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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes System der Philosophie.

Philosophen von Elea und Megara nacheiferte, läßt seine pnnktuellen, imma¬
teriellen Atome oder "Realen," wie er sie nennt, arglos gegenseitige Einwir-
kungen auf einander ausüben und sieht in diesen Wirkungen viel eher die
Lösung aller andern Räthsel, als selbst ein Räthsel. Sonst gewöhnt, auch den
festesten Anschauungen des allgemeinen Mcnschensinns Trotz zu biete", pflegt
die neuere Philosophie in diesem Punkte ganz in der Weise des populärsten
Denkens beruhigt zu sein, sobald nur Berührung zwischen den Dingen die
Wechselwirkung zu ermöglichen scheint; nur Wirkungen ohne Berührung, so¬
genannte "Wirkung in die Ferne," möchte man umgehen, und bei der modernen
Geneigtheit, den Vorstellungen der Naturwissenschaft zu folgen, macht nur dies
eine einigermaßen nachdenklich, daß die meisten naturgesetzlicher Wirkungen,
vielleicht alle, jedenfalls die fundamentalste, die der Schwere, Fernwirkungen
sein würden. Herbart glaubte alles gethan zu haben, wenn er durch den Begriff
eines "theilweisen Zusammenseins" seiner Realen im Momente der Einwirkung
den Begriff der "Berührung" steigerte -- freilich mit Opferung seiner eigensten
obersten Principien, die gar kein Zusammensein duldeten, und doch, ohne mit
diesem Opfer irgend eine Aufklärung der Sache zu erkaufen. Meisterhaft, mit
erstaunlicher Gewandtheit und Leichtigkeit die verwinkeltsten Knoten flechtend und
auflösend, die abstrusester Resultate dem natürlichsten Nachdenken assimilirend,
hat Lotze jener modernen Sicherheit gegenüber das Paradoxeste glaubhaft ge¬
macht, daß ein Effect bewegender Kräfte überhaupt uur aus der Entfernung denk¬
bar sein würde, Wirkung in der Berührung dagegen eine in sich widersprechende
Vorstellung bleibe (S. 3S6 ff.). Berührung wäre in der That ein völliges
Zusammenfallen der vorher Getrennten wenigstens in einem Punkte und in
einem vorübergehenden Momente; denn ein bloßes dichtes Anciuanderlicgen ver¬
bürgte noch nicht, daß der Zustand des einen Wesens in einen Zustand des ander"
Wesens überginge, was doch bei der Berührung stattfinden soll. Aber gerade
in solchem Zusammenfallen zweier Wesen wäre ihr Aufeinanderwirken unmöglich;
sie wären dann eben nur ein Wesen mit seinen innern Zuständen, ohne Bewegnngs-
effcet nach außen. Allein hiermit geht unser Philosoph nur anbequemnngsweise
auf eine Voraussetzung ein, die er verwirft: wissen wir doch schon, daß es für
ihn keinen wirklichen Raum giebt, also auch keine wirkliche Ferne und leine wirk¬
liche Bewegung. Ueberdies nun -- dies haben wir jetzt hinzuzunehmen -- leugnet
er auch die Wechselwirkung der Dinge überhaupt, sei es mit, sei es ohne Be¬
rührung. Hierbei erneuert er 'das Bewußtsein von Räthseln und begriffliche"
Schwierigkeiten, die seit Leibniz kaum jemand mehr aufzudecken wagte, geschweige
zu lösen vermochte. Wie soll es irgend gedacht werden, daß ein Ding mit seine"
Wirkungen in ein andres Ding eindringt? "Die Monade hat keine Fenster,
durch die von außen eingestiegen werden könnte;" dieses Wort Leibnizens ent¬
hält das Motiv zu der so künstlich und gewagt scheinenden Hypothese des be¬
rühmten Denkers von einer "prcistabilirten Harmonie." durch welche Gott das


Hermann Lotzes System der Philosophie.

Philosophen von Elea und Megara nacheiferte, läßt seine pnnktuellen, imma¬
teriellen Atome oder „Realen," wie er sie nennt, arglos gegenseitige Einwir-
kungen auf einander ausüben und sieht in diesen Wirkungen viel eher die
Lösung aller andern Räthsel, als selbst ein Räthsel. Sonst gewöhnt, auch den
festesten Anschauungen des allgemeinen Mcnschensinns Trotz zu biete», pflegt
die neuere Philosophie in diesem Punkte ganz in der Weise des populärsten
Denkens beruhigt zu sein, sobald nur Berührung zwischen den Dingen die
Wechselwirkung zu ermöglichen scheint; nur Wirkungen ohne Berührung, so¬
genannte „Wirkung in die Ferne," möchte man umgehen, und bei der modernen
Geneigtheit, den Vorstellungen der Naturwissenschaft zu folgen, macht nur dies
eine einigermaßen nachdenklich, daß die meisten naturgesetzlicher Wirkungen,
vielleicht alle, jedenfalls die fundamentalste, die der Schwere, Fernwirkungen
sein würden. Herbart glaubte alles gethan zu haben, wenn er durch den Begriff
eines „theilweisen Zusammenseins" seiner Realen im Momente der Einwirkung
den Begriff der „Berührung" steigerte — freilich mit Opferung seiner eigensten
obersten Principien, die gar kein Zusammensein duldeten, und doch, ohne mit
diesem Opfer irgend eine Aufklärung der Sache zu erkaufen. Meisterhaft, mit
erstaunlicher Gewandtheit und Leichtigkeit die verwinkeltsten Knoten flechtend und
auflösend, die abstrusester Resultate dem natürlichsten Nachdenken assimilirend,
hat Lotze jener modernen Sicherheit gegenüber das Paradoxeste glaubhaft ge¬
macht, daß ein Effect bewegender Kräfte überhaupt uur aus der Entfernung denk¬
bar sein würde, Wirkung in der Berührung dagegen eine in sich widersprechende
Vorstellung bleibe (S. 3S6 ff.). Berührung wäre in der That ein völliges
Zusammenfallen der vorher Getrennten wenigstens in einem Punkte und in
einem vorübergehenden Momente; denn ein bloßes dichtes Anciuanderlicgen ver¬
bürgte noch nicht, daß der Zustand des einen Wesens in einen Zustand des ander»
Wesens überginge, was doch bei der Berührung stattfinden soll. Aber gerade
in solchem Zusammenfallen zweier Wesen wäre ihr Aufeinanderwirken unmöglich;
sie wären dann eben nur ein Wesen mit seinen innern Zuständen, ohne Bewegnngs-
effcet nach außen. Allein hiermit geht unser Philosoph nur anbequemnngsweise
auf eine Voraussetzung ein, die er verwirft: wissen wir doch schon, daß es für
ihn keinen wirklichen Raum giebt, also auch keine wirkliche Ferne und leine wirk¬
liche Bewegung. Ueberdies nun — dies haben wir jetzt hinzuzunehmen — leugnet
er auch die Wechselwirkung der Dinge überhaupt, sei es mit, sei es ohne Be¬
rührung. Hierbei erneuert er 'das Bewußtsein von Räthseln und begriffliche»
Schwierigkeiten, die seit Leibniz kaum jemand mehr aufzudecken wagte, geschweige
zu lösen vermochte. Wie soll es irgend gedacht werden, daß ein Ding mit seine»
Wirkungen in ein andres Ding eindringt? „Die Monade hat keine Fenster,
durch die von außen eingestiegen werden könnte;" dieses Wort Leibnizens ent¬
hält das Motiv zu der so künstlich und gewagt scheinenden Hypothese des be¬
rühmten Denkers von einer „prcistabilirten Harmonie." durch welche Gott das


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[0298] Hermann Lotzes System der Philosophie. Philosophen von Elea und Megara nacheiferte, läßt seine pnnktuellen, imma¬ teriellen Atome oder „Realen," wie er sie nennt, arglos gegenseitige Einwir- kungen auf einander ausüben und sieht in diesen Wirkungen viel eher die Lösung aller andern Räthsel, als selbst ein Räthsel. Sonst gewöhnt, auch den festesten Anschauungen des allgemeinen Mcnschensinns Trotz zu biete», pflegt die neuere Philosophie in diesem Punkte ganz in der Weise des populärsten Denkens beruhigt zu sein, sobald nur Berührung zwischen den Dingen die Wechselwirkung zu ermöglichen scheint; nur Wirkungen ohne Berührung, so¬ genannte „Wirkung in die Ferne," möchte man umgehen, und bei der modernen Geneigtheit, den Vorstellungen der Naturwissenschaft zu folgen, macht nur dies eine einigermaßen nachdenklich, daß die meisten naturgesetzlicher Wirkungen, vielleicht alle, jedenfalls die fundamentalste, die der Schwere, Fernwirkungen sein würden. Herbart glaubte alles gethan zu haben, wenn er durch den Begriff eines „theilweisen Zusammenseins" seiner Realen im Momente der Einwirkung den Begriff der „Berührung" steigerte — freilich mit Opferung seiner eigensten obersten Principien, die gar kein Zusammensein duldeten, und doch, ohne mit diesem Opfer irgend eine Aufklärung der Sache zu erkaufen. Meisterhaft, mit erstaunlicher Gewandtheit und Leichtigkeit die verwinkeltsten Knoten flechtend und auflösend, die abstrusester Resultate dem natürlichsten Nachdenken assimilirend, hat Lotze jener modernen Sicherheit gegenüber das Paradoxeste glaubhaft ge¬ macht, daß ein Effect bewegender Kräfte überhaupt uur aus der Entfernung denk¬ bar sein würde, Wirkung in der Berührung dagegen eine in sich widersprechende Vorstellung bleibe (S. 3S6 ff.). Berührung wäre in der That ein völliges Zusammenfallen der vorher Getrennten wenigstens in einem Punkte und in einem vorübergehenden Momente; denn ein bloßes dichtes Anciuanderlicgen ver¬ bürgte noch nicht, daß der Zustand des einen Wesens in einen Zustand des ander» Wesens überginge, was doch bei der Berührung stattfinden soll. Aber gerade in solchem Zusammenfallen zweier Wesen wäre ihr Aufeinanderwirken unmöglich; sie wären dann eben nur ein Wesen mit seinen innern Zuständen, ohne Bewegnngs- effcet nach außen. Allein hiermit geht unser Philosoph nur anbequemnngsweise auf eine Voraussetzung ein, die er verwirft: wissen wir doch schon, daß es für ihn keinen wirklichen Raum giebt, also auch keine wirkliche Ferne und leine wirk¬ liche Bewegung. Ueberdies nun — dies haben wir jetzt hinzuzunehmen — leugnet er auch die Wechselwirkung der Dinge überhaupt, sei es mit, sei es ohne Be¬ rührung. Hierbei erneuert er 'das Bewußtsein von Räthseln und begriffliche» Schwierigkeiten, die seit Leibniz kaum jemand mehr aufzudecken wagte, geschweige zu lösen vermochte. Wie soll es irgend gedacht werden, daß ein Ding mit seine» Wirkungen in ein andres Ding eindringt? „Die Monade hat keine Fenster, durch die von außen eingestiegen werden könnte;" dieses Wort Leibnizens ent¬ hält das Motiv zu der so künstlich und gewagt scheinenden Hypothese des be¬ rühmten Denkers von einer „prcistabilirten Harmonie." durch welche Gott das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/298>, abgerufen am 01.09.2024.