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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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eine übertriebene und zum Theil dithyrambische Vergötterung Kants herrschend ge¬
worden. Hiervon ist auch Vaihinger nicht ganz frei. Bei aller Anerkennung seiner
Kantphilologie glauben wir doch immer betonen zu müssen, daß hierdurch allein
die Kantfrage selbst nicht endgiltig entschieden werden kann. Es gilt hier vom
Philosophen dasselbe wie voni Feldherrn in "Wallensteins Lager," daß "sein Scheine,
ich meine sein Geist" sich nicht in einer bloßen Wachpnrade seiner einzelnen Worte
und Gedanken weist.

Diese allgemeinen Bemerkungen sollen nicht eine Beeinträchtigung des unbe¬
streitbaren Werthes und der Vorzüglichkeit des Vaihingerschen Werkes enthalten.
Dieses Werk ist und verspricht zu werdeu eine Fundgrube aller auf Kant bezüg¬
lichen Richtungen, Gedanken und Hinweisungen der neuern Literatur. Vaihinger hat
nicht bloß, wie es scheint, alles hierhin irgendwie gehörige beachtet und gelesen, sondern
auch und Sinn und Verständniß classificirt und in den Plan seines Buches einzuordnen
versucht. Der strenge Philolog geht überall aus von der Herbeischaffung und Sichtung
des ganzen gelehrten Apparates zu dem Autor, welchen er bearbeiten will. Dieser
Apparat, die unmittelbare und mittelbare "Kautlitcratur", ist im Laufe eines Jahr¬
hunderts zu einer kaum zu bewältigenden Masse angeschwollen. Das gelehrte Rüst¬
zeug Vaihingcrs ist ein gewaltiges, und es kann nicht geleugnet werden, daß er
einen geschickten und richtigen Gebrauch davon zu machen versteht. Der Umfang
des ganzen Werkes ist auf vier Bände berechnet: 1) Einleitung des Herausgebers,
Commentar zur Vorrede ^ (der ersten Ausgabe) und zur Einleitung. 2) Com-
mentar zur transscendentalen Aesthetik. 3) Commentar zur transscendentalen Analytik.
4) Commentar zur transscendentalen Dialektik, Methodenlehre und zur Vorrede K
(der zweiten Ausgabe). Jeder Band soll 20--25 Bogen umfassen. Die zweite
Hülste des ersten Bandes soll im October ausgegeben werden, und der zweite Band
im Jahre 1882 erscheinen. Nächst der von Vaihinger überall benutzten kritischen
Ausgabe Kehrbachs wird daher hier eine bestimmte objective Basis aller weiteren
Knntforschung festgestellt sein."

Der Commentar zu einem Werke wie die "Kritik der reinen Vernunft wird
nothwendig einen etwas andern Charakter an sich tragen müssen als ein gewöhn¬
licher philologischer Commentar zu irgend einem fremdsprachlichen literarischen Text.
Es ist aber vielfach ein bloßer Schein, als ob uns das Kurdische Deutsch leichter
verständlich sein müsse als etwa das Griechische bei Platon und Aristoteles. Die
"Kritik der reinen Vernunft" ist nicht ein Buch, das ohne weiteres gelesen und nach
seinem wahren Sinne oder seiner ganzen Bedeutung und Tragweite von jedem ver¬
standen werden könnte. Mehr noch als Lessing und Goethe, ja mehr noch als unter
den spätern Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, bedarf unter unsern classischen
Autoren gerade Kant eines Commentars. Bei der an sich freilich ganz eigenthüm¬
lichen und schwerfällig abstruse" Schreibweise Hegels genügt doch eine allgemeine
Bekanntschaft mit dem ganzen Schematismus seiner Methode, um in das Verständ¬
niß seines Gedankenganges einzudringen. Bei Schelling und anch bei Fichte ist
schon mehr die moderne Leichtigkeit und Eleganz des Gedankcnansdrnckes zum Durch¬
bruch gelangt. Kant aber wurde wesentlich immer noch mit bestimmt und beherrscht
von der pedantischen Schulsprache Wolfs und der frühern Zeit. Nur hin und
wieder, wie in der kleinen Schrift über das Schöne und Erhabene, streift sein Stil
die strenge Fessel der Schulsprache ab. Es geht uns bei der Lectüre Kants oft
ähnlich wie bei derjenigen einer uns nahestehenden oder oberflächlich bekannten
Sprache, d. h. wir erkennen wohl leicht die Worte nach ihrer unmittelbaren Gestalt
und Bedeutung, während uns doch der eigenthümliche und tiefer liegende Sinn


eine übertriebene und zum Theil dithyrambische Vergötterung Kants herrschend ge¬
worden. Hiervon ist auch Vaihinger nicht ganz frei. Bei aller Anerkennung seiner
Kantphilologie glauben wir doch immer betonen zu müssen, daß hierdurch allein
die Kantfrage selbst nicht endgiltig entschieden werden kann. Es gilt hier vom
Philosophen dasselbe wie voni Feldherrn in „Wallensteins Lager," daß „sein Scheine,
ich meine sein Geist" sich nicht in einer bloßen Wachpnrade seiner einzelnen Worte
und Gedanken weist.

Diese allgemeinen Bemerkungen sollen nicht eine Beeinträchtigung des unbe¬
streitbaren Werthes und der Vorzüglichkeit des Vaihingerschen Werkes enthalten.
Dieses Werk ist und verspricht zu werdeu eine Fundgrube aller auf Kant bezüg¬
lichen Richtungen, Gedanken und Hinweisungen der neuern Literatur. Vaihinger hat
nicht bloß, wie es scheint, alles hierhin irgendwie gehörige beachtet und gelesen, sondern
auch und Sinn und Verständniß classificirt und in den Plan seines Buches einzuordnen
versucht. Der strenge Philolog geht überall aus von der Herbeischaffung und Sichtung
des ganzen gelehrten Apparates zu dem Autor, welchen er bearbeiten will. Dieser
Apparat, die unmittelbare und mittelbare „Kautlitcratur", ist im Laufe eines Jahr¬
hunderts zu einer kaum zu bewältigenden Masse angeschwollen. Das gelehrte Rüst¬
zeug Vaihingcrs ist ein gewaltiges, und es kann nicht geleugnet werden, daß er
einen geschickten und richtigen Gebrauch davon zu machen versteht. Der Umfang
des ganzen Werkes ist auf vier Bände berechnet: 1) Einleitung des Herausgebers,
Commentar zur Vorrede ^ (der ersten Ausgabe) und zur Einleitung. 2) Com-
mentar zur transscendentalen Aesthetik. 3) Commentar zur transscendentalen Analytik.
4) Commentar zur transscendentalen Dialektik, Methodenlehre und zur Vorrede K
(der zweiten Ausgabe). Jeder Band soll 20—25 Bogen umfassen. Die zweite
Hülste des ersten Bandes soll im October ausgegeben werden, und der zweite Band
im Jahre 1882 erscheinen. Nächst der von Vaihinger überall benutzten kritischen
Ausgabe Kehrbachs wird daher hier eine bestimmte objective Basis aller weiteren
Knntforschung festgestellt sein."

Der Commentar zu einem Werke wie die „Kritik der reinen Vernunft wird
nothwendig einen etwas andern Charakter an sich tragen müssen als ein gewöhn¬
licher philologischer Commentar zu irgend einem fremdsprachlichen literarischen Text.
Es ist aber vielfach ein bloßer Schein, als ob uns das Kurdische Deutsch leichter
verständlich sein müsse als etwa das Griechische bei Platon und Aristoteles. Die
„Kritik der reinen Vernunft" ist nicht ein Buch, das ohne weiteres gelesen und nach
seinem wahren Sinne oder seiner ganzen Bedeutung und Tragweite von jedem ver¬
standen werden könnte. Mehr noch als Lessing und Goethe, ja mehr noch als unter
den spätern Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, bedarf unter unsern classischen
Autoren gerade Kant eines Commentars. Bei der an sich freilich ganz eigenthüm¬
lichen und schwerfällig abstruse» Schreibweise Hegels genügt doch eine allgemeine
Bekanntschaft mit dem ganzen Schematismus seiner Methode, um in das Verständ¬
niß seines Gedankenganges einzudringen. Bei Schelling und anch bei Fichte ist
schon mehr die moderne Leichtigkeit und Eleganz des Gedankcnansdrnckes zum Durch¬
bruch gelangt. Kant aber wurde wesentlich immer noch mit bestimmt und beherrscht
von der pedantischen Schulsprache Wolfs und der frühern Zeit. Nur hin und
wieder, wie in der kleinen Schrift über das Schöne und Erhabene, streift sein Stil
die strenge Fessel der Schulsprache ab. Es geht uns bei der Lectüre Kants oft
ähnlich wie bei derjenigen einer uns nahestehenden oder oberflächlich bekannten
Sprache, d. h. wir erkennen wohl leicht die Worte nach ihrer unmittelbaren Gestalt
und Bedeutung, während uns doch der eigenthümliche und tiefer liegende Sinn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/222>, abgerufen am 27.11.2024.