Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Shakespeare in Frankreich.

mehr unterband, als die Stimmung des Landes diese Maßregeln vorerst be¬
günstigte.

Das von Evrcmond damals im Geschmacke der Engländer geschriebene sati¬
rische Lustspiel: Lir?oMv1c Vsoulä-dö kann umsoweniger als ein Beweis für
den Einfluß des englischen Dramas auf das französische angesehen werden, als
Evremond, der das Englische mir oberflächlich verstand, eine sehr beschränkte und
unvollkommene Kenntniß der-englischen Literatur hatte, und jenes Lustspiel nichts
weiter als eine literarische Curiosität war. Wichtiger ist der Zusammenhang,
in welchem, wie man nachgewiesen, daS 1698 erschienene Trauerspiel NimlniZ
von- La Fosse mit der Otwnhschen Tragödie Vsnios xrössrvsä stand. Albert
Lacroix hat in seiner Aistoiro av 1'mümznoo as LdaKesxosrv sur Is tüMtro krkmyais
auch noch auf die Aehnlichkeit der Scene, in der hier Valvre ihrem Gatten das
ihr von diesem verborgen gehaltene Geheimniß zu entreißen trachtet, mit der
verwandten in Shakespeares "Julius Cäsar" zwischen Portia und Brutus auf¬
merksam gemacht. Wenn diese Aehnlichkeit auch uur eine zufällige sein könnte,
gewinnt der hier vermuthete Zusammenhang dnrch das Verhältniß des Dramas
von La Fosse zu dem Otwayscheu Stücke doch sehr an Wahrscheinlichkeit. Da
aber bei dem französischen Dichter alle Motive der Shakespearischen Seene ab¬
geschwächt sind, so dürfte dieser doch wenigstens nicht unmittelbar aus der Quelle,
sondern nur aus einer jener Bühnenbearbcitnngen des Shakespearischen Dramas
geschöpft haben.

Auch die dramaturgischen Ansichten des etwas spätern La Motte weisen
auf englischen Einfluß hin. "Ich wünschte -- heißt es bei ihm unter anderm --,
daß man der Tragödie eine Schönheit zu geben suchte, welche ihr wesentlich ist
und welche sie bei uns doch nicht hat -- ich meine durch jene mächtigeren Hand¬
lungen, welche Pomp fordern und mit auf das Auge wirken (ani äöirmnclvnt.
all 1'g.xMi'sit et an sxsewolö). Die meisten unsrer Stücke sind nur Dialoge
und Erzählungen. Die Engländer haben einen entgegengesetzten Geschmack, der
sie, wie man sagt, zu Uebertreibungen verleitet hat, welche ich auch gar uicht
in Abrede stellen will." Nicht minder dürften La Molech Angriffe auf den Reim
und den Alexandriner aus dem Einfluß des englischen Dramas zu erklären
sein, obschon man sich seine Kenntniß des letzteren immer nur als eine beschränkte
Und dürftige zu denken haben wird.

La Motte nahm bekanntlich den von Perrault angeregten Streit über den
Vorzug der Alten und Neuen zu Gunsten der letztem wieder ans, was hier
Erwähnung verdient, weil von ihm die Bewegung ausging, welche der Aufnahme
Shakespeares in Frankreich den Boden bereitete.

Dienach England ausgewanderten Protestanten mochten schon lange heimlich
einen geistigen Verkehr mit dem Vaterlande unterhalten haben. Er hatte aber
lvvhl kaum das Theater berührt. Der emigrirte Woher weist in seiner 1715 er¬
schienenen französisch-englischen Grammatik, so viel sich erkennen läßt, zuerst in


Grenzboten 11t. 18L1. 41
Shakespeare in Frankreich.

mehr unterband, als die Stimmung des Landes diese Maßregeln vorerst be¬
günstigte.

Das von Evrcmond damals im Geschmacke der Engländer geschriebene sati¬
rische Lustspiel: Lir?oMv1c Vsoulä-dö kann umsoweniger als ein Beweis für
den Einfluß des englischen Dramas auf das französische angesehen werden, als
Evremond, der das Englische mir oberflächlich verstand, eine sehr beschränkte und
unvollkommene Kenntniß der-englischen Literatur hatte, und jenes Lustspiel nichts
weiter als eine literarische Curiosität war. Wichtiger ist der Zusammenhang,
in welchem, wie man nachgewiesen, daS 1698 erschienene Trauerspiel NimlniZ
von- La Fosse mit der Otwnhschen Tragödie Vsnios xrössrvsä stand. Albert
Lacroix hat in seiner Aistoiro av 1'mümznoo as LdaKesxosrv sur Is tüMtro krkmyais
auch noch auf die Aehnlichkeit der Scene, in der hier Valvre ihrem Gatten das
ihr von diesem verborgen gehaltene Geheimniß zu entreißen trachtet, mit der
verwandten in Shakespeares „Julius Cäsar" zwischen Portia und Brutus auf¬
merksam gemacht. Wenn diese Aehnlichkeit auch uur eine zufällige sein könnte,
gewinnt der hier vermuthete Zusammenhang dnrch das Verhältniß des Dramas
von La Fosse zu dem Otwayscheu Stücke doch sehr an Wahrscheinlichkeit. Da
aber bei dem französischen Dichter alle Motive der Shakespearischen Seene ab¬
geschwächt sind, so dürfte dieser doch wenigstens nicht unmittelbar aus der Quelle,
sondern nur aus einer jener Bühnenbearbcitnngen des Shakespearischen Dramas
geschöpft haben.

Auch die dramaturgischen Ansichten des etwas spätern La Motte weisen
auf englischen Einfluß hin. „Ich wünschte — heißt es bei ihm unter anderm —,
daß man der Tragödie eine Schönheit zu geben suchte, welche ihr wesentlich ist
und welche sie bei uns doch nicht hat — ich meine durch jene mächtigeren Hand¬
lungen, welche Pomp fordern und mit auf das Auge wirken (ani äöirmnclvnt.
all 1'g.xMi'sit et an sxsewolö). Die meisten unsrer Stücke sind nur Dialoge
und Erzählungen. Die Engländer haben einen entgegengesetzten Geschmack, der
sie, wie man sagt, zu Uebertreibungen verleitet hat, welche ich auch gar uicht
in Abrede stellen will." Nicht minder dürften La Molech Angriffe auf den Reim
und den Alexandriner aus dem Einfluß des englischen Dramas zu erklären
sein, obschon man sich seine Kenntniß des letzteren immer nur als eine beschränkte
Und dürftige zu denken haben wird.

La Motte nahm bekanntlich den von Perrault angeregten Streit über den
Vorzug der Alten und Neuen zu Gunsten der letztem wieder ans, was hier
Erwähnung verdient, weil von ihm die Bewegung ausging, welche der Aufnahme
Shakespeares in Frankreich den Boden bereitete.

Dienach England ausgewanderten Protestanten mochten schon lange heimlich
einen geistigen Verkehr mit dem Vaterlande unterhalten haben. Er hatte aber
lvvhl kaum das Theater berührt. Der emigrirte Woher weist in seiner 1715 er¬
schienenen französisch-englischen Grammatik, so viel sich erkennen läßt, zuerst in


Grenzboten 11t. 18L1. 41
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0329" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150479"/>
          <fw type="header" place="top"> Shakespeare in Frankreich.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1039" prev="#ID_1038"> mehr unterband, als die Stimmung des Landes diese Maßregeln vorerst be¬<lb/>
günstigte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1040"> Das von Evrcmond damals im Geschmacke der Engländer geschriebene sati¬<lb/>
rische Lustspiel: Lir?oMv1c Vsoulä-dö kann umsoweniger als ein Beweis für<lb/>
den Einfluß des englischen Dramas auf das französische angesehen werden, als<lb/>
Evremond, der das Englische mir oberflächlich verstand, eine sehr beschränkte und<lb/>
unvollkommene Kenntniß der-englischen Literatur hatte, und jenes Lustspiel nichts<lb/>
weiter als eine literarische Curiosität war. Wichtiger ist der Zusammenhang,<lb/>
in welchem, wie man nachgewiesen, daS 1698 erschienene Trauerspiel NimlniZ<lb/>
von- La Fosse mit der Otwnhschen Tragödie Vsnios xrössrvsä stand. Albert<lb/>
Lacroix hat in seiner Aistoiro av 1'mümznoo as LdaKesxosrv sur Is tüMtro krkmyais<lb/>
auch noch auf die Aehnlichkeit der Scene, in der hier Valvre ihrem Gatten das<lb/>
ihr von diesem verborgen gehaltene Geheimniß zu entreißen trachtet, mit der<lb/>
verwandten in Shakespeares &#x201E;Julius Cäsar" zwischen Portia und Brutus auf¬<lb/>
merksam gemacht. Wenn diese Aehnlichkeit auch uur eine zufällige sein könnte,<lb/>
gewinnt der hier vermuthete Zusammenhang dnrch das Verhältniß des Dramas<lb/>
von La Fosse zu dem Otwayscheu Stücke doch sehr an Wahrscheinlichkeit. Da<lb/>
aber bei dem französischen Dichter alle Motive der Shakespearischen Seene ab¬<lb/>
geschwächt sind, so dürfte dieser doch wenigstens nicht unmittelbar aus der Quelle,<lb/>
sondern nur aus einer jener Bühnenbearbcitnngen des Shakespearischen Dramas<lb/>
geschöpft haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1041"> Auch die dramaturgischen Ansichten des etwas spätern La Motte weisen<lb/>
auf englischen Einfluß hin. &#x201E;Ich wünschte &#x2014; heißt es bei ihm unter anderm &#x2014;,<lb/>
daß man der Tragödie eine Schönheit zu geben suchte, welche ihr wesentlich ist<lb/>
und welche sie bei uns doch nicht hat &#x2014; ich meine durch jene mächtigeren Hand¬<lb/>
lungen, welche Pomp fordern und mit auf das Auge wirken (ani äöirmnclvnt.<lb/>
all 1'g.xMi'sit et an sxsewolö). Die meisten unsrer Stücke sind nur Dialoge<lb/>
und Erzählungen. Die Engländer haben einen entgegengesetzten Geschmack, der<lb/>
sie, wie man sagt, zu Uebertreibungen verleitet hat, welche ich auch gar uicht<lb/>
in Abrede stellen will." Nicht minder dürften La Molech Angriffe auf den Reim<lb/>
und den Alexandriner aus dem Einfluß des englischen Dramas zu erklären<lb/>
sein, obschon man sich seine Kenntniß des letzteren immer nur als eine beschränkte<lb/>
Und dürftige zu denken haben wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1042"> La Motte nahm bekanntlich den von Perrault angeregten Streit über den<lb/>
Vorzug der Alten und Neuen zu Gunsten der letztem wieder ans, was hier<lb/>
Erwähnung verdient, weil von ihm die Bewegung ausging, welche der Aufnahme<lb/>
Shakespeares in Frankreich den Boden bereitete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1043" next="#ID_1044"> Dienach England ausgewanderten Protestanten mochten schon lange heimlich<lb/>
einen geistigen Verkehr mit dem Vaterlande unterhalten haben. Er hatte aber<lb/>
lvvhl kaum das Theater berührt. Der emigrirte Woher weist in seiner 1715 er¬<lb/>
schienenen französisch-englischen Grammatik, so viel sich erkennen läßt, zuerst in</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 11t. 18L1. 41</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0329] Shakespeare in Frankreich. mehr unterband, als die Stimmung des Landes diese Maßregeln vorerst be¬ günstigte. Das von Evrcmond damals im Geschmacke der Engländer geschriebene sati¬ rische Lustspiel: Lir?oMv1c Vsoulä-dö kann umsoweniger als ein Beweis für den Einfluß des englischen Dramas auf das französische angesehen werden, als Evremond, der das Englische mir oberflächlich verstand, eine sehr beschränkte und unvollkommene Kenntniß der-englischen Literatur hatte, und jenes Lustspiel nichts weiter als eine literarische Curiosität war. Wichtiger ist der Zusammenhang, in welchem, wie man nachgewiesen, daS 1698 erschienene Trauerspiel NimlniZ von- La Fosse mit der Otwnhschen Tragödie Vsnios xrössrvsä stand. Albert Lacroix hat in seiner Aistoiro av 1'mümznoo as LdaKesxosrv sur Is tüMtro krkmyais auch noch auf die Aehnlichkeit der Scene, in der hier Valvre ihrem Gatten das ihr von diesem verborgen gehaltene Geheimniß zu entreißen trachtet, mit der verwandten in Shakespeares „Julius Cäsar" zwischen Portia und Brutus auf¬ merksam gemacht. Wenn diese Aehnlichkeit auch uur eine zufällige sein könnte, gewinnt der hier vermuthete Zusammenhang dnrch das Verhältniß des Dramas von La Fosse zu dem Otwayscheu Stücke doch sehr an Wahrscheinlichkeit. Da aber bei dem französischen Dichter alle Motive der Shakespearischen Seene ab¬ geschwächt sind, so dürfte dieser doch wenigstens nicht unmittelbar aus der Quelle, sondern nur aus einer jener Bühnenbearbcitnngen des Shakespearischen Dramas geschöpft haben. Auch die dramaturgischen Ansichten des etwas spätern La Motte weisen auf englischen Einfluß hin. „Ich wünschte — heißt es bei ihm unter anderm —, daß man der Tragödie eine Schönheit zu geben suchte, welche ihr wesentlich ist und welche sie bei uns doch nicht hat — ich meine durch jene mächtigeren Hand¬ lungen, welche Pomp fordern und mit auf das Auge wirken (ani äöirmnclvnt. all 1'g.xMi'sit et an sxsewolö). Die meisten unsrer Stücke sind nur Dialoge und Erzählungen. Die Engländer haben einen entgegengesetzten Geschmack, der sie, wie man sagt, zu Uebertreibungen verleitet hat, welche ich auch gar uicht in Abrede stellen will." Nicht minder dürften La Molech Angriffe auf den Reim und den Alexandriner aus dem Einfluß des englischen Dramas zu erklären sein, obschon man sich seine Kenntniß des letzteren immer nur als eine beschränkte Und dürftige zu denken haben wird. La Motte nahm bekanntlich den von Perrault angeregten Streit über den Vorzug der Alten und Neuen zu Gunsten der letztem wieder ans, was hier Erwähnung verdient, weil von ihm die Bewegung ausging, welche der Aufnahme Shakespeares in Frankreich den Boden bereitete. Dienach England ausgewanderten Protestanten mochten schon lange heimlich einen geistigen Verkehr mit dem Vaterlande unterhalten haben. Er hatte aber lvvhl kaum das Theater berührt. Der emigrirte Woher weist in seiner 1715 er¬ schienenen französisch-englischen Grammatik, so viel sich erkennen läßt, zuerst in Grenzboten 11t. 18L1. 41

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/329
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/329>, abgerufen am 26.11.2024.