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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Franz Schuberts Miillcrlioder,

raschen Erdengange die Gaben seines himmlischen Genius in verschwenderischer
Menge hinstreute. Es war Franz Schubert, der Schullehrerssohu aus Lichten-
thal, der sich an einem bescheidnen Wiener Mnsikerleben geniige" ließ, weil er
so reich war durch die Gunst der Muse, die ihm eine unerschöpfliche Fülle frischen,
quellenden Gesanges verliehen hatte. An Fruchtbarkeit sind ihm nnr wenig Meister
ebenbürtig, an Liebenswürdigkeit übertrifft er alle. Er war zum Liebling aller
geboren, die Grazie eines naiven Naturells ziert ihn, wo er uns auch begegnet,
und auf alleu Gebieten der Tonkunst, die er betrat, gesellte er sich mit dem ersten
Schritte unter die Großherrcn, Wenn wir heute, nachdem wir seine Jnstrnmental-
schöpfnngen kennen gelernt, von denen seine Zeitgenossen so gut wie nichts wußten,
immer noch Schubert nur als den Liedersänger feiern, begehen wir ein Unrecht.
Obgleich wir dies aber wissen, wird es doch dabei bleiben, denn im Liede war
Schubert eben nicht bloß groß, sondern bahnbrechend und unvergleichlich. Wenn
einer der Lebenden mit einem frisch Vollendeten Meisterwerke vor uns tritt, die
Freude ist nicht größer als sie sein könnte, wenn von Schubert ein bisher un-
bekannter Gesang neuanfgcfundcn würde. Und doch ruht er über ein halbes Jahr¬
hundert schon in der Erde. Er ist eben aller Voraussicht uach nicht zu überholen,
und wir können von seinen Liedern nicht genug haben, können sie auch nicht genug
kennen. Ihre Jugend scheint unvergänglich und überrascht uns jeden Tag mit
ihren Reizen wie von neuem. Sie sind unverwüstlich -- wären sie es nicht, die
leidige Gewohnheit unsrer Sänger, immer wieder dieselben wenigen Stücke zu
bringen, deren Erfolg erprobt und verbürgt ist, hätte Gesänge wie den "Erl¬
könig" und den "Wandrer" längst todt gemacht. Auch von einzelnen der Müller¬
lieder kann man hageln "Zu viel gesungen!" Nummern wie "Das Wandern
ist des Müllers Lust" u. a. sind bis in die untersten Schichten gedrungen, andre
aber, wie der "Jäger," sind auch in musikalischen Kreisen wenig bekannt. Und
doch sollte, wer kann, sich mit dem Chelus als Ganzem vertraut machen. Denn
gerade die Composition dieses Liederkreiscs, nicht bloß einzelne seiner Nummern,
mochten wir in Schuberts Nuhmestafel uicht missen. Gewiß kündet jede Nummer
den genialen Musiker, aber erst das Ganze den feinen Künstlergeist, der dein
Mannichfaltigen die Einheit giebt, den Meister des großen Entwurfes. Der
gemeinsame Ton, der diese Licderblüthen zum Strauße bindet, ist fast das Größte
an dieser Composition, und kein Zweifel, wenn man ihn erst erfaßt hat, gewinnt
man die einzelnen Lieder zehnfach so lieb, ja einige lernt man erst verstehen.
Julius Stockhausen war wohl der erste, der die Ansicht, man dürfe die Müller¬
lieder nicht auseinanderreißen, praktisch vertrat. Wo seit der Mitte der fünfziger
Jahre gute Sänger, wie der Wiener Gustav Walter, das Gleiche unternahmen,
haben sie einen begeisterten Anklang und immer viele Musikfreunde gefunden,
denen es eine Freude war, ein kleines Schubertfest zu feiern.

Kreißte erzählt, daß Schubert diese Mullerlieder in sehr kurzer Zeit com-
ponirt habe. Einen Freund, ich glaube Raudthartinger, besuchend, findet er auf


Franz Schuberts Miillcrlioder,

raschen Erdengange die Gaben seines himmlischen Genius in verschwenderischer
Menge hinstreute. Es war Franz Schubert, der Schullehrerssohu aus Lichten-
thal, der sich an einem bescheidnen Wiener Mnsikerleben geniige» ließ, weil er
so reich war durch die Gunst der Muse, die ihm eine unerschöpfliche Fülle frischen,
quellenden Gesanges verliehen hatte. An Fruchtbarkeit sind ihm nnr wenig Meister
ebenbürtig, an Liebenswürdigkeit übertrifft er alle. Er war zum Liebling aller
geboren, die Grazie eines naiven Naturells ziert ihn, wo er uns auch begegnet,
und auf alleu Gebieten der Tonkunst, die er betrat, gesellte er sich mit dem ersten
Schritte unter die Großherrcn, Wenn wir heute, nachdem wir seine Jnstrnmental-
schöpfnngen kennen gelernt, von denen seine Zeitgenossen so gut wie nichts wußten,
immer noch Schubert nur als den Liedersänger feiern, begehen wir ein Unrecht.
Obgleich wir dies aber wissen, wird es doch dabei bleiben, denn im Liede war
Schubert eben nicht bloß groß, sondern bahnbrechend und unvergleichlich. Wenn
einer der Lebenden mit einem frisch Vollendeten Meisterwerke vor uns tritt, die
Freude ist nicht größer als sie sein könnte, wenn von Schubert ein bisher un-
bekannter Gesang neuanfgcfundcn würde. Und doch ruht er über ein halbes Jahr¬
hundert schon in der Erde. Er ist eben aller Voraussicht uach nicht zu überholen,
und wir können von seinen Liedern nicht genug haben, können sie auch nicht genug
kennen. Ihre Jugend scheint unvergänglich und überrascht uns jeden Tag mit
ihren Reizen wie von neuem. Sie sind unverwüstlich — wären sie es nicht, die
leidige Gewohnheit unsrer Sänger, immer wieder dieselben wenigen Stücke zu
bringen, deren Erfolg erprobt und verbürgt ist, hätte Gesänge wie den „Erl¬
könig" und den „Wandrer" längst todt gemacht. Auch von einzelnen der Müller¬
lieder kann man hageln „Zu viel gesungen!" Nummern wie „Das Wandern
ist des Müllers Lust" u. a. sind bis in die untersten Schichten gedrungen, andre
aber, wie der „Jäger," sind auch in musikalischen Kreisen wenig bekannt. Und
doch sollte, wer kann, sich mit dem Chelus als Ganzem vertraut machen. Denn
gerade die Composition dieses Liederkreiscs, nicht bloß einzelne seiner Nummern,
mochten wir in Schuberts Nuhmestafel uicht missen. Gewiß kündet jede Nummer
den genialen Musiker, aber erst das Ganze den feinen Künstlergeist, der dein
Mannichfaltigen die Einheit giebt, den Meister des großen Entwurfes. Der
gemeinsame Ton, der diese Licderblüthen zum Strauße bindet, ist fast das Größte
an dieser Composition, und kein Zweifel, wenn man ihn erst erfaßt hat, gewinnt
man die einzelnen Lieder zehnfach so lieb, ja einige lernt man erst verstehen.
Julius Stockhausen war wohl der erste, der die Ansicht, man dürfe die Müller¬
lieder nicht auseinanderreißen, praktisch vertrat. Wo seit der Mitte der fünfziger
Jahre gute Sänger, wie der Wiener Gustav Walter, das Gleiche unternahmen,
haben sie einen begeisterten Anklang und immer viele Musikfreunde gefunden,
denen es eine Freude war, ein kleines Schubertfest zu feiern.

Kreißte erzählt, daß Schubert diese Mullerlieder in sehr kurzer Zeit com-
ponirt habe. Einen Freund, ich glaube Raudthartinger, besuchend, findet er auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/306>, abgerufen am 25.11.2024.