaire sich für eine solche Mischung, wenn auch nur außer¬ halb der Tragödie, erklärte und überhaupt kein Genre ausgeschlossen sehen wollte, „bis auf das Langweilige." Er arbeitete damit, wie weit diese Gattung des Dramas auch dem Shakespearischen fern lag, dem Verständniß für das letztere vor. Das von Voltaire für dasselbe angeregte Interesse machte inzwischen, auch unabhängig von ihm, noch weitre Fortschritte. Im Jahre 1740 trat Gresset mit seinem Mormrä III. auf, in welchem sich schon ein Mord ans der Bühne vollzieht, wofür sich der Autor im Vorwort ausdrücklich auf das englische Theater beruft; doch erregte es damals (z. B. bei I. I. Rousseau) noch Anstoß. 1775 erschien ferner anonym der erste Band des IIMtrs MAlÄs (8 Bände), welcher in seinen ersten Theilen nur Shakespearische Dramen in freien Uebersetzungen brachte und von La Place herrührt. Derselbe spricht sich im Vorwort (Ilisvcmrs sur Is tlMtriz) folgendermaßen aus: „Es ist unerheblich, daß Shakespeare in einem andern Geschmack als dem unsern gearbeitet hat, es ist nur ein Grund mehr, unsre Neugier zu erregen. Der französische muß ja nicht nothwendig der aller andern Nationen sein, auch wird man demi Lesen dieses Dichters nicht nur den Unterschied des französischen Genius, sondern auch Züge von Kraft, sowie neue und ganz ursprüngliche Schönheiten finden." Er schätzt an Shakespeare zugleich den Dichter, Schauspieler und Philosophen. Auch rühmt er an ihm, daß er für das Volk gedichtet habe. „Nie hat ein Dichter so unmittelbar aus der Natur geschöpft. Alle audern haben von der Tradition gelebt. Shakespeare allein scheint nur seiner Inspiration gefolgt zu sein. Er ist weniger Nachahmer und Maler der Natur, als das Organ der Empfindungen und Bewegungen, die sie charakterisiren. Seine Charaktere sind immer wahr, immer consequent, immer natürlich und individuell. Bei jedem andern Dichter ist jeder Charakter ein Bild, dessen verschiedenen, einzelnen Zügen wir schon tausendmal bei andern Autoren oder im gewöhnlichen Leben begegnet sind. Bei Shakespeare ist es ein solches, das wir zum erstenmal sehen und das uns doch durch seine Wahrheit so frappirt, daß wir die Wirklichkeit selbst vor uns zu sehen glauben.... Nie hat ein Autor eine so große Gewalt über die Leidenschaften im weitesten Umfange gehabt, und doch sehen wir nie eine Anstrengung, ob er sie nun erregen, eut-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/338>, abgerufen am 25.11.2024.