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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Sommonnm'cheii,

beginnt er eine echte kleine Novelle zu erzählen, die durchaus keine märchenhafte
Wendung in Aussicht zu stellen scheint. Nach einiger Zeit setzt dann an irgend
einem Punkte das Märchen ein, in einzelnen Erzählungen wie in der "Otter¬
königin" und im "Stillen Dorfe" schon nach wenigen Seiten, in andern wie
in "Schleierweiß" oder im "Wasser des Vergessens" ziemlich spät, nachdem man
sich in die Novelle schon ganz hineingelesen hat.

Begünstigt wird diese Verbindung von Novelle und Märchen durch die große
Simplicität, in der in der Regel bereits die rein novellistische Partie gehalten
ist. Die meisten Geschichten entrücken uns gleich von vornherein der Gegenwart;
es ist die Luft des Mittelalters, allenfalls des sechzehnten Jahrhunderts, die
uns daraus entgegenweht. Die Figuren, die in den Geschichten auftreten, be¬
schränken sich auf ganz bestimmte Typen; Graf und Gräfin, Pfarrer und Magister,
Falkner und Jäger, Fischer und Hirt, Köhler und Schmied, Vogelsteller und
Wilderer, Wirth und Wirthin, wandernde Handwerksgesellen und fahrende Spiel¬
leute, verliebte Dirnen und arglose Kinder -- das ist das Personal, das auf
Vaumbachs Märchenbühne agirt. Wie unter solche Gestalten sich ungezwungen
die echte Märchensippschaft mischt, als da sind: Hexen, Nixen und kluge Wald¬
frauen, redende Thiere und redende Bäume, zur Noth auch eine ganz plebejische
Allegorie wie der Griesgram im "Ranunculus", der mit freigebiger Hand Brillen
mit grauen Gläsern an die Leute verschenkt, so erleichtert der cngbegrenzte An¬
schauungskreis der realistischen Gestalten, ihr Leben in und mit der Natur und
ihr Glaube an allerhaud Spuk und an die Wirkung geheimnißvoller Mächte
den Uebergang in Ton und Stimmung des Märchens.

Freilich ist trotz alledem ein solcher Uebergang kein leichtes Stück. Soll
er als gelungen gelten, so darf man die Naht nicht merken, man muß schon
eine Weile mitten im Märchen drinn sein, ehe es einem auffallen darf, daß ja
die realistischen Voraussetzungen inzwischen phantastischen Platz gemacht haben.
Und selbst wenn man zurücklenkt, um die Grenze zu suchen, muß es einen Mühe
kosten, sie zu finden. Vortrefflich gelungen ist in dieser Beziehung der Eintritt
i" das Märchen im "Stillen Dorfe." Die Geschichte beginnt wie eine gut er¬
zählte culturgeschichtliche Novelle, und zwar eine von der feineren Art, in der
kein kunstgewerblicher Plunder sich aufdringlich breit macht. An einem Sommer¬
sonntag schreitet auf staubiger Landstraße ein zünftiger Steinmetz rüstig seines
Wegs. Sein Reiseziel ist die nächste Stadt, wo er Arbeit beim Ausbau einer
Kirche finden soll. Im Gurt trägt er einen reichlichen Sparpfennig, im Fell¬
eisen gesiegelte Schriften, die seine Kunstfertigkeit rühmen, und einen gewichtigen
Empfehlungsbrief an den Meister, der den Bau des Gotteshauses leitet. Glühend
hängt die Sonne am wolkenlosen Himmel und gießt ihr blendendes Licht auf
ein weites Meer von reifenden Weizen. Kein Vogel läßt seine Stimme hören,
nur die Grillen summen unermüdlich ihre eintönigen Weisen. Das Felleisen lastet
schwer auf den Schultern des Wandrers, und die Korbflasche, die er an der


Sommonnm'cheii,

beginnt er eine echte kleine Novelle zu erzählen, die durchaus keine märchenhafte
Wendung in Aussicht zu stellen scheint. Nach einiger Zeit setzt dann an irgend
einem Punkte das Märchen ein, in einzelnen Erzählungen wie in der „Otter¬
königin" und im „Stillen Dorfe" schon nach wenigen Seiten, in andern wie
in „Schleierweiß" oder im „Wasser des Vergessens" ziemlich spät, nachdem man
sich in die Novelle schon ganz hineingelesen hat.

Begünstigt wird diese Verbindung von Novelle und Märchen durch die große
Simplicität, in der in der Regel bereits die rein novellistische Partie gehalten
ist. Die meisten Geschichten entrücken uns gleich von vornherein der Gegenwart;
es ist die Luft des Mittelalters, allenfalls des sechzehnten Jahrhunderts, die
uns daraus entgegenweht. Die Figuren, die in den Geschichten auftreten, be¬
schränken sich auf ganz bestimmte Typen; Graf und Gräfin, Pfarrer und Magister,
Falkner und Jäger, Fischer und Hirt, Köhler und Schmied, Vogelsteller und
Wilderer, Wirth und Wirthin, wandernde Handwerksgesellen und fahrende Spiel¬
leute, verliebte Dirnen und arglose Kinder — das ist das Personal, das auf
Vaumbachs Märchenbühne agirt. Wie unter solche Gestalten sich ungezwungen
die echte Märchensippschaft mischt, als da sind: Hexen, Nixen und kluge Wald¬
frauen, redende Thiere und redende Bäume, zur Noth auch eine ganz plebejische
Allegorie wie der Griesgram im „Ranunculus", der mit freigebiger Hand Brillen
mit grauen Gläsern an die Leute verschenkt, so erleichtert der cngbegrenzte An¬
schauungskreis der realistischen Gestalten, ihr Leben in und mit der Natur und
ihr Glaube an allerhaud Spuk und an die Wirkung geheimnißvoller Mächte
den Uebergang in Ton und Stimmung des Märchens.

Freilich ist trotz alledem ein solcher Uebergang kein leichtes Stück. Soll
er als gelungen gelten, so darf man die Naht nicht merken, man muß schon
eine Weile mitten im Märchen drinn sein, ehe es einem auffallen darf, daß ja
die realistischen Voraussetzungen inzwischen phantastischen Platz gemacht haben.
Und selbst wenn man zurücklenkt, um die Grenze zu suchen, muß es einen Mühe
kosten, sie zu finden. Vortrefflich gelungen ist in dieser Beziehung der Eintritt
i« das Märchen im „Stillen Dorfe." Die Geschichte beginnt wie eine gut er¬
zählte culturgeschichtliche Novelle, und zwar eine von der feineren Art, in der
kein kunstgewerblicher Plunder sich aufdringlich breit macht. An einem Sommer¬
sonntag schreitet auf staubiger Landstraße ein zünftiger Steinmetz rüstig seines
Wegs. Sein Reiseziel ist die nächste Stadt, wo er Arbeit beim Ausbau einer
Kirche finden soll. Im Gurt trägt er einen reichlichen Sparpfennig, im Fell¬
eisen gesiegelte Schriften, die seine Kunstfertigkeit rühmen, und einen gewichtigen
Empfehlungsbrief an den Meister, der den Bau des Gotteshauses leitet. Glühend
hängt die Sonne am wolkenlosen Himmel und gießt ihr blendendes Licht auf
ein weites Meer von reifenden Weizen. Kein Vogel läßt seine Stimme hören,
nur die Grillen summen unermüdlich ihre eintönigen Weisen. Das Felleisen lastet
schwer auf den Schultern des Wandrers, und die Korbflasche, die er an der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/125>, abgerufen am 01.09.2024.