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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Der Pariser Salon.

und Nebel auflösen, sind äußerst seltene Erscheinungen, Das Gros der Jüngeren
hält es in dieser Hinsicht mit dem alten Classicisten David, der, wie u. a. die
merkwürdige Vorstudie zu dem nicht zur Ausführung gekommenen "Schwur im
Ballhause" (im Louvre) beweist, die Figuren erst unbekleidet malte, um die Körper¬
form gründlich kennen zu lernen. Michelangelo und Raffacl hatten es ebenso
gemacht und waren auf diesem Wege zu einem Kanon der menschlichen Gestalt
gelangt, der zwar auf die Mannichfaltigkeit der Individualität verzichtete, dafür
aber etwas besaß, was den Neueren absolut nicht erreichbar zu sein scheint: Stil.
Auch David vermochte sich bei dem Studium und der Wiedergabe des Nackten
nicht zum Stil hindurchzuarbeiten, sondern er blieb, wie der oben erwähnte Carton
zeigt, in der Manier hängen. So geht es auch der Mehrzahl der neueren Maler,
besonders der zahlreichen Gruppe derjenigen, die sich den Cultus des nackten weib¬
lichen Körpers zur Domäne erkoren haben. Ingres' berühmte "Quelle", die
jetzt durch Vermächtnis; ins Louvremuscum gekommen, ist das Vorbild dieser
Gattung, deren Repräsentanten zahllos wie der Sand am Meere sind. Aber
was gilt das Dutzend dieser Waare, wenn der französische Kritiker Recht hat,
welcher nach den Erfahrungen des diesjährigen "Salons" die Behauptung auf¬
stellte: "Seit der.Quelle' von Ingres hat die französische Malerei keine keusche
nackte Frauengestalt mehr hervorgebracht"? Hat selbst Lefebvres "Wahrheit",
dieser gr-mal suooss des Salons von 1869, keinen Anspruch aus diesen Ehren¬
titel? Es ist nicht unsere Sache, einen solchen näher zu begründen. Genug,
daß ein Franzose selbst dieses Urtheil gefällt hat und daß der "Salon" von
1881 kein Werk der in Rede stehenden Gattung enthielt, welches seine Worte
Lügen strafte. Auch in der Darstellung des Nackten spiegelt sich ein gut Stück
Sittengeschichte ab, der allgemeine Verfall der öffentlichen Moral seit dem Beginn
des Kaiserreichs bis auf die Gegenwart, an welchem das opportunistische I^isssr
g-llöi- der heutigen Republik sein gut Theil mitgeholfen hat. Ingres' Quellnymphe
fällt noch in den Anfang des napoleonischen Regimes, aber sie ist noch aus
einem ganz andern Geiste herausgeboren, als er damals bereits zur Herrschaft
gelaugt war. Damals traten bereits Cabcmel, Bouguereau und Baudrh auf den
Plan, und damals gab bereits Courbet, der nachmalige Apostel der Commune,
seine Cynismen zum Gaudium einer frivolen Menge zum besten. Lefebvres
"Wahrheit" ist trotz ihrer moralischen Devise, trotz des leuchtenden Spiegels
in der erhobenen Linken, in gerader Linie ein Descendent jener parfümirten
und eingeseiften Göttinnen des zweiten Kaiserreichs, die nur für einen Augen¬
blick dem Maler zu Liebe Jupons und Reifrock abgelegt haben. Und in dem¬
selben zweifelhaften Lichte Präsentiren sich auch alle Nuditätcn des diesjährigen
Salons, Lefebvres "Undine" an der Spitze, deren Name und Wesen wenigstens
noch den Mangel der Bekleidung motivirt. Die meisten Maler haben längst
auf eine solche Motivirung verzichtet. Es ist Mode geworden, das Nackte um
des Nackten willen zu malen und selbst dann den nackten Körper preiszugeben,


Der Pariser Salon.

und Nebel auflösen, sind äußerst seltene Erscheinungen, Das Gros der Jüngeren
hält es in dieser Hinsicht mit dem alten Classicisten David, der, wie u. a. die
merkwürdige Vorstudie zu dem nicht zur Ausführung gekommenen „Schwur im
Ballhause" (im Louvre) beweist, die Figuren erst unbekleidet malte, um die Körper¬
form gründlich kennen zu lernen. Michelangelo und Raffacl hatten es ebenso
gemacht und waren auf diesem Wege zu einem Kanon der menschlichen Gestalt
gelangt, der zwar auf die Mannichfaltigkeit der Individualität verzichtete, dafür
aber etwas besaß, was den Neueren absolut nicht erreichbar zu sein scheint: Stil.
Auch David vermochte sich bei dem Studium und der Wiedergabe des Nackten
nicht zum Stil hindurchzuarbeiten, sondern er blieb, wie der oben erwähnte Carton
zeigt, in der Manier hängen. So geht es auch der Mehrzahl der neueren Maler,
besonders der zahlreichen Gruppe derjenigen, die sich den Cultus des nackten weib¬
lichen Körpers zur Domäne erkoren haben. Ingres' berühmte „Quelle", die
jetzt durch Vermächtnis; ins Louvremuscum gekommen, ist das Vorbild dieser
Gattung, deren Repräsentanten zahllos wie der Sand am Meere sind. Aber
was gilt das Dutzend dieser Waare, wenn der französische Kritiker Recht hat,
welcher nach den Erfahrungen des diesjährigen „Salons" die Behauptung auf¬
stellte: „Seit der.Quelle' von Ingres hat die französische Malerei keine keusche
nackte Frauengestalt mehr hervorgebracht"? Hat selbst Lefebvres „Wahrheit",
dieser gr-mal suooss des Salons von 1869, keinen Anspruch aus diesen Ehren¬
titel? Es ist nicht unsere Sache, einen solchen näher zu begründen. Genug,
daß ein Franzose selbst dieses Urtheil gefällt hat und daß der „Salon" von
1881 kein Werk der in Rede stehenden Gattung enthielt, welches seine Worte
Lügen strafte. Auch in der Darstellung des Nackten spiegelt sich ein gut Stück
Sittengeschichte ab, der allgemeine Verfall der öffentlichen Moral seit dem Beginn
des Kaiserreichs bis auf die Gegenwart, an welchem das opportunistische I^isssr
g-llöi- der heutigen Republik sein gut Theil mitgeholfen hat. Ingres' Quellnymphe
fällt noch in den Anfang des napoleonischen Regimes, aber sie ist noch aus
einem ganz andern Geiste herausgeboren, als er damals bereits zur Herrschaft
gelaugt war. Damals traten bereits Cabcmel, Bouguereau und Baudrh auf den
Plan, und damals gab bereits Courbet, der nachmalige Apostel der Commune,
seine Cynismen zum Gaudium einer frivolen Menge zum besten. Lefebvres
„Wahrheit" ist trotz ihrer moralischen Devise, trotz des leuchtenden Spiegels
in der erhobenen Linken, in gerader Linie ein Descendent jener parfümirten
und eingeseiften Göttinnen des zweiten Kaiserreichs, die nur für einen Augen¬
blick dem Maler zu Liebe Jupons und Reifrock abgelegt haben. Und in dem¬
selben zweifelhaften Lichte Präsentiren sich auch alle Nuditätcn des diesjährigen
Salons, Lefebvres „Undine" an der Spitze, deren Name und Wesen wenigstens
noch den Mangel der Bekleidung motivirt. Die meisten Maler haben längst
auf eine solche Motivirung verzichtet. Es ist Mode geworden, das Nackte um
des Nackten willen zu malen und selbst dann den nackten Körper preiszugeben,


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[0174] Der Pariser Salon. und Nebel auflösen, sind äußerst seltene Erscheinungen, Das Gros der Jüngeren hält es in dieser Hinsicht mit dem alten Classicisten David, der, wie u. a. die merkwürdige Vorstudie zu dem nicht zur Ausführung gekommenen „Schwur im Ballhause" (im Louvre) beweist, die Figuren erst unbekleidet malte, um die Körper¬ form gründlich kennen zu lernen. Michelangelo und Raffacl hatten es ebenso gemacht und waren auf diesem Wege zu einem Kanon der menschlichen Gestalt gelangt, der zwar auf die Mannichfaltigkeit der Individualität verzichtete, dafür aber etwas besaß, was den Neueren absolut nicht erreichbar zu sein scheint: Stil. Auch David vermochte sich bei dem Studium und der Wiedergabe des Nackten nicht zum Stil hindurchzuarbeiten, sondern er blieb, wie der oben erwähnte Carton zeigt, in der Manier hängen. So geht es auch der Mehrzahl der neueren Maler, besonders der zahlreichen Gruppe derjenigen, die sich den Cultus des nackten weib¬ lichen Körpers zur Domäne erkoren haben. Ingres' berühmte „Quelle", die jetzt durch Vermächtnis; ins Louvremuscum gekommen, ist das Vorbild dieser Gattung, deren Repräsentanten zahllos wie der Sand am Meere sind. Aber was gilt das Dutzend dieser Waare, wenn der französische Kritiker Recht hat, welcher nach den Erfahrungen des diesjährigen „Salons" die Behauptung auf¬ stellte: „Seit der.Quelle' von Ingres hat die französische Malerei keine keusche nackte Frauengestalt mehr hervorgebracht"? Hat selbst Lefebvres „Wahrheit", dieser gr-mal suooss des Salons von 1869, keinen Anspruch aus diesen Ehren¬ titel? Es ist nicht unsere Sache, einen solchen näher zu begründen. Genug, daß ein Franzose selbst dieses Urtheil gefällt hat und daß der „Salon" von 1881 kein Werk der in Rede stehenden Gattung enthielt, welches seine Worte Lügen strafte. Auch in der Darstellung des Nackten spiegelt sich ein gut Stück Sittengeschichte ab, der allgemeine Verfall der öffentlichen Moral seit dem Beginn des Kaiserreichs bis auf die Gegenwart, an welchem das opportunistische I^isssr g-llöi- der heutigen Republik sein gut Theil mitgeholfen hat. Ingres' Quellnymphe fällt noch in den Anfang des napoleonischen Regimes, aber sie ist noch aus einem ganz andern Geiste herausgeboren, als er damals bereits zur Herrschaft gelaugt war. Damals traten bereits Cabcmel, Bouguereau und Baudrh auf den Plan, und damals gab bereits Courbet, der nachmalige Apostel der Commune, seine Cynismen zum Gaudium einer frivolen Menge zum besten. Lefebvres „Wahrheit" ist trotz ihrer moralischen Devise, trotz des leuchtenden Spiegels in der erhobenen Linken, in gerader Linie ein Descendent jener parfümirten und eingeseiften Göttinnen des zweiten Kaiserreichs, die nur für einen Augen¬ blick dem Maler zu Liebe Jupons und Reifrock abgelegt haben. Und in dem¬ selben zweifelhaften Lichte Präsentiren sich auch alle Nuditätcn des diesjährigen Salons, Lefebvres „Undine" an der Spitze, deren Name und Wesen wenigstens noch den Mangel der Bekleidung motivirt. Die meisten Maler haben längst auf eine solche Motivirung verzichtet. Es ist Mode geworden, das Nackte um des Nackten willen zu malen und selbst dann den nackten Körper preiszugeben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/174>, abgerufen am 01.09.2024.