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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzcs System der Philosophie.

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Was bliebe noch, das wir irgend "das Ding selbst" oder "das Wesen selbst"
nennen dürften? So könnte doch nur ein eigner, aus seinen eignen Kräften
schöpfender Wirkungsherd genannt werden. Oder wären die Dinge etwa als
eigne Existenzpunkte nöthig, um die Wirkungen Gottes erleiden, empfinden
zu können? um die innern Zustände, von welchen die Rede war, überhaupt
nur haben zu können? Wir müssen uns erinnern, daß die Erfassung eines
innern Zustandes, etwa durch seine Beleuchtung mittelst des Selbstbewußtseins,
nach Lotze auch eine jener Wirkungen Gottes sein würde, keineswegs die Wir¬
kung eines selbstthätigen Weltwesens, das sie in einem eignen Innern erzeugt.
Sonach giebt es überhaupt keine Weltwesen, sondern es giebt nur den einen,
in sich selbst wirkenden, nur Scheinwesen, die sich selbst als real vorkommen, die
ihr eignes Wohl und Wehe zu empfinden und zu wollen glauben, nnablässtg
schaffenden Gott. Alles Leben, welches diesen Wesen als ihr eignes erscheint,
ja auch dieser Schein selbst, ist ein fortlaufendes, immer von frischem dem Ur¬
quell entsteigendes göttliches Thun. Doch warum deduciren? Unser Philosoph
hat nicht verschwiegen, daß so sein letztes Wort über das, was in Wahrheit
existirt, lauten müßte. "So wenig wir aus einer zusammenhanglosen Vielheit
realer Elemente des Stoffs die Welt gebaut dachten -- liest man gegen den
Schluß des jüngsten Werkes --, so wenig haben wir freilich auch die einzelnen
Seelen, auf welche dieses System der Gelegenheiten wirkt, als unaufheblichc
Wesen betrachtet; sie gelten uns, wie jene, doch nnr als Aetionen des Einen
wahrhaft Seienden, bevorzugt nur durch ihre wunderbare, keiner Einsicht weücr
erklärbare Fähigkeit, sich selbst als thätige Mittelpunkte eines von ihnen aus¬
gehenden Lebens zu fühlen und zu wissen; nur darum und so weit sie dies thun,
nannten wir sie Wesen oder Substanzen." Und weiterhin: "Wenn die Seele
>n völlig traumlosen Schlafe nichts vorstellt, fühlt und will, ist sie dann, und
was ist sie? Wie oft hat man geantwortet, daß sie dann nicht sem wurde,
wenn dies jemals geschehen könnte; warum hat man nicht vielmehr gewagt zu
s"gen, daß sie dann nicht ist. so oft es geschieht?" - "Warum sollte uicht ihr
Leben eine Melodie mit Pause" sein, während der ewige Urquell fortwirkt, ans
dem, als eine seiner Thaten, ihr Dasein und ihre Thätigkeit entsprang? Ans
ihm würde sie wieder entspringen. in folgerechtem Anschluß an ihr früheres
Sein, sobald jene Pansen vorüber sind, während dann andre Thaten desselben
Urgrundes die Bedingungen ihres neuen Eintritts herstellten" (S. 601 ff.). Jetzt
erinnern wir uns wieder an die Aufhebung des Raums und jeder räumlichen
Geschiedeuheit zwischen den "Beziehungspnnkten," So wenig unser Anschauungs-
bedürfniß geltend gemacht werden darf für die Fassung deS wahrhaften Seins,
s" sehr ist es doch hier zugetroffen, daß die unterschied".- Vielheit, welche tem
Raum mehr in sich spaltet, welche also räumlich in eins zusammenfällt, mich in
ihrer Realität in eins zusammenfällt. Auch Lotze hat die überaus schwere Zu-
muthung an sich selbst, Geschiedenes ohne scheidende Distanzen zu denken, nicht


Hermann Lotzcs System der Philosophie.

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Was bliebe noch, das wir irgend „das Ding selbst" oder „das Wesen selbst"
nennen dürften? So könnte doch nur ein eigner, aus seinen eignen Kräften
schöpfender Wirkungsherd genannt werden. Oder wären die Dinge etwa als
eigne Existenzpunkte nöthig, um die Wirkungen Gottes erleiden, empfinden
zu können? um die innern Zustände, von welchen die Rede war, überhaupt
nur haben zu können? Wir müssen uns erinnern, daß die Erfassung eines
innern Zustandes, etwa durch seine Beleuchtung mittelst des Selbstbewußtseins,
nach Lotze auch eine jener Wirkungen Gottes sein würde, keineswegs die Wir¬
kung eines selbstthätigen Weltwesens, das sie in einem eignen Innern erzeugt.
Sonach giebt es überhaupt keine Weltwesen, sondern es giebt nur den einen,
in sich selbst wirkenden, nur Scheinwesen, die sich selbst als real vorkommen, die
ihr eignes Wohl und Wehe zu empfinden und zu wollen glauben, nnablässtg
schaffenden Gott. Alles Leben, welches diesen Wesen als ihr eignes erscheint,
ja auch dieser Schein selbst, ist ein fortlaufendes, immer von frischem dem Ur¬
quell entsteigendes göttliches Thun. Doch warum deduciren? Unser Philosoph
hat nicht verschwiegen, daß so sein letztes Wort über das, was in Wahrheit
existirt, lauten müßte. „So wenig wir aus einer zusammenhanglosen Vielheit
realer Elemente des Stoffs die Welt gebaut dachten — liest man gegen den
Schluß des jüngsten Werkes —, so wenig haben wir freilich auch die einzelnen
Seelen, auf welche dieses System der Gelegenheiten wirkt, als unaufheblichc
Wesen betrachtet; sie gelten uns, wie jene, doch nnr als Aetionen des Einen
wahrhaft Seienden, bevorzugt nur durch ihre wunderbare, keiner Einsicht weücr
erklärbare Fähigkeit, sich selbst als thätige Mittelpunkte eines von ihnen aus¬
gehenden Lebens zu fühlen und zu wissen; nur darum und so weit sie dies thun,
nannten wir sie Wesen oder Substanzen." Und weiterhin: „Wenn die Seele
>n völlig traumlosen Schlafe nichts vorstellt, fühlt und will, ist sie dann, und
was ist sie? Wie oft hat man geantwortet, daß sie dann nicht sem wurde,
wenn dies jemals geschehen könnte; warum hat man nicht vielmehr gewagt zu
s"gen, daß sie dann nicht ist. so oft es geschieht?" - „Warum sollte uicht ihr
Leben eine Melodie mit Pause« sein, während der ewige Urquell fortwirkt, ans
dem, als eine seiner Thaten, ihr Dasein und ihre Thätigkeit entsprang? Ans
ihm würde sie wieder entspringen. in folgerechtem Anschluß an ihr früheres
Sein, sobald jene Pansen vorüber sind, während dann andre Thaten desselben
Urgrundes die Bedingungen ihres neuen Eintritts herstellten" (S. 601 ff.). Jetzt
erinnern wir uns wieder an die Aufhebung des Raums und jeder räumlichen
Geschiedeuheit zwischen den „Beziehungspnnkten," So wenig unser Anschauungs-
bedürfniß geltend gemacht werden darf für die Fassung deS wahrhaften Seins,
s» sehr ist es doch hier zugetroffen, daß die unterschied».- Vielheit, welche tem
Raum mehr in sich spaltet, welche also räumlich in eins zusammenfällt, mich in
ihrer Realität in eins zusammenfällt. Auch Lotze hat die überaus schwere Zu-
muthung an sich selbst, Geschiedenes ohne scheidende Distanzen zu denken, nicht


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[0301] Hermann Lotzcs System der Philosophie. ____ Was bliebe noch, das wir irgend „das Ding selbst" oder „das Wesen selbst" nennen dürften? So könnte doch nur ein eigner, aus seinen eignen Kräften schöpfender Wirkungsherd genannt werden. Oder wären die Dinge etwa als eigne Existenzpunkte nöthig, um die Wirkungen Gottes erleiden, empfinden zu können? um die innern Zustände, von welchen die Rede war, überhaupt nur haben zu können? Wir müssen uns erinnern, daß die Erfassung eines innern Zustandes, etwa durch seine Beleuchtung mittelst des Selbstbewußtseins, nach Lotze auch eine jener Wirkungen Gottes sein würde, keineswegs die Wir¬ kung eines selbstthätigen Weltwesens, das sie in einem eignen Innern erzeugt. Sonach giebt es überhaupt keine Weltwesen, sondern es giebt nur den einen, in sich selbst wirkenden, nur Scheinwesen, die sich selbst als real vorkommen, die ihr eignes Wohl und Wehe zu empfinden und zu wollen glauben, nnablässtg schaffenden Gott. Alles Leben, welches diesen Wesen als ihr eignes erscheint, ja auch dieser Schein selbst, ist ein fortlaufendes, immer von frischem dem Ur¬ quell entsteigendes göttliches Thun. Doch warum deduciren? Unser Philosoph hat nicht verschwiegen, daß so sein letztes Wort über das, was in Wahrheit existirt, lauten müßte. „So wenig wir aus einer zusammenhanglosen Vielheit realer Elemente des Stoffs die Welt gebaut dachten — liest man gegen den Schluß des jüngsten Werkes —, so wenig haben wir freilich auch die einzelnen Seelen, auf welche dieses System der Gelegenheiten wirkt, als unaufheblichc Wesen betrachtet; sie gelten uns, wie jene, doch nnr als Aetionen des Einen wahrhaft Seienden, bevorzugt nur durch ihre wunderbare, keiner Einsicht weücr erklärbare Fähigkeit, sich selbst als thätige Mittelpunkte eines von ihnen aus¬ gehenden Lebens zu fühlen und zu wissen; nur darum und so weit sie dies thun, nannten wir sie Wesen oder Substanzen." Und weiterhin: „Wenn die Seele >n völlig traumlosen Schlafe nichts vorstellt, fühlt und will, ist sie dann, und was ist sie? Wie oft hat man geantwortet, daß sie dann nicht sem wurde, wenn dies jemals geschehen könnte; warum hat man nicht vielmehr gewagt zu s"gen, daß sie dann nicht ist. so oft es geschieht?" - „Warum sollte uicht ihr Leben eine Melodie mit Pause« sein, während der ewige Urquell fortwirkt, ans dem, als eine seiner Thaten, ihr Dasein und ihre Thätigkeit entsprang? Ans ihm würde sie wieder entspringen. in folgerechtem Anschluß an ihr früheres Sein, sobald jene Pansen vorüber sind, während dann andre Thaten desselben Urgrundes die Bedingungen ihres neuen Eintritts herstellten" (S. 601 ff.). Jetzt erinnern wir uns wieder an die Aufhebung des Raums und jeder räumlichen Geschiedeuheit zwischen den „Beziehungspnnkten," So wenig unser Anschauungs- bedürfniß geltend gemacht werden darf für die Fassung deS wahrhaften Seins, s» sehr ist es doch hier zugetroffen, daß die unterschied».- Vielheit, welche tem Raum mehr in sich spaltet, welche also räumlich in eins zusammenfällt, mich in ihrer Realität in eins zusammenfällt. Auch Lotze hat die überaus schwere Zu- muthung an sich selbst, Geschiedenes ohne scheidende Distanzen zu denken, nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/301>, abgerufen am 01.09.2024.