Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Bildungs- und Machtfrage des deutschen Volkes.

kommt hierbei "licht in Betracht, wenn nur im Examen der wohlfeile Schein
einer oberflächlich angeeigneten Gelehrsamkeit gewahrt und gerettet wird. Es
ist zugleich erstaunlich, wie bei allem Vielwisser zuweilen Dinge nicht gewußt
werden, welche nicht zu wissen bei einem Menschen mit gefunden Augen und
Ohren kaum als möglich angesehen werden sollte. Aber dies alles ist in ein
wohl eingerichtetes und klug ausgedachtes System gebracht, und es kann der
junge Deutsche jetzt überhaupt gar keinen andern Bildungsweg gehen als den,
der ihm in allen seinen Stufen und Etappen vom Staate gebahnt und vor¬
geschrieben worden ist. Er rückt mit allen seinen Altersgenossen jedes Jahr
um eine weitre Sprosse auf der allgemeinen Bildungsleiter empor, während
früher der Unfug bestand, daß einer durch Fleiß und Begabung wohl auch schneller
und auf ungewöhnlichem Wege zu seinem Ziele gelangen konnte. Daß wir es
herrlich weit gebracht haben in allem Wissen, soll ja nicht geleugnet werde".
Wir erziehen jeden zu einem Wagner, aber der Typus der Fauste wird nach¬
gerade bei uns zu einer Unmöglichkeit werden.

Die ideale Menschlichkeit war es, zu der man sich in der jetzt hinter uns
liegenden Epoche unsrer classischen Literatur zu erheben versucht hatte. Eine
Reihe großer geistiger Thaten und Schöpfungen auf dem Gebiete der Poesie
wie dem der Philosophie traten in jener Zeit hervor. Alle diese Genies und
Stammväter unsrer jetzigen Bildung aber waren mit dem heutigen Maßstabe
gemessen entsetzliche Ignoranten, und es würde schwerlich einer von ihnen
nur das preußische Abiturientenexamen zu bestehen imstande gewesen sein. An
die Stelle der damaligen Freiheit ist jetzt die Dressur der Geister getreten.
Wir wissen mehr, als unsre Väter gewußt haben, aber es folgt hieraus keines¬
wegs, daß wir selbst irgendwie klüger, innerlich gebildeter oder sonst besser und
vollkommner geworden wären als sie. Eine müde, abgesetzte und jeder idealen
Begeisterung unfähige Jugend -- das muß im wesentlichen als das Gesammt-
rcsultat unsers jetzigen Erziehungssystems angesehen werden. Die Auffassung
des menschlichen Geistes als einer Lernmaschine ist charakteristisch für den päda¬
gogischen Standpunkt unsrer Zeit. Eine Schule gilt als um so vollkommner,
je mehr auf ihr geleistet, d. h. gelernt und im Examen prästirt wird. Es liegt
diesem ganzen System eine vollständig falsche Auffassung über den Werth alles
menschlichen Wissens zu Grunde. Kein Gelehrter ist imstande, auch nur auf
einen: ganz beschränkten Gebiete alles zu wissen und zu kennen, was dazu gehört.
Für den sonstigen Standpunkt der allgemeinen oder auch der wissenschaftlichen
Bildung aber hat nur dasjenige einen Werth und ein Interesse, was irgendwie
dem Geiste selbst zur Anregung und Förderung seiner Thätigkeit zu dienen ver¬
mag. So wie es pädagogisch falsch ist, ein Kind mit Spielsachen zu überhäufe",
so gilt das gleiche auch von der Masse des ihm zuzuführenden Lernstoffes. Es
gilt hier der Satz, daß viel keineswegs immer viel hilft und daß gerade mit
wenigen und einfachen Mitteln oft die besten Erfolge erzielt werden. Die


Zur Bildungs- und Machtfrage des deutschen Volkes.

kommt hierbei »licht in Betracht, wenn nur im Examen der wohlfeile Schein
einer oberflächlich angeeigneten Gelehrsamkeit gewahrt und gerettet wird. Es
ist zugleich erstaunlich, wie bei allem Vielwisser zuweilen Dinge nicht gewußt
werden, welche nicht zu wissen bei einem Menschen mit gefunden Augen und
Ohren kaum als möglich angesehen werden sollte. Aber dies alles ist in ein
wohl eingerichtetes und klug ausgedachtes System gebracht, und es kann der
junge Deutsche jetzt überhaupt gar keinen andern Bildungsweg gehen als den,
der ihm in allen seinen Stufen und Etappen vom Staate gebahnt und vor¬
geschrieben worden ist. Er rückt mit allen seinen Altersgenossen jedes Jahr
um eine weitre Sprosse auf der allgemeinen Bildungsleiter empor, während
früher der Unfug bestand, daß einer durch Fleiß und Begabung wohl auch schneller
und auf ungewöhnlichem Wege zu seinem Ziele gelangen konnte. Daß wir es
herrlich weit gebracht haben in allem Wissen, soll ja nicht geleugnet werde».
Wir erziehen jeden zu einem Wagner, aber der Typus der Fauste wird nach¬
gerade bei uns zu einer Unmöglichkeit werden.

Die ideale Menschlichkeit war es, zu der man sich in der jetzt hinter uns
liegenden Epoche unsrer classischen Literatur zu erheben versucht hatte. Eine
Reihe großer geistiger Thaten und Schöpfungen auf dem Gebiete der Poesie
wie dem der Philosophie traten in jener Zeit hervor. Alle diese Genies und
Stammväter unsrer jetzigen Bildung aber waren mit dem heutigen Maßstabe
gemessen entsetzliche Ignoranten, und es würde schwerlich einer von ihnen
nur das preußische Abiturientenexamen zu bestehen imstande gewesen sein. An
die Stelle der damaligen Freiheit ist jetzt die Dressur der Geister getreten.
Wir wissen mehr, als unsre Väter gewußt haben, aber es folgt hieraus keines¬
wegs, daß wir selbst irgendwie klüger, innerlich gebildeter oder sonst besser und
vollkommner geworden wären als sie. Eine müde, abgesetzte und jeder idealen
Begeisterung unfähige Jugend — das muß im wesentlichen als das Gesammt-
rcsultat unsers jetzigen Erziehungssystems angesehen werden. Die Auffassung
des menschlichen Geistes als einer Lernmaschine ist charakteristisch für den päda¬
gogischen Standpunkt unsrer Zeit. Eine Schule gilt als um so vollkommner,
je mehr auf ihr geleistet, d. h. gelernt und im Examen prästirt wird. Es liegt
diesem ganzen System eine vollständig falsche Auffassung über den Werth alles
menschlichen Wissens zu Grunde. Kein Gelehrter ist imstande, auch nur auf
einen: ganz beschränkten Gebiete alles zu wissen und zu kennen, was dazu gehört.
Für den sonstigen Standpunkt der allgemeinen oder auch der wissenschaftlichen
Bildung aber hat nur dasjenige einen Werth und ein Interesse, was irgendwie
dem Geiste selbst zur Anregung und Förderung seiner Thätigkeit zu dienen ver¬
mag. So wie es pädagogisch falsch ist, ein Kind mit Spielsachen zu überhäufe»,
so gilt das gleiche auch von der Masse des ihm zuzuführenden Lernstoffes. Es
gilt hier der Satz, daß viel keineswegs immer viel hilft und daß gerade mit
wenigen und einfachen Mitteln oft die besten Erfolge erzielt werden. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0020" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150170"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Bildungs- und Machtfrage des deutschen Volkes.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_36" prev="#ID_35"> kommt hierbei »licht in Betracht, wenn nur im Examen der wohlfeile Schein<lb/>
einer oberflächlich angeeigneten Gelehrsamkeit gewahrt und gerettet wird. Es<lb/>
ist zugleich erstaunlich, wie bei allem Vielwisser zuweilen Dinge nicht gewußt<lb/>
werden, welche nicht zu wissen bei einem Menschen mit gefunden Augen und<lb/>
Ohren kaum als möglich angesehen werden sollte. Aber dies alles ist in ein<lb/>
wohl eingerichtetes und klug ausgedachtes System gebracht, und es kann der<lb/>
junge Deutsche jetzt überhaupt gar keinen andern Bildungsweg gehen als den,<lb/>
der ihm in allen seinen Stufen und Etappen vom Staate gebahnt und vor¬<lb/>
geschrieben worden ist. Er rückt mit allen seinen Altersgenossen jedes Jahr<lb/>
um eine weitre Sprosse auf der allgemeinen Bildungsleiter empor, während<lb/>
früher der Unfug bestand, daß einer durch Fleiß und Begabung wohl auch schneller<lb/>
und auf ungewöhnlichem Wege zu seinem Ziele gelangen konnte. Daß wir es<lb/>
herrlich weit gebracht haben in allem Wissen, soll ja nicht geleugnet werde».<lb/>
Wir erziehen jeden zu einem Wagner, aber der Typus der Fauste wird nach¬<lb/>
gerade bei uns zu einer Unmöglichkeit werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_37" next="#ID_38"> Die ideale Menschlichkeit war es, zu der man sich in der jetzt hinter uns<lb/>
liegenden Epoche unsrer classischen Literatur zu erheben versucht hatte. Eine<lb/>
Reihe großer geistiger Thaten und Schöpfungen auf dem Gebiete der Poesie<lb/>
wie dem der Philosophie traten in jener Zeit hervor. Alle diese Genies und<lb/>
Stammväter unsrer jetzigen Bildung aber waren mit dem heutigen Maßstabe<lb/>
gemessen entsetzliche Ignoranten, und es würde schwerlich einer von ihnen<lb/>
nur das preußische Abiturientenexamen zu bestehen imstande gewesen sein. An<lb/>
die Stelle der damaligen Freiheit ist jetzt die Dressur der Geister getreten.<lb/>
Wir wissen mehr, als unsre Väter gewußt haben, aber es folgt hieraus keines¬<lb/>
wegs, daß wir selbst irgendwie klüger, innerlich gebildeter oder sonst besser und<lb/>
vollkommner geworden wären als sie. Eine müde, abgesetzte und jeder idealen<lb/>
Begeisterung unfähige Jugend &#x2014; das muß im wesentlichen als das Gesammt-<lb/>
rcsultat unsers jetzigen Erziehungssystems angesehen werden. Die Auffassung<lb/>
des menschlichen Geistes als einer Lernmaschine ist charakteristisch für den päda¬<lb/>
gogischen Standpunkt unsrer Zeit. Eine Schule gilt als um so vollkommner,<lb/>
je mehr auf ihr geleistet, d. h. gelernt und im Examen prästirt wird. Es liegt<lb/>
diesem ganzen System eine vollständig falsche Auffassung über den Werth alles<lb/>
menschlichen Wissens zu Grunde. Kein Gelehrter ist imstande, auch nur auf<lb/>
einen: ganz beschränkten Gebiete alles zu wissen und zu kennen, was dazu gehört.<lb/>
Für den sonstigen Standpunkt der allgemeinen oder auch der wissenschaftlichen<lb/>
Bildung aber hat nur dasjenige einen Werth und ein Interesse, was irgendwie<lb/>
dem Geiste selbst zur Anregung und Förderung seiner Thätigkeit zu dienen ver¬<lb/>
mag. So wie es pädagogisch falsch ist, ein Kind mit Spielsachen zu überhäufe»,<lb/>
so gilt das gleiche auch von der Masse des ihm zuzuführenden Lernstoffes. Es<lb/>
gilt hier der Satz, daß viel keineswegs immer viel hilft und daß gerade mit<lb/>
wenigen und einfachen Mitteln oft die besten Erfolge erzielt werden. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0020] Zur Bildungs- und Machtfrage des deutschen Volkes. kommt hierbei »licht in Betracht, wenn nur im Examen der wohlfeile Schein einer oberflächlich angeeigneten Gelehrsamkeit gewahrt und gerettet wird. Es ist zugleich erstaunlich, wie bei allem Vielwisser zuweilen Dinge nicht gewußt werden, welche nicht zu wissen bei einem Menschen mit gefunden Augen und Ohren kaum als möglich angesehen werden sollte. Aber dies alles ist in ein wohl eingerichtetes und klug ausgedachtes System gebracht, und es kann der junge Deutsche jetzt überhaupt gar keinen andern Bildungsweg gehen als den, der ihm in allen seinen Stufen und Etappen vom Staate gebahnt und vor¬ geschrieben worden ist. Er rückt mit allen seinen Altersgenossen jedes Jahr um eine weitre Sprosse auf der allgemeinen Bildungsleiter empor, während früher der Unfug bestand, daß einer durch Fleiß und Begabung wohl auch schneller und auf ungewöhnlichem Wege zu seinem Ziele gelangen konnte. Daß wir es herrlich weit gebracht haben in allem Wissen, soll ja nicht geleugnet werde». Wir erziehen jeden zu einem Wagner, aber der Typus der Fauste wird nach¬ gerade bei uns zu einer Unmöglichkeit werden. Die ideale Menschlichkeit war es, zu der man sich in der jetzt hinter uns liegenden Epoche unsrer classischen Literatur zu erheben versucht hatte. Eine Reihe großer geistiger Thaten und Schöpfungen auf dem Gebiete der Poesie wie dem der Philosophie traten in jener Zeit hervor. Alle diese Genies und Stammväter unsrer jetzigen Bildung aber waren mit dem heutigen Maßstabe gemessen entsetzliche Ignoranten, und es würde schwerlich einer von ihnen nur das preußische Abiturientenexamen zu bestehen imstande gewesen sein. An die Stelle der damaligen Freiheit ist jetzt die Dressur der Geister getreten. Wir wissen mehr, als unsre Väter gewußt haben, aber es folgt hieraus keines¬ wegs, daß wir selbst irgendwie klüger, innerlich gebildeter oder sonst besser und vollkommner geworden wären als sie. Eine müde, abgesetzte und jeder idealen Begeisterung unfähige Jugend — das muß im wesentlichen als das Gesammt- rcsultat unsers jetzigen Erziehungssystems angesehen werden. Die Auffassung des menschlichen Geistes als einer Lernmaschine ist charakteristisch für den päda¬ gogischen Standpunkt unsrer Zeit. Eine Schule gilt als um so vollkommner, je mehr auf ihr geleistet, d. h. gelernt und im Examen prästirt wird. Es liegt diesem ganzen System eine vollständig falsche Auffassung über den Werth alles menschlichen Wissens zu Grunde. Kein Gelehrter ist imstande, auch nur auf einen: ganz beschränkten Gebiete alles zu wissen und zu kennen, was dazu gehört. Für den sonstigen Standpunkt der allgemeinen oder auch der wissenschaftlichen Bildung aber hat nur dasjenige einen Werth und ein Interesse, was irgendwie dem Geiste selbst zur Anregung und Förderung seiner Thätigkeit zu dienen ver¬ mag. So wie es pädagogisch falsch ist, ein Kind mit Spielsachen zu überhäufe», so gilt das gleiche auch von der Masse des ihm zuzuführenden Lernstoffes. Es gilt hier der Satz, daß viel keineswegs immer viel hilft und daß gerade mit wenigen und einfachen Mitteln oft die besten Erfolge erzielt werden. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/20
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/20>, abgerufen am 25.11.2024.