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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Briefe.

in unanfechtbarer Geltung stehen, und wenn dem thatsächlichen Zustand gemäß
eine neue Theorie entstanden ist, kann die ältere Theorie für beseitigt gelten.
So weit ist es mit der Manchcstertheorie noch lange nicht. Daher sind auch
nicht die einzelnen unbedingten und begabten Apostel dieser Lehre als die ge¬
fährlichsten Gegner der Versuche zu neuen Einrichtungen zu betrachten, sondern
das aus der noch tief im Blute der meiste" sitzenden Manchestertheorie hervor¬
gehende Grauen vor allem, was als Socialismus angesehen werden kann.

Merkwürdig oder auch nicht, daß diese seit fünfzig Jahren uns scheinbar
so geläufige Vorstellung einer wissenschaftlichen und vollends einer anerkannten
Definition noch durchaus ermangelt. Die verbreitetste Vorstellung vom Socia¬
lismus ist wohl die, daß die Aufhebung des individuellen Eigenthums seiue ent¬
scheidende Eigenschaft sei. Wo nun das individuelle Eigenthum nicht nur an¬
erkannt, sondern geschützt und entwickelt werden soll, da konnte auch nicht von
Socialismus die Rede sein. Wenn andrerseits jede Beschränkung dieses Eigen¬
thums durch öffentliche Pflichten, durch Regeln, an welche die Herrschaft und
Disposition über dasselbe gebunden wird, schon Socialismus sein soll, dann sind
die Anfänge des Socialismus in allen Rechtsbildungen zu suchen, dann ist vor
allem der Staat selbst eine durch und durch socialistische Institution. Dies ist
auch richtig, und weil es richtig ist, sollte man weder vor dem Wort noch vor
dem Begriff erschrecken, sondern lediglich der Kritik des falschen Socialismus
sich zuwenden.

Denn das wollen wir nicht leugnen: es geht hier wieder wie immer in
menschlichen Dingen: erst schüttete die Manchestertheorie das Kind mit dem
Bade aus, den berechtigten, unentbehrlichen Socialismus mit dem falschen. Bei
dem jetzigen Sturm gegen die Einseitigkeit der Mauchestertheorie tauchen auch
alle feinern und gröbern Irrthümer des falschen Socialismus bereits unbefangen
wieder auf. Hier ist die größte Besonnenheit, vor allem den Staatslenkern,
geboten.

In dem Gesetzentwürfe über die Unfallversicherung der Arbeiter vermögen
wir aber keinen falschen Socialismus zu entdecken. Nicht in der Reichsver¬
sicherungsanstalt: denn daß alle öffentlichen Institute theurer und schlechter ar¬
beiten als Privatunternehmungen, ist ein von der Manchesterschule künstlich er¬
zeugtes Dogma, das gegen die offenkundigsten Erfahrungen sich versündigt. Nicht
in dem Dritttheil der Versicherungsprämie, welche für die Arbeiter der niedrigsten
Lohnstnfen von dem Reich gezahlt werden soll: denn das Reich tritt hier nur
sür die Einzelstaaten, der Einzelstaat tritt nur für seine Armeuverbände ein.
Dieser Staatszuschuß ist der erste, gleich sehr durch die nationale Pflicht wie
dnrch die Christel?pfundt gebotene Schritt von einer ehrenrühriger und inhumanen


Politische Briefe.

in unanfechtbarer Geltung stehen, und wenn dem thatsächlichen Zustand gemäß
eine neue Theorie entstanden ist, kann die ältere Theorie für beseitigt gelten.
So weit ist es mit der Manchcstertheorie noch lange nicht. Daher sind auch
nicht die einzelnen unbedingten und begabten Apostel dieser Lehre als die ge¬
fährlichsten Gegner der Versuche zu neuen Einrichtungen zu betrachten, sondern
das aus der noch tief im Blute der meiste» sitzenden Manchestertheorie hervor¬
gehende Grauen vor allem, was als Socialismus angesehen werden kann.

Merkwürdig oder auch nicht, daß diese seit fünfzig Jahren uns scheinbar
so geläufige Vorstellung einer wissenschaftlichen und vollends einer anerkannten
Definition noch durchaus ermangelt. Die verbreitetste Vorstellung vom Socia¬
lismus ist wohl die, daß die Aufhebung des individuellen Eigenthums seiue ent¬
scheidende Eigenschaft sei. Wo nun das individuelle Eigenthum nicht nur an¬
erkannt, sondern geschützt und entwickelt werden soll, da konnte auch nicht von
Socialismus die Rede sein. Wenn andrerseits jede Beschränkung dieses Eigen¬
thums durch öffentliche Pflichten, durch Regeln, an welche die Herrschaft und
Disposition über dasselbe gebunden wird, schon Socialismus sein soll, dann sind
die Anfänge des Socialismus in allen Rechtsbildungen zu suchen, dann ist vor
allem der Staat selbst eine durch und durch socialistische Institution. Dies ist
auch richtig, und weil es richtig ist, sollte man weder vor dem Wort noch vor
dem Begriff erschrecken, sondern lediglich der Kritik des falschen Socialismus
sich zuwenden.

Denn das wollen wir nicht leugnen: es geht hier wieder wie immer in
menschlichen Dingen: erst schüttete die Manchestertheorie das Kind mit dem
Bade aus, den berechtigten, unentbehrlichen Socialismus mit dem falschen. Bei
dem jetzigen Sturm gegen die Einseitigkeit der Mauchestertheorie tauchen auch
alle feinern und gröbern Irrthümer des falschen Socialismus bereits unbefangen
wieder auf. Hier ist die größte Besonnenheit, vor allem den Staatslenkern,
geboten.

In dem Gesetzentwürfe über die Unfallversicherung der Arbeiter vermögen
wir aber keinen falschen Socialismus zu entdecken. Nicht in der Reichsver¬
sicherungsanstalt: denn daß alle öffentlichen Institute theurer und schlechter ar¬
beiten als Privatunternehmungen, ist ein von der Manchesterschule künstlich er¬
zeugtes Dogma, das gegen die offenkundigsten Erfahrungen sich versündigt. Nicht
in dem Dritttheil der Versicherungsprämie, welche für die Arbeiter der niedrigsten
Lohnstnfen von dem Reich gezahlt werden soll: denn das Reich tritt hier nur
sür die Einzelstaaten, der Einzelstaat tritt nur für seine Armeuverbände ein.
Dieser Staatszuschuß ist der erste, gleich sehr durch die nationale Pflicht wie
dnrch die Christel?pfundt gebotene Schritt von einer ehrenrühriger und inhumanen


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[0096] Politische Briefe. in unanfechtbarer Geltung stehen, und wenn dem thatsächlichen Zustand gemäß eine neue Theorie entstanden ist, kann die ältere Theorie für beseitigt gelten. So weit ist es mit der Manchcstertheorie noch lange nicht. Daher sind auch nicht die einzelnen unbedingten und begabten Apostel dieser Lehre als die ge¬ fährlichsten Gegner der Versuche zu neuen Einrichtungen zu betrachten, sondern das aus der noch tief im Blute der meiste» sitzenden Manchestertheorie hervor¬ gehende Grauen vor allem, was als Socialismus angesehen werden kann. Merkwürdig oder auch nicht, daß diese seit fünfzig Jahren uns scheinbar so geläufige Vorstellung einer wissenschaftlichen und vollends einer anerkannten Definition noch durchaus ermangelt. Die verbreitetste Vorstellung vom Socia¬ lismus ist wohl die, daß die Aufhebung des individuellen Eigenthums seiue ent¬ scheidende Eigenschaft sei. Wo nun das individuelle Eigenthum nicht nur an¬ erkannt, sondern geschützt und entwickelt werden soll, da konnte auch nicht von Socialismus die Rede sein. Wenn andrerseits jede Beschränkung dieses Eigen¬ thums durch öffentliche Pflichten, durch Regeln, an welche die Herrschaft und Disposition über dasselbe gebunden wird, schon Socialismus sein soll, dann sind die Anfänge des Socialismus in allen Rechtsbildungen zu suchen, dann ist vor allem der Staat selbst eine durch und durch socialistische Institution. Dies ist auch richtig, und weil es richtig ist, sollte man weder vor dem Wort noch vor dem Begriff erschrecken, sondern lediglich der Kritik des falschen Socialismus sich zuwenden. Denn das wollen wir nicht leugnen: es geht hier wieder wie immer in menschlichen Dingen: erst schüttete die Manchestertheorie das Kind mit dem Bade aus, den berechtigten, unentbehrlichen Socialismus mit dem falschen. Bei dem jetzigen Sturm gegen die Einseitigkeit der Mauchestertheorie tauchen auch alle feinern und gröbern Irrthümer des falschen Socialismus bereits unbefangen wieder auf. Hier ist die größte Besonnenheit, vor allem den Staatslenkern, geboten. In dem Gesetzentwürfe über die Unfallversicherung der Arbeiter vermögen wir aber keinen falschen Socialismus zu entdecken. Nicht in der Reichsver¬ sicherungsanstalt: denn daß alle öffentlichen Institute theurer und schlechter ar¬ beiten als Privatunternehmungen, ist ein von der Manchesterschule künstlich er¬ zeugtes Dogma, das gegen die offenkundigsten Erfahrungen sich versündigt. Nicht in dem Dritttheil der Versicherungsprämie, welche für die Arbeiter der niedrigsten Lohnstnfen von dem Reich gezahlt werden soll: denn das Reich tritt hier nur sür die Einzelstaaten, der Einzelstaat tritt nur für seine Armeuverbände ein. Dieser Staatszuschuß ist der erste, gleich sehr durch die nationale Pflicht wie dnrch die Christel?pfundt gebotene Schritt von einer ehrenrühriger und inhumanen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/96>, abgerufen am 23.07.2024.