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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Rotzes System der Philosophie.

ihre theoretischen Einsichten zu erweitern und zu ergänzen hoffen. Das Bei
spiel der Metaphysik Lotzes ist überaus lehrreich dafür, eine idealistische Philo¬
sophie, einen ethisch-religiösen Spiritualismus aus der Selbstzersetzung der
Physikalischen Grundvoraussetzungen, unter Benutzung aller wahren physikalischen
Einsichten, erstehen zu sehen.

Völlig unentbehrlich scheint dem Physiker für Darstellung und Erklärung
dessen, was wirklich geschieht, die Auflösung all der scheinbaren großen körperlichen
Einheiten unsrer Sinnesanschauung in zahllose unsagbar kleine, für uns unwcchr-
"ehmbare, nicht weiter theilbare Ürkorperche", die Atome. Auch Lotze erklärt
(Metaphysik von 1879, S. 365), daß "sowohl die nackte Voraussetzung einer einzigen
Materie überhaupt, als die besondre ihrer stetigen Raumerfüllung, sich niemals
zur Ableitung der in der Erfahrung gegebnen Einzelheiten fruchtbar erwiesen
hat." Er sieht "für zugestanden an, daß das wirksame Reale in der Natur uns
zunächst in der Gestalt unendlich vieler disereter Ausgangspunkte der Wirkungen
gegeben ist" und hält jeden Nachweis für überflüssig, seitdem Fechner in seiner
"Atomenlehre" alles dasür beizubringende so klar und eindringlich zusammengefaßt
hat. Aber Fechner hat hier nicht das physikalische Atom vertheidigt, er ist darüber
hinaus auf der gleichen Linie weiter fortgegangen bis zum "philosophischen Atom,"
bis zum unräumlichen, also unkörperlichen, wenn auch immer noch an einem
punktnellcn Orte als anwesend gedachten Kraftcentrum. Auch ohne Lotzes
Ansicht "och näher zu kennen, hören wir aus seinem Worte "discrete Ausgangspunkte
der Wirkungen" an der soeben citirten Stelle, das wenige Zeilen vorher sogar
durch das Wort "Bezichungspnnkte" ersetzt ist, die gleiche Entfernung von der
eigentlichen physikalischen Vorstellungsweise heraus. Soweit gehen indessen viele
heutige Naturforscher ohne Bedenken mit; was sie wissenschaftlich allein beschäftigt,
sind die Wirkungen der Dinge, also ihre Kräfte, nicht ihr todtes, ranmcrfüllcndes,
rein stoffliches Dasein, das' sie deshalb preiszugeben schnell bereit sind, sobald es
nöthig scheint. Lotzes viel weitere Entfernungen von der physikalischen Grund-
anschauung sind durch zwei Probleme bedingt, die er unermüdlich mit serupulöscster
Vertiefung in eine von andern gern scheu geflohene Einzelbetrachtung scharf¬
sinnig überlegt, die ihn offenbar unablässig choquiren und ihn zu Resultate"
fahren, an welchen sich sein Verhältniß zu den verwandten Denkern Leibniz, Herbart,
Fechner entscheidet. Diese beiden Probleme sind das der Räumlichkeit und der
Wechselwirkung.

Dein Probleme der räumliche" Erscheinung oder des Raumdaseins hat Lotze
von jeher besondre Aufmerksamkeit zugewendet. Er gehört zu den wenigen nach-
kautischm Philosophen, welche sich der in dieser Zeit fast allgemeinen Tendenz
wigegenwerfen, den als bloße subjective Vvrstellungsform aus der Realität der
Dinge von Kant ausgewiesenen Raum in seine alten Rechte wieder einzusetzen.
Ja wenn wir bedenken, daß Herbnrt in diese"! Punkte eine der Lcibnizischen
verwandte, obwohl bei ihm ausgebildetere Mittelstellung einnahm, daß Fechner sich


Hermann Rotzes System der Philosophie.

ihre theoretischen Einsichten zu erweitern und zu ergänzen hoffen. Das Bei
spiel der Metaphysik Lotzes ist überaus lehrreich dafür, eine idealistische Philo¬
sophie, einen ethisch-religiösen Spiritualismus aus der Selbstzersetzung der
Physikalischen Grundvoraussetzungen, unter Benutzung aller wahren physikalischen
Einsichten, erstehen zu sehen.

Völlig unentbehrlich scheint dem Physiker für Darstellung und Erklärung
dessen, was wirklich geschieht, die Auflösung all der scheinbaren großen körperlichen
Einheiten unsrer Sinnesanschauung in zahllose unsagbar kleine, für uns unwcchr-
»ehmbare, nicht weiter theilbare Ürkorperche», die Atome. Auch Lotze erklärt
(Metaphysik von 1879, S. 365), daß „sowohl die nackte Voraussetzung einer einzigen
Materie überhaupt, als die besondre ihrer stetigen Raumerfüllung, sich niemals
zur Ableitung der in der Erfahrung gegebnen Einzelheiten fruchtbar erwiesen
hat." Er sieht „für zugestanden an, daß das wirksame Reale in der Natur uns
zunächst in der Gestalt unendlich vieler disereter Ausgangspunkte der Wirkungen
gegeben ist" und hält jeden Nachweis für überflüssig, seitdem Fechner in seiner
„Atomenlehre" alles dasür beizubringende so klar und eindringlich zusammengefaßt
hat. Aber Fechner hat hier nicht das physikalische Atom vertheidigt, er ist darüber
hinaus auf der gleichen Linie weiter fortgegangen bis zum „philosophischen Atom,"
bis zum unräumlichen, also unkörperlichen, wenn auch immer noch an einem
punktnellcn Orte als anwesend gedachten Kraftcentrum. Auch ohne Lotzes
Ansicht »och näher zu kennen, hören wir aus seinem Worte „discrete Ausgangspunkte
der Wirkungen" an der soeben citirten Stelle, das wenige Zeilen vorher sogar
durch das Wort „Bezichungspnnkte" ersetzt ist, die gleiche Entfernung von der
eigentlichen physikalischen Vorstellungsweise heraus. Soweit gehen indessen viele
heutige Naturforscher ohne Bedenken mit; was sie wissenschaftlich allein beschäftigt,
sind die Wirkungen der Dinge, also ihre Kräfte, nicht ihr todtes, ranmcrfüllcndes,
rein stoffliches Dasein, das' sie deshalb preiszugeben schnell bereit sind, sobald es
nöthig scheint. Lotzes viel weitere Entfernungen von der physikalischen Grund-
anschauung sind durch zwei Probleme bedingt, die er unermüdlich mit serupulöscster
Vertiefung in eine von andern gern scheu geflohene Einzelbetrachtung scharf¬
sinnig überlegt, die ihn offenbar unablässig choquiren und ihn zu Resultate»
fahren, an welchen sich sein Verhältniß zu den verwandten Denkern Leibniz, Herbart,
Fechner entscheidet. Diese beiden Probleme sind das der Räumlichkeit und der
Wechselwirkung.

Dein Probleme der räumliche» Erscheinung oder des Raumdaseins hat Lotze
von jeher besondre Aufmerksamkeit zugewendet. Er gehört zu den wenigen nach-
kautischm Philosophen, welche sich der in dieser Zeit fast allgemeinen Tendenz
wigegenwerfen, den als bloße subjective Vvrstellungsform aus der Realität der
Dinge von Kant ausgewiesenen Raum in seine alten Rechte wieder einzusetzen.
Ja wenn wir bedenken, daß Herbnrt in diese»! Punkte eine der Lcibnizischen
verwandte, obwohl bei ihm ausgebildetere Mittelstellung einnahm, daß Fechner sich


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[0295] Hermann Rotzes System der Philosophie. ihre theoretischen Einsichten zu erweitern und zu ergänzen hoffen. Das Bei spiel der Metaphysik Lotzes ist überaus lehrreich dafür, eine idealistische Philo¬ sophie, einen ethisch-religiösen Spiritualismus aus der Selbstzersetzung der Physikalischen Grundvoraussetzungen, unter Benutzung aller wahren physikalischen Einsichten, erstehen zu sehen. Völlig unentbehrlich scheint dem Physiker für Darstellung und Erklärung dessen, was wirklich geschieht, die Auflösung all der scheinbaren großen körperlichen Einheiten unsrer Sinnesanschauung in zahllose unsagbar kleine, für uns unwcchr- »ehmbare, nicht weiter theilbare Ürkorperche», die Atome. Auch Lotze erklärt (Metaphysik von 1879, S. 365), daß „sowohl die nackte Voraussetzung einer einzigen Materie überhaupt, als die besondre ihrer stetigen Raumerfüllung, sich niemals zur Ableitung der in der Erfahrung gegebnen Einzelheiten fruchtbar erwiesen hat." Er sieht „für zugestanden an, daß das wirksame Reale in der Natur uns zunächst in der Gestalt unendlich vieler disereter Ausgangspunkte der Wirkungen gegeben ist" und hält jeden Nachweis für überflüssig, seitdem Fechner in seiner „Atomenlehre" alles dasür beizubringende so klar und eindringlich zusammengefaßt hat. Aber Fechner hat hier nicht das physikalische Atom vertheidigt, er ist darüber hinaus auf der gleichen Linie weiter fortgegangen bis zum „philosophischen Atom," bis zum unräumlichen, also unkörperlichen, wenn auch immer noch an einem punktnellcn Orte als anwesend gedachten Kraftcentrum. Auch ohne Lotzes Ansicht »och näher zu kennen, hören wir aus seinem Worte „discrete Ausgangspunkte der Wirkungen" an der soeben citirten Stelle, das wenige Zeilen vorher sogar durch das Wort „Bezichungspnnkte" ersetzt ist, die gleiche Entfernung von der eigentlichen physikalischen Vorstellungsweise heraus. Soweit gehen indessen viele heutige Naturforscher ohne Bedenken mit; was sie wissenschaftlich allein beschäftigt, sind die Wirkungen der Dinge, also ihre Kräfte, nicht ihr todtes, ranmcrfüllcndes, rein stoffliches Dasein, das' sie deshalb preiszugeben schnell bereit sind, sobald es nöthig scheint. Lotzes viel weitere Entfernungen von der physikalischen Grund- anschauung sind durch zwei Probleme bedingt, die er unermüdlich mit serupulöscster Vertiefung in eine von andern gern scheu geflohene Einzelbetrachtung scharf¬ sinnig überlegt, die ihn offenbar unablässig choquiren und ihn zu Resultate» fahren, an welchen sich sein Verhältniß zu den verwandten Denkern Leibniz, Herbart, Fechner entscheidet. Diese beiden Probleme sind das der Räumlichkeit und der Wechselwirkung. Dein Probleme der räumliche» Erscheinung oder des Raumdaseins hat Lotze von jeher besondre Aufmerksamkeit zugewendet. Er gehört zu den wenigen nach- kautischm Philosophen, welche sich der in dieser Zeit fast allgemeinen Tendenz wigegenwerfen, den als bloße subjective Vvrstellungsform aus der Realität der Dinge von Kant ausgewiesenen Raum in seine alten Rechte wieder einzusetzen. Ja wenn wir bedenken, daß Herbnrt in diese»! Punkte eine der Lcibnizischen verwandte, obwohl bei ihm ausgebildetere Mittelstellung einnahm, daß Fechner sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/295>, abgerufen am 01.09.2024.