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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Bildung? - und Machtftage des deutschen Volkes.

Miterdrückt vollständig die innere Freiheit und ursprüngliche Selbständigkeit des
Lebens der Seele. Es sind seit jener klassischen Heroenzeit auch eigentliche bahn¬
brechende Geister unter uns nicht mehr aufgestanden, sondern es bewegt sich alles
mehr und mehr in gegebnen und einmal festgestellten Bahnen und Formeu, so
daß uns mit der Zeit ein verkrüppeltes Chinesenthnm als Ziel unseres Cultur¬
lebens vor Augen gestellt erscheint.

Wie auf der einen Seite die Masse des Wissensstoffes, so ist auf der andern
die Fülle des Wortes oder der Phrase eine Quelle von Krankheitserscheinungen
in unsrer Zeit. Eine Phrase unterscheidet sich von einem Gedanken dadurch,
daß sie ein in den öffentlichen Besitz übergegcmgneS oder allen an sich schon
bekanntes und geläufiges geistiges Gemeingut ist. Die Phrasen sind gleichsam
todte Gedanken, die nnr von neuem immer wieder aufgeputzt und bei gewissen
Gelegenheiten wiederholt werden. Es geht freilich im Leben nie ganz ab ohne
Phrasen, und wir bedürfen derselben auch zu bestimmten Zwecken als un¬
entbehrlicher Formen alles socialen Verkehres. Aber es verbirgt sich hinter der
Gewandtheit in der Handhabung der Phrase nur zu leicht die innere Hohl¬
heit und Unselbständigkeit des eigenen Denkens. So wie das bloße Wissen,
so ist auch die bloße Phrase um sich ein leeres oder werthloses Ding und Gut
im Leben. Der banausische Stubengelehrte und der politische Phrasenheld sind
beides einseitige und extreme Typen oder Figuren im socialen Leben. Daß die
wahre nationale Politik am Ende auch nicht mehr mit bloßen Phrasen gemacht
werden kaun, tritt durch die neuere Gestaltung unsers Parlamentarischen Lebens
wohl allmählich mit immer größerer Deutlichkeit hervor. Jede politische Partei
hat bei uns ihr sogenanntes Programm, welches auch in einem System von
Phrasen oder von allgemeinen Gedanken über ihr Verhältniß zu den Aufgaben
der Politik besteht. Eine Reichstagsdebatte ist in der Regel nur eine Dialektik
oder ein Kampf, der mit den längst bekannten und oft gebrauchten Gründen
und Schlagworten der einzelnen Parteien geführt wird. Man kann sich nicht
darüber täuschen, wie das ganze Interesse hieran nothwendig mit der Zeit ein
matteres geworden ist. Auch ist es eine Illusion, als ob in diesen bloßen Kämpfen
der Parteien noch der wahre Schwerpunkt unsrer nationalen Politik enthalten
sei. Man hat sich auch hier einen allgemeinen Begriff oder Typus von unserm
öffentlichen politischen Leben geschaffen, welcher der Wirklichkeit keineswegs genau
entspricht, und welcher auch an den realen Aufgaben des Staatslebens irgend
einmal Schiffbruch leiden wird. Der Deutsche ist immer geneigt, sich eine Theorie
oder ein System zu construiren, nach dem es von nun an im Leben regelmäßig
und geordnet weiter gehen soll. Alle unsre Parteien haben irgend eine Theorie
im Kopfe, in der sie die alleinige Weisheitsformel für die weitre Zukunft des
Lebens erblicken. Der ganze Parlamentarismus als solcher aber ist auch nichts
anders als eine Theorie, deren praktische Brauchbarkeit leicht irgendwo ihre
Grenze finden kann. Man hat früher oft auf England hingewiesen als auf das


Zur Bildung? - und Machtftage des deutschen Volkes.

Miterdrückt vollständig die innere Freiheit und ursprüngliche Selbständigkeit des
Lebens der Seele. Es sind seit jener klassischen Heroenzeit auch eigentliche bahn¬
brechende Geister unter uns nicht mehr aufgestanden, sondern es bewegt sich alles
mehr und mehr in gegebnen und einmal festgestellten Bahnen und Formeu, so
daß uns mit der Zeit ein verkrüppeltes Chinesenthnm als Ziel unseres Cultur¬
lebens vor Augen gestellt erscheint.

Wie auf der einen Seite die Masse des Wissensstoffes, so ist auf der andern
die Fülle des Wortes oder der Phrase eine Quelle von Krankheitserscheinungen
in unsrer Zeit. Eine Phrase unterscheidet sich von einem Gedanken dadurch,
daß sie ein in den öffentlichen Besitz übergegcmgneS oder allen an sich schon
bekanntes und geläufiges geistiges Gemeingut ist. Die Phrasen sind gleichsam
todte Gedanken, die nnr von neuem immer wieder aufgeputzt und bei gewissen
Gelegenheiten wiederholt werden. Es geht freilich im Leben nie ganz ab ohne
Phrasen, und wir bedürfen derselben auch zu bestimmten Zwecken als un¬
entbehrlicher Formen alles socialen Verkehres. Aber es verbirgt sich hinter der
Gewandtheit in der Handhabung der Phrase nur zu leicht die innere Hohl¬
heit und Unselbständigkeit des eigenen Denkens. So wie das bloße Wissen,
so ist auch die bloße Phrase um sich ein leeres oder werthloses Ding und Gut
im Leben. Der banausische Stubengelehrte und der politische Phrasenheld sind
beides einseitige und extreme Typen oder Figuren im socialen Leben. Daß die
wahre nationale Politik am Ende auch nicht mehr mit bloßen Phrasen gemacht
werden kaun, tritt durch die neuere Gestaltung unsers Parlamentarischen Lebens
wohl allmählich mit immer größerer Deutlichkeit hervor. Jede politische Partei
hat bei uns ihr sogenanntes Programm, welches auch in einem System von
Phrasen oder von allgemeinen Gedanken über ihr Verhältniß zu den Aufgaben
der Politik besteht. Eine Reichstagsdebatte ist in der Regel nur eine Dialektik
oder ein Kampf, der mit den längst bekannten und oft gebrauchten Gründen
und Schlagworten der einzelnen Parteien geführt wird. Man kann sich nicht
darüber täuschen, wie das ganze Interesse hieran nothwendig mit der Zeit ein
matteres geworden ist. Auch ist es eine Illusion, als ob in diesen bloßen Kämpfen
der Parteien noch der wahre Schwerpunkt unsrer nationalen Politik enthalten
sei. Man hat sich auch hier einen allgemeinen Begriff oder Typus von unserm
öffentlichen politischen Leben geschaffen, welcher der Wirklichkeit keineswegs genau
entspricht, und welcher auch an den realen Aufgaben des Staatslebens irgend
einmal Schiffbruch leiden wird. Der Deutsche ist immer geneigt, sich eine Theorie
oder ein System zu construiren, nach dem es von nun an im Leben regelmäßig
und geordnet weiter gehen soll. Alle unsre Parteien haben irgend eine Theorie
im Kopfe, in der sie die alleinige Weisheitsformel für die weitre Zukunft des
Lebens erblicken. Der ganze Parlamentarismus als solcher aber ist auch nichts
anders als eine Theorie, deren praktische Brauchbarkeit leicht irgendwo ihre
Grenze finden kann. Man hat früher oft auf England hingewiesen als auf das


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[0022] Zur Bildung? - und Machtftage des deutschen Volkes. Miterdrückt vollständig die innere Freiheit und ursprüngliche Selbständigkeit des Lebens der Seele. Es sind seit jener klassischen Heroenzeit auch eigentliche bahn¬ brechende Geister unter uns nicht mehr aufgestanden, sondern es bewegt sich alles mehr und mehr in gegebnen und einmal festgestellten Bahnen und Formeu, so daß uns mit der Zeit ein verkrüppeltes Chinesenthnm als Ziel unseres Cultur¬ lebens vor Augen gestellt erscheint. Wie auf der einen Seite die Masse des Wissensstoffes, so ist auf der andern die Fülle des Wortes oder der Phrase eine Quelle von Krankheitserscheinungen in unsrer Zeit. Eine Phrase unterscheidet sich von einem Gedanken dadurch, daß sie ein in den öffentlichen Besitz übergegcmgneS oder allen an sich schon bekanntes und geläufiges geistiges Gemeingut ist. Die Phrasen sind gleichsam todte Gedanken, die nnr von neuem immer wieder aufgeputzt und bei gewissen Gelegenheiten wiederholt werden. Es geht freilich im Leben nie ganz ab ohne Phrasen, und wir bedürfen derselben auch zu bestimmten Zwecken als un¬ entbehrlicher Formen alles socialen Verkehres. Aber es verbirgt sich hinter der Gewandtheit in der Handhabung der Phrase nur zu leicht die innere Hohl¬ heit und Unselbständigkeit des eigenen Denkens. So wie das bloße Wissen, so ist auch die bloße Phrase um sich ein leeres oder werthloses Ding und Gut im Leben. Der banausische Stubengelehrte und der politische Phrasenheld sind beides einseitige und extreme Typen oder Figuren im socialen Leben. Daß die wahre nationale Politik am Ende auch nicht mehr mit bloßen Phrasen gemacht werden kaun, tritt durch die neuere Gestaltung unsers Parlamentarischen Lebens wohl allmählich mit immer größerer Deutlichkeit hervor. Jede politische Partei hat bei uns ihr sogenanntes Programm, welches auch in einem System von Phrasen oder von allgemeinen Gedanken über ihr Verhältniß zu den Aufgaben der Politik besteht. Eine Reichstagsdebatte ist in der Regel nur eine Dialektik oder ein Kampf, der mit den längst bekannten und oft gebrauchten Gründen und Schlagworten der einzelnen Parteien geführt wird. Man kann sich nicht darüber täuschen, wie das ganze Interesse hieran nothwendig mit der Zeit ein matteres geworden ist. Auch ist es eine Illusion, als ob in diesen bloßen Kämpfen der Parteien noch der wahre Schwerpunkt unsrer nationalen Politik enthalten sei. Man hat sich auch hier einen allgemeinen Begriff oder Typus von unserm öffentlichen politischen Leben geschaffen, welcher der Wirklichkeit keineswegs genau entspricht, und welcher auch an den realen Aufgaben des Staatslebens irgend einmal Schiffbruch leiden wird. Der Deutsche ist immer geneigt, sich eine Theorie oder ein System zu construiren, nach dem es von nun an im Leben regelmäßig und geordnet weiter gehen soll. Alle unsre Parteien haben irgend eine Theorie im Kopfe, in der sie die alleinige Weisheitsformel für die weitre Zukunft des Lebens erblicken. Der ganze Parlamentarismus als solcher aber ist auch nichts anders als eine Theorie, deren praktische Brauchbarkeit leicht irgendwo ihre Grenze finden kann. Man hat früher oft auf England hingewiesen als auf das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/22>, abgerufen am 01.09.2024.